Die natürlichen und die übernatürlichen Tugenden
I. Begriff
Die Tugend ist ein bleibender Zustand, welcher die Seelenkraft vervollkommnet und zur Übung des Guten anleitet.
II. Einteilung
1. Nach ihrem Ursprung können die Tugenden sein: natürliche und übernatürliche Tugenden.
Die natürlichen Tugenden werden durch menschliche Tätigkeit erworben, die übernatürlichen werden von Gott eingegossen.
2. Nach ihrem Gegenstand werden die Tugenden unterschieden in theologische (göttliche) und in sittliche Tugenden.
Die theologischen Tugenden haben direkt und unmittelbar Gott zu ihrem Gegenstand und zwar der Glaube, insofern und weil er die unfehlbare Wahrheit ist, die Hoffnung, insofern und weil er unser höchstes Gott ist, die Liebe, insofern und weil er das liebenswürdigste Gut ist. – Die theologischen Tugenden sind immer übernatürliche Tugenden.
Die sittlichen Tugenden haben als Gegenstand etwas, was nicht Gott ist, also etwas Geschaffenes, z. B. die Unterstützung des Nebenmenschen, die Verehrung Gottes, weil dies sittlich gut ist. – Die sittlichen Tugenden können erworben oder von Gott eingegossen sein.
III. Die Kardinaltugenden
sind jene vier Grundtugenden, auf welche alle übrigen sittlichen Tugenden sich irgendwie zurückführen lassen, nämlich: Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Starkmut.
Manche fassen auch diese Kardinaltugenden als Erfordernisse und Bedingungen, die jeder Einzeltugend zukommen müssen. Wer nämlich eine Tugend üben will, der muss ein richtiges Urteil haben (Klugheit); er muss Achtung vor dem Gesetz und der Pflicht besitzen; jedem geben, was ihm zukommt (Gerechtigkeit); er muss in Schwierigkeiten ausharren, darf sich durch nichts entmutigen lassen (Starkmut); er muss Maß halten und sich selbst beherrschen (Mäßigkeit).
IV. Entstehung, Vermehrung und Verlust der Tugenden
1. Die natürliche Tugend wird durch Übung, d. h. durch wiederholte gute Akte erworben und vermehrt; sie wird dadurch geschwächt und endlich verloren, daß man häufig gegen die betreffende Tugend handelt.
Da durch die Gewöhnung der Widerstand der Begierlichkeit geringer wird, so ist die natürliche Tugend mit einer gewissen Fertigkeit und Freudigkeit des Handelns verbunden. – Durch einen einzigen schwer sündhaften Akt geht die natürliche Tugend nicht verloren.
2. Die übernatürliche Tugend wird unmittelbar von Gott der Seele eingegossen. Zu ihrer Vermehrung muss der Mensch durch sittlich gute Betätigung die nötige Disposition schaffen, bewirkt aber wird die Vermehrung durch Gott. Verloren gehen die übernatürlichen Tugenden durch entsprechende schwere Sünden.
Die übernatürlichen Tugenden verleihen den menschlichen Seelenkräften eine dauernde Befähigung und innere Geneigtheit zu übernatürlich guten Handlungen. Da sie aber nicht durch wiederholte Übung entstanden sind, also keine Gewöhnung vorliegt, durch welche der Widerstand der Begierlichkeit geschwächt würde, so schließen sie keine äußere Leichtigkeit und Freudigkeit des Handelns ein.
Verloren wird der Glaube durch eine schwere Sünde, die ihm direkt entgegen gesetzt wird; die Hoffnung geht immer verloren mit dem Glauben, da sie ohne ihn nicht bestehen kann, sowie durch jede schwere Sünde, die ihr direkt entgegen gesetzt ist. Die Liebe und alle sittlichen Tugenden gehen durch jede schwere Sünde verloren.
V. Zusammenhang der Tugenden
1. Eingegossene und erworbene Tugenden können bestehen unabhängig von einander.
Ein getauftes kleines Kind besitzt z. B. die eingegossenen Tugenden, nicht aber die erworbenen; umgekehrt kann ein Erwachsener durch eine Todsünde die eingegossenen Tugenden verloren haben, aber noch im Besitz der erworbenen sein.
2. Die erworbenen Tugenden hängen unter sich so zusammen, daß derjenige, der eine dieser Tugenden vollkommen besitzt, auch all anderen besitzt. Solange sie aber unvollkommen sind, kann auch die eine ohne die andere bestehen.
Der Grund liegt darin, daß die Klugheit Führerin aller sittlichen Tugenden ist; wo sie vollkommen vorhanden ist, da sind auch die übrigen Tugenden vorhanden. Solange die Tugenden aber noch unvollkommen sind, besteht nur eine gewisse Hinneigung, eine Anlage zu einer bestimmten sittlichen Tätigkeit, die nicht notwendig mit der Hinneigung zu einer anderen sittlichen Tätigkeit verbunden sein muss; so kann ein Unkeuscher sehr freigebig sein.
3. Von den eingegossenen Tugenden können Glaube und Hoffnung ohne die sittlichen Tugenden bestehen; mit der Liebe aber sind die sittlichen Tugenden unzertrennlich verbunden.
Mit der theologischen Tugend der Liebe werden auch Glaube und Hoffnung verliehen, wenn sie nicht schon vorher vorhanden waren. – Die Liebe kann nicht bestehen ohne den Glauben und die Hoffnung; die Hoffnung kann nicht bestehen ohne den Glauben.
VI. Gradunterschied
Die übernatürlichen Tugenden stehen höher als die natürlichen. Unter den übernatürlichen Tugenden haben die theologischen Tugenden den Vorrang vor den sittlichen, und von den theologischen Tugenden steht die Hoffnung höher als der Glaube, die Liebe aber höher als Glaube und Hoffnung.
Vollkommener ist nämlich die Tugend, welche uns unserem Endziel näher bringt. Die natürlichen Tugenden aber ordnen den Menschen nur auf ein natürliches Endziel hin, die übernatürlichen aber auf sein übernatürliches. – Die sittlichen Tugenden aber ordnen nur die Mittel zur Erreichung unseres ewigen Endzieles; die theologischen Tugenden jedoch bringen uns mit unserem ewigen Endziel, mit Gott, in Verbindung. Während aber durch den Glauben Gott dem Menschen nur gezeigt wird, strebt die Hoffnung nach Gott, die Liebe aber vereinigt uns aufs innigste mit ihm. Demnach ist die Gottesliebe die Königin aller Tugenden, die vollkommenste Tugend, in ihr besteht die christliche Vollkommenheit.
VII. Das Tugendstreben
ist zum Teil Pflicht, zum Teil nur Rat.
Soweit das Tugendstreben nur Rat ist, wird es behandelt in der Aszetik und Mystik, soweit des Pflicht ist, wird es sofort in der Lehre von den Geboten behandelt. – Hilfsmittel für ein ernstes, entschlossenes Tugendleben sind die Gnadenmittel, besonders die Sakramente, die in der Lehre von den Sakramenten behandelt werden. –
aus: Heribert Jone OMCap, Katholische Moraltheologie, 1931, S. 83 – S. 86