Verbindlichkeit des menschlichen Gesetzes
Nur das gerechte Gesetz verpflichtet im Gewissen
Charakter der Verpflichtung
Auch der Staat hat seinen letzten Grund im göttlichen Willen, geht doch der Staat, wie Leo XIII. in der berühmten Enzyklika (Libertas v. 20.6.1888) über die menschliche Willensfreiheit darlegt, von Gott aus nach seinen Bestandteilen, nach seiner Form, seiner Ursache und seinem Nutzen für den einzelnen: als nach Form und „Materie“, hierunter oder unter den Bestandteilen sind vor allem die Fmailieb zu verstehen; die nächste Ursache, die zur Bildung der staatlichen Gemeinschaft führt, ist in der sozialen und politischen Veranlagung der Menschen, die physisch, kulturell und sittlich ohne Staat verkümmern müssten, zu suchen: die Wohltaten, die der einzelne dem Staat verdankt, sind soeben angedeutet worden. Der göttliche Wille durchwaltet daher, wie die ganze Welt der irdischen Güter, auch Staat und Gesellschaft, die sozialen Güter und die sich so ergebenden Beziehungen sind von Gott gewollt, keineswegs steht das höchste Gut, einer der folgenschweren Irrtümer Luthers, beziehungslos und weltfremd Staat und Gesellschaft gegenüber, so daß der Könige Regiment ein „äußerlich Ding“ ist und ihre Gesetze „das Gewissen nicht binden“ , vielmehr umfaßt dieselbe lex aeterna alle jene natürlichen Beziehungen, auch die der von Gott gewollten Unter- und Überordnung. „Durch mich“, lehrt die heilige Schrift im schroffsten Gegensatz zu Luthers Aufstellungen, „durch mich regieren Könige und verordnen Gesetzgeber, was recht ist, durch mich herrschen Fürsten, und Gewalthaber entscheiden nach Gerechtigkeit“ (Spr. 8, 15f). Somit kommt der Autorität im Staat die auf Gott zurück gehende sittliche Macht zu, durch gerechtes, mit den erforderlichen Eigenschaften ausgestattetes Gesetz im Gewissen zu verpflichten. „Jedermann sei untertan der obrigkeitlichen Gewalt, denn es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre, die bestehenden aber sind von Gott angeordnet; wer also der Obrigkeit widersteht, widersetzt sich der Anordnung Gottes; Gottes Dienerin ist sie dir zum Guten, daher ist es Notwendigkeit (Pflicht), untertan zus ein, nicht nur des Zornes (der Strafe), sondern auch des Gewissens wegen; gebt denn jedem, was ihm gebührt, Abgabe, wem Abgabe, Zoll, wem Zoll, Furcht, wem Furcht, und Ehre, wem Ehre gebührt“ (Röm. 13, 1ff: Tit. 3, 1); ähnlich der heilige Petrus (1. Petr. 2, 13ff). Jesus selbst hat den Grundsatz verkündet: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“ (Matth. 22, 21). Eine christliche Lehre von außerordentlicher sozialen Bedeutung, der von modernen atheistischen Theorien nur kraftlose Ideen gegenüber gestellt werden. Unaufhörlich wiederholt die christliche Tradition die Mahnungen zu gehorsam und gewissenhafter Leistung des Geschuldeten; da es hier, wie stets, wenn die Schrift eine Wahrheit mit voller Bestimmtheit zum Ausdruck bringt, keinerlei Meinungsverschiedenheit in der christlichen Literatur gibt, so erübrigt es sich, einzelne Zeugnisse anzuführen, erwähnt sei nur, daß zugleich immer wieder bezeugt wird, wie gewissenhaft die Christen der ersten christlichen Jahrhunderte trotz schwierigster Umstände ihre Pflicht gegen den Staat erfüllten. (Ep. Ad Diogn. 5. Augustinus, Enarr. In Ps. 124, 7)
Aber nur das gerechte Gesetz verpflichtet im Gewissen.
„Erinnere sie“, schreibt der heilige Paulus an Titus (3, 1), „den Fürsten und Gewalthabern untertan zu sein, Gehorsam zu leisten, zu jedem guten Werk bereit zu sein“; verletzt das menschliche Gesetz oder Gebot die Vorschriften des ewigen Gesetzes, alsdann hört die Pflicht des Gehorsams auf und Ungehorsam gegen die Menschen wird Pflicht. (Leo XIII., Enc. Sapientiae christ. v. 10.1.11890; Diuturnum illud v. 29.6.1881) Verletzt das staatliche Gesetz nur menschliche Rechte, so ist es also ungerecht im engeren Sinne, auch dann besteht an sich keine Pflicht, zu gehorchen; und auch dann gilt, was der heilige Thomas vom ungerechten Gesetz sagt: lex iniusta non obligat, leges iniustae magis sunt violentiae qual leges, ein ungerechtes Gesetz verpflichtet nicht, ungerechte Gesetze sind mehr Gewalttaten als Gesetze (S. th. 1,2, q. 96, a. 4.). Den entgegen gesetzten Standpunkt kann nur vertreten, wer das Naturrecht leugnet, folgerichtig muss man dann auch die natürlichen Rechte des Menschen, seine unverlierbare Befugnis, die Pflichten gegen Gott zu erfüllen, leugnen, und folgerichtig gelangt man dann schließlich zur Preisgabe des Rechtes der Persönlichkeit,d ie rücksichtslos an den allmächtigen Staat ausgeliefert wird. Im einzelnen sind folgende Grundsätze nach christlicher Auffassung maßgebend.
Zu Unmöglichem kann niemand verpflichten
1. Ein physisch oder moralisch unmögliches Gesetz verpflichtet als wider Vernunft und Gemeinwohl verstoßende Anordnung nicht, ad impossibile nemo tenetur, zu Unmöglichem kann niemand verpflichten. Ist aber das Objekt der gesetzlichen Leistung teilbar (materia divisibilis) wie etwa bei einer Restitution, so hat die Teilleistung zu erfolgen; doch besteht die Pflicht der Teilleistung nur, wenn sich diese wirklich als Erfüllung, wenngleich nur teilweise Erfüllung des Gesetzes darstellt, partizipiert die Teilleistung nicht erkennbar am Wesen der Gebotserfüllung oder, was dasselbe besagt, trägt sie zur Erreichung des Gebotszweckes nur in unerheblichem Maße bei, so besteht keinerlei Pflicht; ist es also unmöglich, der Sonntagspflicht zu genügen und nur möglich, den Gang zur Kirche zu machen und einen kleinen Bruchteil der heiligen Messe mitzufeiern, so zessiert (= wegfällt) die betreffende Verpflichtung gänzlich.
Dem unsittlichen Gesetz passiven Widerstand leisten
2. Gegenüber dem sittlich verwerflichen Gesetz gilt Apg. 5, 29: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Augustinus, Ep. 105, 2, 7. Leo XIII., Enc. Sapientiae christ. v. 10.1.1890) Dem Befehl gegenüber, das unsittliche Gesetz zu erfüllen, ist passiver Widerstand zu leisten, man hat, wie die Märtyrer getan, sich beharrlich zu weigern, das Gesetz zu erfüllen, mag auch dem ungerechten Befehl die ungerechte Gewaltanwendung folgen; aktiver Widerstand wäre nur innerhalb der gesetzlichen Grenzen statthaft, doch kann das hiermit angedeutete natürliche Recht den einzelnen nicht etwas durch Gesetz völlig entzogen, sondern nur im Interesse des Gemeinwohles entsprechend eingeschränkt werden; übrigens rechnen manche diesen aktiven Widerstand innerhalb der verfassungsmäßig bestimmten Grenzen zum passiven Widerstand und beschränken den begriff des „aktiven“ Widerstandes auf den widerrechtlich geleisteten Widerstand. Nichts gemein hat die dargelegte christliche Denkweise mit der Auffassung von Wiclif und Hus, als sei dem sündhaften Oberen der Gehorsam zu verweigern. (Denz. n. 595. 656.) Stets hat die Kirche und die katholische Moral an dem Apg. 5, 29 und 4, 19 ausgesprochenen Grundsatz treu festgehalten…
Keine Pflicht des Gehorsams bei Überschreitung der Kompetenz des Gesetzgebers
3. Ungerecht im engeren Sinne ist ein Gesetz, wenn es durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl nicht gefordert wird und somit die persönliche Freiheit ungebührlich beschränkt, ferner wenn der Gesetzgeber seine Kompetenz überschritten oder die Lasten unbillig verteilt hat. An sich besteht in diesen Fällen für die Untertanen keine Pflicht, das Gesetz zu beobachten, ein solches Gesetz verpflichtet nicht im gewissen, außer etwa wegen des zu vermeidenden Ärgernisses oder zu befürchtenden Verwirrung (S. th. 1, 2, q. 96, a. 4; vgl. Matth. 5, 40f). Näherhin ist zu sagen: in gewissen Fällen darf man das ungerechte Gesetz erfüllen, in anderen darf man es nicht erfüllen und wieder in anderen muss man es erfüllen. Man darf das ungerechte Gesetz erfüllen, wenn es sich lediglich darum handelt, daß man auf das eigene Recht Verzicht leistet, wenn demgemäß irgend welche Pflichten nicht verletzt werden; man muss es erfüllen, wenn sonst höhere Interessen gefährdet würden, also die Gefahr des Ärgernisses oder die Gefahr des Aufruhrs gegeben wäre; man darf es nicht erfüllen, wenn durch die Erfüllung etwa die Gefahr schweren Ärgernisses herbei geführt würde. Auch angesichts eines ungerechten Gesetzes ist außer dem passiven aktiver Widerstand zulässig, wenn nur die gesetzlichen Schranken beachtet werden, gemeint sind die Mittel der Appellation und Remonstration, die Benützung des Rechtes der Vereinigung, die Benützung der Presse; daß in unruhigen Zeiten beispielsweise das Versammlungsrecht mit Rücksicht auf das Gemeinwohl von der Regierung eingeschränkt werden darf, ist nicht zu bezweifeln, jedoch ist die Regierung nicht befugt, jenes Recht weiter einzuschränken, als eben durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl geboten wird, noch weniger kann die Regierung die aufgezählten Mittel des aktiven Widerstandes einfachhin beseitigen. Ginge jedoch der Widerstand oder die Agitation über die von der Verfassung gezogenen, vernünftig bestimmten grenzen hinaus, so wäre solches Verhalten als sündhaft anzusehen.
Es gibt kein Recht auf Revolution
Ein Recht der Revolution, der verfassungswidrigen gewaltsamen Erhebung gegen die rechtmäßige Obrigkeit, gibt es nach christlicher Auffassung nicht. Die Revolution im angedeuteten Sinn erscheint vielmehr als eigenmächtiger Eingriff in göttlich sanktionierte Rechte (Röm. 13, 2) (Denz. n. 1763.)
Das Volk kann sich durch Einschränkung der staatlichen Machtbefugnisse schützen
Thomas von Aquin erinnert an die Mahnung des Apostels Petrus, auch harten Herren sich zu fügen (1. Petr. 2, 18), und er läßt gegen den zum Tyrannen gewordenen Herrscher nur autoritatives Vorgehen zu (auctoritate publica procedendum). Besitzt das Volk das Recht, den Herrscher zu wählen, alsdann kann sich das Volk nach der Lehre des heiligen Thomas im Notfall selbst schützen, nämlich durch Einschränkung der Machtbefugnisse des Herrschers oder sogar, im äußersten Fall, durch Absetzung des Regenten, denn hier gilt: Treue um Treue; hält der Herrscher sich nicht an den Vertrag, so ist auch das Volk seiner Verpflichtung enthoben. Hat ein Oberherr das Recht, den Herrscher zu bestimmen, alsdann hat man sich an diesen Oberherrn zu wenden. Darüber hinaus hat das Volk keinerlei Recht, es bleibt ihm nur übrig, zum Gebet die Zuflucht zu nehmen (De reg. Princ. 1, 6) Ähnlich sieht schon Theodoret von Cyrus das Mittel der Abhilfe in Gebet und Sinnesänderung, und nicht anders urteilt die christliche Tradition im übrigen. Derselben Überzeugung gibt Leo XIII. klaren Ausdruck; er betont, daß die Kirche die Völker zum Gehorsam gegen die Herrscher erziehe (vgl. Augustinus, De moribus eccl. 1, 30), er zeigt, wie die Christen in den Zeiten der Verfolgung durch die römischen Kaiser nie daran gedacht, Aufruhr zu stiften, ja auch nur Widerstand zu leisten, abgesehen von der Weigerung, die unsittlichen Erlasse der Kaiser zu erfüllen, und er stellt fest, die Menschen haben nur einen Grund, nicht zu gehorchen, wenn nämlich von ihnen gefordert wird, was dem natürlichen oder göttlichen Gesetz offenkundig zuwider ist. (Enc. Diuturnum illud v. 29.6.1881) –
aus: Otto Schilling, Lehrbuch der Moraltheologie, I. Band: Allgemeine Moraltheologie, 1927, S. 129 – S. 133