Der antichristliche Geist der Eigenliebe
Das Dasein Gottes als Seinsgrund ist jedem Vernunft begabten Geist „seit Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft an seinen Werken zu erkennen“ (Röm. 1, 20), so daß keiner berechtigt ist, diese Grundwahrheit zu verneinen oder an ihr zu zweifeln. Und je stärker die Vernunft eines geschaffenen Wesens ist, um so geringer ist die Gefahr des Atheismus. Im Reich der reinen Geister gibt es überhaupt keine atheistische Einstellung. Selbst die Teufel „glauben und zittern“ (Jak. 2, 19).
Doch das eine ist, Gott als Existierenden durch das Licht der Vernunft ins einen Werken zu finden, und das andere, ihn als Person durch das Licht des Herzens anzuerkennen, mit ihm in eine Beziehung zu treten, ihn zu lieben und zu verehren…
Mangel an Liebe zu Gott ist charakteristisches Kennzeichen des teuflischen Wesens
Der Mangel an Liebe zum Schöpfer und zur Schöpfung ist das charakteristischste Kennzeichen des teuflischen Wesens. Der Teufel ist derjenige, der nicht liebt. Dadurch aber, daß er nicht liebt, unterscheidet er sich wesentlich von Gott und wird zu seinem radikalen Verneiner. Der hl. Johannes wird nicht müde, sowohl in seinem Evangelium als auch in seinen Briefen zu wiederholen, daß Gott die Liebe ist, daß die Gottähnlichkeit und der Gottesbesitz nur aus der Liebe entstehen. „Wer nicht liebt, kennt Gott nicht, denn Gott ist die Liebe“ (1. Joh. 4, 8). Und im Gegenteil: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm“ (4, 16). Die Liebe zu verlieren bedeutet also, Gott zu verlieren. Ein Geschöpf, das nicht liebt, fällt von selbst von der Teilnahme am Göttlichen ab. Mag es an Gott glauben und vor seiner Allmacht zittern, hat es aber keine Liebe, so hat es auch keine Existenzbeziehung zu Gott. Es erlebt ihn nur als den Seinsgrund, dem es seine Entstehung und Erhaltung verdankt, der ihm jedoch keine Person mehr ist, denn eine Person offenbart sich der anderen nur in der Liebe, und die gegenseitigen personalen Beziehungen werden ebenso wohl nur von der Liebe getragen und aufrecht erhalten. Liebt also der Teufel nicht, so hat er keine personale Beziehung zu Gott, d. h. er hat keine Religion. Gott existiert ihm nur insofern, wie für eine Wirkung ihre Ursache existiert. Doch er bezieht sich nicht zu ihm als zur Person: er schenkt sich ihm nicht, er fragt ihn nicht, er ruft ihn nicht an.
Der Grund dieser radikalen Nichtliebe des Teufels liegt in dessen gleicherweise radikalen Eigenliebe. Der Teufel liebt deshalb nicht, weil er nur sich selbst liebt. Liebe und Eigenliebe schließen einander aus. Die Liebe ist ja ein Überschreiten des eigenen Ich. Wer liebt, stellt sich neben sich selbst, erhebt sich über sich selbst, gibt sein eigenes Leben für die anderen hin. Die Liebe ist wesentlich eine Kraft zum Sein hin. Sie ist ein Ruf nach Erwiderung. Denn sind wir nach dem Bild Gottes geschaffen, so neigen wir uns von Natur aus zu unserem Schöpfer. Wir suchen in ihm unsere Vollendung, deren Wesen in der völligen und endgültigen Seinsvereinigung mit ihm besteht. Wir sind also in unserer Wesensstruktur selbst bestimmt, nicht in uns selbst zu verbleiben, sondern uns zu überschreiten und in dem anderen zu existieren. Wir verwirklichen uns erst dann, wenn wir uns im Mitsein befinden.
Die Eigenliebe zerstört das Bild Gottes in uns
Jedoch wir können uns den Fall vorstellen, daß eine freie Kreatur sich aus ihrem eigenen Willen von dem anderen abwendet und ihren Geistesblick nur auf sich selbst richtet. Jener Kraft, von der sie früher zum Sein hingetragen wurde, gibt sie jetzt eine entgegen gesetzte Richtung, und zwar die nach ihrem eigenen Ich. Die Liebe verwandelt sich in die Eigenliebe. Was geschieht in diesem Fall? Nichts weniger als die radikale Abkehr vom Sein. Ein nur sich selbst liebendes Wesen ruft nicht nach dem andern und erwartet von ihm auch keine Erwiderung. Sein Dasein verliert die Offenheit und schließt sich zu, weil es kein Mitsein mehr ist. Da aber unsere Gottähnlichkeit uns über uns selbst hinaus weist, wirkt die Eigenliebe der Grundtendenz unserer Natur entgegen und zerstört sie bis zu ihrer letzten Tiefe: die Eigenliebe zerstört das Bild Gottes in uns. Indem wir uns allein lieben, existieren wir nicht mehr gemäß unserem göttlichen Urbild. Dadurch aber verneinen wir Gott am entschiedensten. Ist der Mensch einmal ein wirklicher und tiefer Gottloser, so nur im Akt der Selbstliebe, denn hier verwirft er Gott nicht dadurch seinen Verstand, nicht durch eine rationelle Theorie, sondern durch die wesentliche Richtung seins Daseins selbst. Die Eigenliebe ist der integrale existentielle Atheismus.
Die Eigenliebe Satans vereitelte seine Bestimmung
Beim Menschen ist derartiger Atheismus eine stets drohende Möglichkeit, beim Teufel ist er zur Wirklichkeit geworden. Dadurch, daß Luzifer seinen Thron über die Sterne erheben und dem Höchsten ähnlich werden wollte, behauptete er seine Unabhängigkeit im Dasein, verneinte die Liebe als die Kraft zum Sein und trennte sich von Gott und von der Schöpfung ab. Die Eigenliebe vereitelte seine Bestimmung zum Mitsein und machte ihn zum einsamsten Wesen unter allen Gottesgeschöpfen. Das Dasein selbst ist zum Gefängnis des Teufels geworden. Seine Existenz ist nicht mehr ein Dialog, sondern ein ununterbrochener Monolog, eine Rede nur zu sich selbst. Kein Ruf nach dem Sein erklingt aus teuflischem Dasein. Der Teufel weiß vom Dasein Gottes viel mehr als eine andere Kreatur, doch durch die Richtung seiner Existenz lehnt er Gott so schroff ab, wie es kein anderer Atheist tun könnte. Der Teufel ist ein integraler Atheist, weil er ein integraler Egoist ist.
Der Antichrist beugt sich vor der Macht des Bösen
… An das Gute zu glauben bedeutet ja nichts anderes, als die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie in sich selbst ist, denn sie ist im Wesen doch gut: „Heilbringend sind der Welt Geschöpfe, und ein verderblich Gift ist nicht in ihnen“ (Weish. 1, 14). Sich aber vor der Macht des Guten beugen heißt gut werden, und gut werden heißt ja sich den andern opfern, denn das Gute erweitert sich und geht aus sich hinaus – „diffusivum sui“ (St. Thomas). Das Gute in der Person ist die Liebe. Sich dem Guten beugen heißt letztlich lieben. Das kann nur der Mensch, der dem Sein zugewandt ist, nicht aber der Antichrist, der sich allein liebt und daher dem Sein abgewandt bleibt. Der Antichrist beugt sich vor der Macht des Bösen nicht deshalb, weil er schwach wäre, sondern weil sein von der Eigenliebe getragenes und gelenktes Dasein sich unter der Macht des Bösen vollendet. Das Böse leistet ihm für die totale Abkehr vom Sein Gewähr und hilft ihm dadurch, sich in seinem Selbst endgültig einzunisten. Daher wird jeder nur sich selbst liebende Geist unausweichlich zum Mitarbeiter des Teufels in der Geschichte. Er führt, selbst ohne es zu wissen, dessen Absichten aus. Die Eigenliebe ist der eigentliche Weg des Teufels ins menschliche Dasein.
Der Kampf gegen die Eigenliebe ist geschichtstheologische Aufgabe des Menschen
Infolgedessen ist der Kampf gegen die Eigenliebe nicht nur eine asketische Forderung, sondern zugleich eine geschichtstheologische Aufgabe des Menschen. Es ist der Kampf gegen den Antichrist in uns selbst. Anderseits ist dieser Kampf gleichzeitig die Verteidigung unserer Daseinsrichtung auf Gott hin, die sich konkret durch die Liebe ausdrückt und uns Gott ähnlich macht. Es versteht sich deshalb von selbst, warum die Selbstverleugnung das Erste war, das Christus der Menschheit verkündigte. Die Grundidee der Ethik Jesu besteht gerade in der Lehre, unseren Geistesblick auf den andern – auf Gott und den Nächsten – zu richten. Uns selbst sollen wir vergessen, verbergen, im Liebesdienst für den anderen aufgehen lassen, denn nur damit können wir unser Leben im höheren Sinn wieder gewinnen. Die Eigenliebe ist die größte Versuchung und somit die größte Gefahr für die menschliche Existenz. Gerade deshalb lenkt Christus unsere Aufmerksamkeit auf ihre konkreten Erscheinungen und schärft unsern Blick, damit wir diese tief erfassen und richtig bewerten können, denn die Eigenliebe ist der Liebe ähnlich, wie das Tier dem Lamm ähnlich ist (vgl. Offb. 13, 11). Sie versteckt sich unter der Gerechtigkeit, den Liebeswerken, dem Fasten, sogar unter dem Gebet. Sie will sich durch die Notwendigkeit des Lebens und Wirkens, des Erziehens und Pflegens, des Ordnens und Waltens rechtfertigen…
Ausdruck der Selbstverleugnung ist das Liebeswerk
In der Bergpredigt wollte uns Christus gerade diese Illusionen und Trugbilder der Eigenliebe bloß legen. Der Selbstliebe stellte Christus die Selbstverleugnung entgegen als die einzige Förderung des Göttlichen in uns und als das Grundmittel im Kampf gegen die antichristlichen Anmaßungen. Die Selbstverleugnung ist eine religiöse Kraft ihrem Wesen nach. Sie ist die Wiederherstellung der Gottähnlichkeit im Menschen. Daher leistet nur der sich selbst verleugnende Mensch erfolgreichen Widerstand gegen die antichristlichen Mächte in der Geschichte, weil er den Weg des göttlichen Logos geht, der Knechtsgestalt annahm und sich selbst erniedrigte (vgl. Phil. 2, 7-8).
Der konkrete Ausdruck der Selbstverleugnung ist das Liebeswerk. Besteht die Liebe, wie gesagt, in der Kraft zum Sein hin, so neigt sich der liebende Mensch von selbst zum andern, sorgt sich um ihn und hilft ihm. Die Selbstverleugnung erscheint im Alltag als die christliche Caritas. Diese ist aber viel mehr als nur eine äußerliche Tat, als nur eine sichtbare Hilfe für den Bedürftigen. Die christliche Caritas ist gleichzeitig auch ein tiefes Erleben des Nächsten als eines Tätigkeitsfeldes, auf dem sich unser Dasein selbst erfüllt.
Die Eigenliebe ist Grundmotiv der antichristlichen Wohltätigkeit
Eine äußere Hilfe kann man leisten nicht nur aus Liebe, sondern ebenso gut auch aus Eigenliebe… Die Befriedigung der Eigenliebe ist das Grundmotiv der antichristlichen Wohltätigkeit. Der Antichrist fühlt, daß er sich durch seine ‚Liebeswerke‘ über die Menschen erheben und sie beherrschen kann. Infolgedessen überwindet derartige Wohltätigkeit die Eigenliebe nicht. Im Gegenteil, sie verstärkt diese sogar, denn sie macht den Nächsten zum Sklaven des Wohltäters. Erst dann , wenn unser Nächster als ein über uns Stehender als unsere eigene Berufung, als Träger desselben göttlichen Urbildes erlebt wird, kann unsere äußere Hilfe als wahre christliche Caritas bezeichnet werden. Die christliche Caritas ist der Dienst am Nächsten, die antichristliche Wohltätigkeit ist die Herrschaft über den Nächsten. Deshalb ist es eine der geschichtlichen Aufgaben des Christen, den Antichrist als Wohltäter zu entlarven und den Sinn seiner ‚Liebeswerke“ bloß zu legen.
Wer nicht liebt, bleibt im Tod
In der Trennung des Menschen vom Schöpfer und von der Schöpfung zeigt sich die Eigenliebe nur von einer Seite: vom Subjekt her, das sich vom Sein abwendet und sich in sich selbst verschließt. Die weitere Entwicklung dieses seltsamen Gefühls offenbart es us jedoch auch vom Objekt her. Die Eigenliebe erschöpft sich in der einfachen Abkehr vom Sein durchaus nicht. Sie wendet sich diesem leidenschaftlich wieder zu, nicht aber um es zu hüten und zu vervollkommnen, sondern um es zu verderben und zu vernichten. Die Liebe zu seinem eigenen Ich ist nur die Kehrseite des Hasses zum Sein. Der hl. Johannes schreibt in seinem ersten Brief: „Wer nicht liebt, bleibt im Tod“ (1. Joh. 3,15). Damit will er sagen, daß Nichtliebe und Tod wesentlich miteinander zusammen hängen. Wendet sich der Mensch vom Sein ab, so verneint er allerdings die Liebe, aber nur psychologisch. Ontologisch sie zu vernichten, vermag er nicht, denn die Liebe als göttliche Bestimmung des Menschen zum Mitsein liegt seinem Wesen selbst zugrunde. Sie bleibt in seiner Tiefe sogar während seiner üppigsten Eigenliebe bestehen und zeigt sich durch die Stimme des Gewissens als eine beständig lebendigeKraft, die den Menschen zur Wiederherstellung des verneinten Mitseins zwingt. Jeder nur sich selbst liebende Mensch lebt also in einer großen Spannung zwischen dem eigenen Ich und dem objektiven Sein. Ein jedes Zusammentreffen mit Personen und Sachen erinnert ihn an die verlorene Richtung seines Daseins und läßt ihn nie sich in seinem negativen Verhalten ruhig einrichten.
Die Eigenliebe führt zu Hass und zur Vernichtung des Lebens
Aus dieser Spannung und Unruhe entsteht dann ein tiefer Hass gegen alles, was das menschliche Ich in seinem freiwilligen Gefängnis aufwiegelt. Der nur sich selbst liebende Mensch beginnt, das Sein nicht mehr zu ertragen, und wünscht, wie Goethes Mephistopheles, daß alles zugrunde geht. Dann wird er von niemand und keinem zum Sein zurück gerufen, dann kann er nur für sich selbst sorgen und nur für sich selbst existieren. Die Vernichtung ist folgerichtige Objektivation des Hasses. In diesem Zusammenhang versteht man die Worte des hl. Johannes: „Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Mörder“ (1. Joh. 4, 15). Körperlich muss er ihn nicht unbedingt töten, geistig aber wünscht er ihm das Nichtsein überhaupt. Der mörderische Gedanke liegt jeder Eigenliebe zugrunde. Die körperliche Vernichtung ist nur die logische Folge des inneren geistigen Mordes. Deswegen: „Wer nicht liebt, bleibt im Tod“, nicht nur in dem Sinne, daß er selbst das ewige Leben nicht in sich behält (vgl. 1. Joh. 3, 16), sondern auch weil er den anderen in den Tod schickt. Das In-den-Tod-Schicken ist die eigentliche Daseinsweise jedes nur sich selbst liebenden Geschöpfes.
Der Teufel ist der eigentliche Erfinder des Todes
… Es ist das Kennzeichen der antichristlichen Mächte aller Jahrhunderte, denn der Teufel „war von Anfang an ein Menschenmörder“ (Joh. 8, 44). Er ist der eigentliche Erfinder des Todes, denn „Gott hat den Tod nicht geschaffen und hat keine Freude am Verderben der Lebenden“ (Weish. 1, 13). Die Vernichtung des Lebens ist das deutliche Zeichen der durch dämonische Mächte unterjochten und verdorbenen Erde. Wo immer das Sein zerstört wird, wo der Mensch dem Menschen Wolf ist, wo Kinder ihre Eltern verraten, überall dort waltet der Antichrist und baut sein Reich auf die Grabhügel der Ermordeten. Macht man die Eigenliebe zur Grundlage des Daseins, so watet man bald im Blut des Bruders.
Die Eigenliebe ist das Zeichen an rechter Hand oder Stirn
Die Eigenliebe ist also das anthropologische Merkmal des antichristlichen Geistes. Sie ist das Zeichen, das die Anbeter des Tieres „an ihrer rechten Hand oder auf ihrer Stirn anbringen“ (Offb. 13, 16), d. h. mit dem sie ihre Werke und ihre Gedanken bezeichnen. Erkennt man die Jünger Christi daran, daß sie Liebe zueinander haben (vgl. Joh. 13, 35), so zeichnen sich die Anhänger des Antichrist gerade dadurch aus, daß sie ihr Dasein nach den Gesetzen der Eigenliebe gestalten. Die Entfaltung des antichristlichen Geistes in Raum und Zeit ist im Wesen nichts anderes als die Objektivation der Eigenliebe in der Geschichte. –aus: Antanas Maceina, Das Geheimnis der Bosheit, 1955, S. 46 – S. 53