Die Lehre vom natürlichen Sittengesetz

Das natürliche Sittengesetz

Wesen und Begriff

Die Lehre vom natürlichen Sittengesetz wurde von Augustinus entsprechend der christlichen Tradition in grundlegender Weise behandelt, von Thomas systematisch entwickelt. Die Ausdrücke, die sie gewählt oder geprägt, führen am sichersten und besten in das Verständnis dieser für die Moral so wichtigen Lehre ein. Durch Ausstrahlung in den Menschengeist, durch Strahlen, die vom ewigen Gesetz in die Seele fallen, erkennen die Menschen die lexaeterna mehr oder weniger (S. th. 1, 2, q. 93, a. 2).

Dafür sagt Augustinus gelegentlich, das natürliche Gesetz sei gleichsam „umgeschrieben“ worden (quasi transcripta est lex naturalis) in die vernünftige Seele aus dem ewigen Gesetz (De div. Quaest. 53, 2) So ergibt sich nun in der Seele, wie Augustinus und Thomas unter Verwertung der Analogie des Lichtes (vgl. Ps. 118, 3) sich ausdrücken, eine impressio divini luminis in nobis oder, wie die Scholastik auch sagt, sie scintilla animae; das sittliche Naturgesetz stellt sich als Reflex der gebietenden göttlichen Vernunft in der menschlichen Seele. Somit ist das natürliche Sittengesetz nichts anderes als eine participatio legis aeternae, eine Teilnahme am ewigen Gesetz, wie Thomas von Aquin feststellt (S. th. 1, 2, q. 91, a. 2).

Was den Gegenstand des sittlichen Naturgesetzes im allgemeinen betrifft, so gibt es uns Aufschluss über gut und böse, es enthält die einleuchtenden sittlichen Grundsätze, zusammen gefaßt in der Synderesis. Aber man würde ebenso sehr das Wesen des natürlichen Sittengesetzes, wie es in Wirklichkeit besteht, als den Sinn der christlichen Tradition verkennen, wollte man das sittliche Naturgesetz nur als Inbegriff natürlicher Erkenntnisse auffassen: unlöslich verbunden damit sind entsprechende Antriebe, natürliche Hinneigungen zu zielgemäßer Betätigung (S. th., Suppl. q. 65, a. 1); das natürliche Sittengesetz ist weit davon entfernt, nur eine erkenntnismäßige Anleitung, eine Anleitung zur Unterscheidung von gut und böse zu sein, es ist vielmehr zugleich eine praktische, zu entsprechendem Verhalten drängende Anleitung, eine Anleitung näherhin, der in die sinnlich-geistige Natur gelegten Ordnung gemäß zu handeln.

Gewiß sind diese Antriebe durch die Erbsünde abgeschwächt worden, aber sie sind keineswegs beseitigt; unter Leitung de Vernunft, die den vorzüglichsten Bestandteil (potissimum) der Natur des Menschen ausmacht, und, kann man sagen, sein eigentliches Wesen bildet, hat auch das Sinnliche durchaus seine Berechtigung; einfach entgegen diesen Neigungen zu handeln, ist nicht nur nicht gefordert, sondern wäre unnatürlich und Sünde, anders selbstverständlich, wenn die Vernunft aus höheren Rücksichten gebietet oder empfiehlt, dem Sinnlichen entgegen zu handeln. (siehe auch den Beitrag: Vernunft als Erkenntnisquelle der Moral)

„Alles“, sagt Thomas von Aquin, „was der natürlichen Hinneigung widerstreitet, ist Sünde, weil es dem Naturgesetz widerstreitet“; so wohnt jedem Ding die natürliche Neigung inne, eine Tätigkeit angepaßt seiner Kraft zu entfalten, daher erscheint Kleinmut als Sünde (S. th. 2, 2, q. 142, a. 1. C. gent. 136f).

Die Neigungen, die Gott in die Natur gelegt, enthalten also, vernünftig betrachtet und gewertet, ein Sollen. Als Beispiel, wie natürliche Erkenntnisse und natürliche Neigungen zusammen wirken, sei die Erkenntnis erwähnt, dem hilflosen Mitbruder zu helfen, eine Erkenntnis, die im Leben mit der natürlichen Neigung des Mitleids sich von selbst verbindet. Die einleuchtenden Erkenntnisse sind jedoch nicht im Sinn von angeborenen Ideen zu verstehen, vielmehr müssen eine Reihe von Wahrnehmungen und Erinnerungen voraus gegangen sein, ehe die Fähigkeit, die ersten allgemeinen und unmittelbar einleuchtenden Prinzipien für das menschliche Handeln zu erfassen, wirksam wird. Träger der natürlichen Erkenntnisse ist der praktische Intellekt, im Unterschied von der Vernunft (ratio), die diskursiv, auf dem Weg der Schlussfolgerung, zu ihren Erkenntnissen gelangt. Mit fortschreitender geistiger Entwicklung entfalten sich zugleich jene natürlichen Erkenntnisse, erst mit der vollen Entfaltung der Erkenntniskraft gelangen auch sie zu voller Klarheit.

Übrigens hat Gott zum Zweck der Entwicklung aller Künste und Wissenschaften dem Menschen die natürlichen Anfänge und Prinzipien mitgegeben, so selbstverständlich auch auf dem wichtigsten, dem ethischen Gebiet. –
aus: Otto Schilling, Lehrbuch der Moraltheologie I. Band, 1928, S. 95 – S. 97

Tags: Moral

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