Existenz des sittlichen Naturgesetzes

Die Existenz des sittlichen Naturgesetzes und Naturrechtes

Von außerordentlicher Wichtigkeit ist der Nachweis, daß die lex naturalis moralis von der Offenbarung anerkannt, bestätigt und voraus gesetzt wird. Das Alte Testament kennt ein ins Herz gelegtes Gesetz. So verkündet Moses dem Volk: „Das Gesetz, das ich heute dir darlege, ist nicht zu hoch für dich und nicht zu ferne gerückt… vielmehr ist der Ausspruch sehr nahe bei dir, in deinem Mund und in deinem herzen, so daß du ihn erfüllen kannst“ ( Deut. 30, 11ff; Vgl. Jer. 31, 31ff). Desgleichen setzt das Buch der Weisheit die lex naturalis moralis voraus, wenn es den Gottlosen Strafe androht mit den Worten: „Kommen werden sie verzagt zur Abrechnung über ihre Sünden, ihre eigenen Missetaten werden ihnen gegenüber treten und sie überführen“ (Weish. 4, 20). Tobias gibt die Grundregel der Gerechtigkeit (Vgl. Aristoteles, Pol. 7, 2) an, wenn er mahnt: „Was du nicht willst, daß von einem anderen dir geschehe, das sieh zu, daß du nie einem anderen antuest“ (Tob. 4, 16). Die soziale Grundregel überhaupt, auch sofern sie sich auf das Gebot der Liebe erstreckt, hat Jesus selbst aufgestellt: „Alles nun, was immer ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das sollt auch ihr ihnen tun, denn dies ist der Sinn von Gesetz und Propheten“ (Matth. 7, 12); das alttestamentliche Sittengesetz ist demgemäß, wie sich hieraus ergibt, nichts anderes als eine Entfaltung des sittlichen Naturgesetzes, wie auch die Kirchenväter betonen. (Augustinus, De spir. Et lit. 14, 23f)

Jesus bestätigt die Anwendung des Naturrechts

Jesus bestätigt ausdrücklich gewisse naturrechtliche Gebote des Alten Testamentes (Mark. 10, 19); er verwirft eine dem Naturrecht Hohn sprechende Umgehung des vierten Gebotes und fällt im Hinblick darauf sein Urteil: „Jegliche Pflanzung, die nicht gepflanzt hat mein himmlischer Vater, wird ausgerottet werden“ (Matth. 15, 3ff). Auch sonst droht er strenge Strafen an dem, der das natürliche Sittengesetz missachtet (Luk. 12, 59). Ferner bezeichnet der Herr die Pflicht der Erhaltung des Lebens als die höhere gegenüber den positiven Geboten zeremonieller Art (Mark. 2, 23ff; 3. 1ff). Ja, er stellt geradezu die Forderung, dem eigenen Denken und Fühlen die sittlichen Normen zu entnehmen: „Warum“, so fragt er, „beurteilt ihr nicht von euch selbst, was recht ist?“ (Luk. 12, 57). Nichts anderes als eine Anwendung des Naturrechts ist es, wenn Jesus den Satz ausspricht: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ (Matth. 22, 21).

Der Apostel Paulus entwickelt die Lehre vom natürlichen Sittengesetz

Ganz im Sinne seines Meisters entwickelt der Apostel Paulus die Lehre vom natürlichen Sittengesetz mit den Worten: „Wenn Heiden, die das (mosaische) Gesetz nicht haben, von Natur das, was zum Gesetz gehört, vollbringen, sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz; sie, die beweisen, daß das Wesentliche des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, indem ihr Gewissen Zeugnis ablegt und ihre Gedanken sich untereinander anklagen oder auch lossprechen“ (Röm. 2, 14f). Daß sich der Apostel bei seiner klassischen Formulierung der christlichen Lehre im Ausdruck an die stoische Philosophie anlehnt, ist nicht entscheidend: an sachliche Entlehnung ist nicht zu denken, wie die Vergleichung mit der Lehre Jesu und mit der angeführten Stelle im Deuteronomium (30,11ff) deutlich zeigt. Offenkundig wendet sodann Paulus die Idee des Naturrechtes in seinem Römerbrief auf den Staat und das Verhältnis des Christen zum Staat an (Röm. 13, 1ff); daß es sich dabei um naturrechtliche Gedankengänge handelt, ergibt sich schon aus der Wendung: „darum zahlt ihr ja auch Steuern“, das heißt doch: ihr selbst bestätigt, daß ihr vom Staat Wohltaten empfanget, indem ihr abgaben entrichtet, so schon Chrysostomus in seiner Homilie über die Ausführungen des Apostels.

Die Kirchenväter entfalten die Lehre des Apostels Paulus

Die Kirchenväter entfalten die Lehre des Apostels Paulus unter Verwertung namentlich der stoischen Philosophie, Laktanz, Ambrosius, Augustinus besonders im Anschluss an Cicero, teilweise an Seneka, so gebrauchen sie die von der antiken Philosophie gebrauchten Ausdrücke: lex rationis, lex innata, lex naturalis. (Vgl. Schilling, Naturrecht und Staat nach der Lehre der alten Kirche, 1914) Tief führt Augustinus in das Verständnis der Naturrechtslehre ein, Thomas von Aquin hat dann später die augustinischen mit den aristotelischen Erkenntnissen verbunden und die christliche Lehre vom natürlichen Sittengesetz in bewundernswerter Weise systematisiert. (Schilling, Die Staats- und Soziallehre des heiligen Thomas von Aquin, 1923, 5ff) Klares Zeugnis für die Existenz des natürlichen Sittengesetzes als eines Gesetzes mit objektivem, von uns unabhängigem Inhalt legt auch ab das menschliche Selbstbewusstsein, und nicht etwa nur bei Kulturvölkern, sondern selbst bei den kulturell am tiefsten stehenden Völkern; auch sie haben gewisse sittliche Grundideen und Grundsätze, die einen Gemeinbesitz der Menschheit bilden, und stets sind bei den primitiven Völkern Religion und Moral von Anfang an unlöslich miteinander verbunden. (Cathrein, Die Einheit des sittlichen Bewusstseins der Menschheit, 1914)

Verbindlichkeit des natürlichen Sittengesetzes

Um die Verbindlichkeit der naturgesetzlichen Prinzipien, die im Dekalog zusammen gestellt sind, nach Umfang und Charakter zu ermitteln, ist auszugehen von der Art und Weise, wie diese Prinzipien von der Vernunft erfaßt werden, sodann von deren Verhältnis zur Menschennatur und zur lex aeterna. Die naturgesetzlichen sittlichen Prinzipien samt den entsprechenden natürlichen Neigungen drängen sich dem Menschen auf, jene Prinzipien leuchten der Vernunft ohne mühsame Reflexion ein, ferner betreffen sie die Natur des Menschen und die allen gemeinsamen elementaren ethischen Grundverhältnisse, nämlich das Verhältnis zu Gott, zur eigenen Person, zum Nächsten, sie bestimmen, was in diesen Beziehungen schlechthin zu tun und zu lassen ist, und sie erscheinen, was ihr Verhältnis zum ewigen Gesetz anlagt, als Reflex der lex aeterna.

Aus alledem ergibt sich, daß das natürliche Sittengesetz jeden Menschen, auch das größte Genie, verpflichtet, lex naturalis, so formuliert Thomas von Aquin den Gedanken kurz, ideo est una omnium (S. th. 1, 2, q. 91, a. 5 ad 3), und es ergibt sich zugleich daraus, daß das sittliche Naturgesetz unbedingt verpflichtet, also nicht unter Umständen eine Ausnahme zuläßt, daß seine Bestimmungen auch für das staatliche Handeln, das soziale und wirtschaftliche Leben und für jede Gesetzgebung maßgebend bleiben; das natürliche Sittengesetz verpflichtet somit allgemein und absolut.

Stets wird es, solange die Natur im wesentlichen sich gleich bleibt, schlechthin angemessen und in sich gut sein, daß etwa die Vernunft über das Sinnliche herrscht oder jegliche Verletzung der Wahrheit unstatthaft ist. Deshalb sind auch Dispensation und Epikie ausgeschlossen, die Epikie schon aus dem Grunde, weil ihre Anwendung von der Annahme eines mangelhaften Gesetzes unzertrennlich wäre. Deshalb muss noch lange nicht eine unerträgliche Spannung zwischen den wandelbaren Verhältnissen und dem unveränderlichen Naturgesetz eintreten, sind doch die allgemein und absolut geltenden sittlichen Normen elastische, sinngemäß auf die Verhältnisse anzuwendende Prinzipien.

Schwierigkeiten gewisser Berichte in der Heiligen Schrift

Zur entgegen gesetzten Ansicht, als wäre das Naturgesetz dispensabel, gelangte der einseitige Nominalismus, wie ihn etwa Ockham vertrat. Den Ausgangspunkt für diese Theorie bildete die Auffassung, wonach das sittliche Naturgesetz Ausfluss göttlicher Willkür wäre und nicht vielmehr als Ausdruck der rationabilis Dei voluntas erscheint (S. th. 1, 2, q. 97, a. 3; vgl. auch Röm. 12, 1); Gott schafft in Wahrheit die Dinge nach seinen Ideen und kann sich nicht selbst widersprechen (vgl. 2. Tim. 2, 13). Gewisse Berichte der Heiligen Schrift bilden keinerlei Veranlassung, diesen Grundsatz aufzugeben, und ebenso wenig eine genügende Begründung für die nominalistische Auffassung.

Diese Schriftberichte beziehen sich auf die Opferung Isaaks, die Belohnung der jüdischen Hebammen angeblich wegen ihrer Lüge (Ex. 1, 19ff.), die Mitnahme der silbernen und goldenen Gefäße von Ägyptern durch Israel, die Ehe des Osee (Os. 1, 2). Ein Teil der hier bestehenden Schwierigkeiten erledigt sich bei sinngemäßer Auslegung. So erhalten die jüdischen Hebammen göttlichen Lohn, weil sie Gott mehr fürchteten als den fremden König, nicht für die Lüge, die sie gebrauchten. Mit der „Ehebrecherin“, die der Prophet Osee zur Frau nehmen soll, ist vielleicht eine Heidin gemeint, entsprechend der Würdigung des Götzendienstes Israels als eines Ehebruchs Gott gegenüber, oder es ist darunter eine zur Unsittlichkeit geneigte Person zu verstehen, eine Gesinnung, die jener Israels konform wäre, dagegen ist wohl kaum an bloße Fiktion zu denken. Die Mitnahme eines Teils ägyptischen Eigentums konnte Gott als höchster Herr über alles Eigentum verfügen, im Sinn einer geheimen Schadloshaltung für vorbehaltenen Arbeitslohn.

Wo die Schwierigkeit exegetisch wirklich nicht zu beseitigen ist, wie im Fall der geplanten Opferung Isaaks, hat man mit Thomas von Aquin eine Änderung des Objektes der Handlung anzunehmen, eine Änderung der tatsächlichen Rechtsverhältnisse: durch göttliches Gebot wird die verlangte Tötung Isaaks zu einer Handlung, die nicht mehr eine ungerechte und unvernünftige ist, wie sie der Dekalog voraus setzt (S. th. 1, 2, q. 94, a. 5 ad 2, q. 100, 8 ad 3). Bei weiteren Fällen, die hier in Betracht kommen, nämlich bei Polygamie und Ehescheidung, die im Alten Testament gestattet werden, liegen Verbote zugrunde, die nur einen sekundären Zweck der Ehe oder die bessere Sicherung ihres Hauptzweckes betreffen, eine Sicherung, ohne die jene Einrichtung lediglich der vollkommeneren Ausgestaltung entbehrt; die Ehescheidung wurde den Juden wegen ihrer Herzenshärtigkeit eingeräumt, weil sonst das Leben vieler Frauen gefährdet gewesen wäre, also gemäß dem Prinzip der Wahl des kleineren Übels (C. Gent. 3, 123), und die Polygamie sollte der raschen Vermehrung des Gottesvolkes dienen (In 4 Sent. d. 33, q. 1, a. 2).

Die Frage von Polygamie und Ehescheidung

Nunmehr ist die Polygamie durch Christus, der die Ehe in ihrer ursprünglichen Reinheit wieder hergestellt hat, allgemein verboten worden (Matth. 19, 5f), desgleichen ist durch positiv göttliches Gebot die Ehescheidung im eigentlichen Sinn verboten (Matth. 5, 32; 19, 4ff), und zwar ist die christliche Ehe schlechthin unauflöslich, wenn sie durch Vollzug zum vollen Abbild der Vereinigung Christi mit der Kirche geworden ist (Eph. 5, 28ff), doch geht diese Betrachtungsweise über die naturrechtliche hinaus. Demzufolge bleibt der Satz zu Recht bestehen, daß die Vorschriften des Dekalogs indispensabel sind. Die nominalistische Auffassung ist, wie sich aus den prinzipiellen Ausführungen über das Verhältnis der sittlichen Grundnormen zur menschlichen Natur und zum unwandelbaren ewigen Gesetz ergibt, unmöglich und unannehmbar, sie ist aber auch sittlich bedenklich, weil selbst eine in Ausnahmefällen erfolgende Dispensation die moralischen Begriffe verwirren, Anstoß erregen, die absolute Regel Matth. 5, 48 und das christliche Ideal, bestehend im Beispiel Christi, erschüttern müsste.

Wieweit die Befugnisse der Kirche reichen

Ebenso wenig kann deshalb die Kirche befugt sein, zu dispensieren, soweit es sich um die ersten Prinzipien und die nächsten Folgerungen handelt, hier steht der Kirche nur das Recht der authentischen Erklärung zu. Weiter reichen ihre Befugnisse auf dem Gebiet der entfernten Folgerungen, tatsächlich dispensiert sie auf diesem Gebiet aus wichtigen Gründen, so vom matrimonium ratum non consummatum. Man kann derartige Dispensationen als solche im eigentlichen Sinne auffassen, man kann aber auch sagen: die Kirche vermag kraft göttlicher Delegation gewisse Verpflichtungen, die sich auf entfernte naturrechtliche Sätze beziehen und die aus dem freien Willen eines der Kirche unterstellten Gläubigen entspringen, also etwa Verpflichtungen auf Grund eines Gelübdes, zu erlassen. Ganz gleich sind die beiden Erklärungen vom moraltheologischen Gesichtspunkt aus nicht zu würdigen; die zweite Erklärung, die nur mit einer uneigentlichen Dispensation rechnet, läßt den Satz, wonach das Naturgesetz indispensabel ist, unangetastet, die erste Erklärung dagegen nicht in derselben Weise (vgl. S. th. 1, 2, q. 100, a. 8 ad 3). –
aus: Otto Schilling, Lehrbuch der Moraltheologie I. Band, 1928, S. 100 – S. 104

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