Die Erkenntnisquellen der Moraltheologie
Die Vernunft als Erkenntnisquelle der Moral
Aufzählung der Erkenntnisquellen
Die Kirche hat das christliche Lebensgesetz autoritativ festzustellen und zu wahren, sie gewinnt die sittlichen Normen aus der Heiligen Schrift und der Tradition. Lehre und Praxis der Kirche, die Praxis, sofern die Lehre daraus erkennbar ist, bilden daher die nächste und zugleich die entscheidende Regel des Sittengesetzes (vgl. Conc. Vat., sess. 3, cap. 2 und 3) (Denz. n. 1792.1800), Schrift und Tradition die entferne Regel. In erster Linie maßgebend ist also die offizielle kirchliche Lehre. Schrift und Tradition kann man auch als das Materialprinzip der Moral bezeichnen. Die Lehr- und Leitungsgewalt der Kirche als Formalprinzip, weil das Lehramt den gesamten Stoff der Verkündigung aus der Schrift und Tradition entnimmt und hieraus die endgültige Lehre formt (vgl. 2. Kor. 3,6). Da die kirchliche Lehre demgemäß entscheidende Bedeutung besitzt, müßten streng genommen die ihr entlehnten Beweise an erster Stelle aufgeführt werden, doch kann natürlich etwa aus didaktischen Gründen eine andere Reihenfolge gewählt werden. Neben kirchlicher Lehre, Schrift und Tradition kann die Moraltheologie aber auch der Vernunft als Erkenntnisquelle nicht entbehren. Da sie der logischen Ordnung nach die erste Erkenntnisquelle für die Moral ist, wäre ja ohne das Mittel der Vernunft die übernatürliche Wahrheit nicht erkennbar und bietet doch die Offenbarung auch viele natürliche Wahrheiten, so soll zunächst die Vernunft als Erkenntnisquelle der Moral in Betracht gezogen werden.
Ihre Bedeutung als Erkenntnisquelle
Die Vernunft bildet nicht nur als unentbehrliches Werkzeug die Voraussetzung jeder wissenschaftlichen theologischen Erkenntnis (Augustinus, Ep. 120,3…), sie bietet überdies als Quelle bestimmter Erkenntnisse die natürlichen Sittennormen, die natürliche Offenbarung des Sittlichen. Ja das Sittengesetz der Offenbarung enthält im wesentlichen dieselben Forderungen. „Was zum Glauben gehört, geht über die menschliche Vernunft hinaus, deshalb können wir zu jenen Wahrheiten nur durch die Gnade gelangen, daher zur Zeit der reichlicheren Gnade eine Fortentwicklung hinsichtlich der Glaubenssätze; dagegen zu den Werken der Tugenden werden wir angeleitet durch die natürliche Vernunft, die sich als eine gewisse Regel der menschlichen Tätigkeit darstellt, und aus diesem Grunde war es nicht nötig, hier Vorschriften zu geben über die a.t. Sittennormen hinaus, die aus dem Gebot der Vernunft (ex dictamine rationis) stammen“ (S. th. 1,2, q. 108, a.2 ad 1). Nach alledem ist der Mensch zunächst an die natürlichen Sittennormen, an die Instanz der Vernunft gewiesen, und es ist darum auch stets Sünde, sich über die vom angedeuteten Gesichtspunkt aus nächste Regel, so genannt im Unterschied von dem ewigen Gesetz, der entfernten und höchsten Regel (S. th. 1,2, q. 19. a.4), achtlos wegzusetzen (vgl. Röm. 14,23). Daß zwischen dem Sittengesetz der Offenbarung und dem der Vernunft keinerlei Widerspruch besteht, läßt sich im einzelnen unschwer erweisen, ein solcher ist nach christlicher Überzeugung von vorne herein ausgeschlossen, weil das natürliche Sittengesetz auf die Vernunft zurück geht, diese aber nichts anderes ist als Licht vom göttlichen Licht.
Aufgabe der Vernunft
Die Vernunft hat die natürlichen Grundlagen des moraltheologischen Lehrgebäudes zu erstellen; mit Hilfe der Vernunft ist die sittliche Natur des Menschen zu ergründen, sind die Voraussetzungen des sittlichen Handelns, dessen natürliche Hemmungen und Förderungsmittel festzustellen, ist das natürliche Sittengesetz, die natürliche Pflichten- und Tugendlehre zu entwickeln. Die Vernunft dient ferner dazu, die übernatürlichen Erkenntnisse systematisch zu ordnen, die Folgerungen abzuleiten, den Nachweis zu führen, daß diese untereinander und mit dem letzten Ziel in Einklang stehen, über dies ist im apologetischen Interesse darzutun, daß das übernatürliche Lebensgesetz mit den natürlichen Forderungen harmoniert, der Vernunfterkenntnis keineswegs widerspricht. Nicht nur wird so durch die Vernunft eine moraltheologische Wissenschaft überhaupt erst ermöglicht und geschaffen, ohne natürliche Begründung, Motivierung und Rechtfertigung der christlichen Forderungen und ohne Berücksichtigung etwa der sozial-ethischen und politisch-ethischen Grundsätze wäre die Moraltheologie zudem im Leben bedeutungslos. Zur theoretischen Aufgabe tritt die praktische, bestehend in der Anwendung der gewonnenen Grundsätze auf das gesamte Leben (vgl. Leo XIII., Enc. Aeterni Patris, d.d. 4.8.1879). –
aus: Otto Schilling, Lehrbuch der Moraltheologie, I. Band: Allgemeine Moraltheologie, 1927, S. 17 – S. 18