Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Epikie
Epikie (Billigkeit) heißt in der Moral die auf Gründen der Vernunft beruhende Annahme, daß ein Gesetz in einem speziellen Fall wegen besonderer Umstände nicht verbindlich sei. Der Gesetzgeber kann nämlich nie alle Fälle des vielgestaltigen Lebens vorsehen und muss seine Anordnungen immer nur den mehr oder weniger gewöhnlichen anpassen; treten nun ganz besondere Umstände ein, welche die Beobachtung des Gesetzes offenbar schädlich oder doch für den Untergebenen allzu hart machen würden, so hat das Gesetz für diesen Fall keine Kraft, und die darin vorgezeichnete Handlung ist als unerlaubt oder doch als nicht geboten anzusehen (S. Thom. 2, 2, q. 120). Wenn z. B. Das Gesetz allgemein anordnet, daß das Deponierte dem Eigentümer auf sein Verlangen zurück gegeben werde, so wäre die Beobachtung desselben schädlich, falls ein Rasender oder ein Landesverräter das deponierte Schwert zurück verlangen würde; und wenn das mosaische Gesetz (Lev. 24) allgemein anordnete, daß die Schaubrote nur von Priestern gegessen werden dürfen, so wäre die Beobachtung desselben für David in seinem Notstand (1. Sam. 21) allzu hart gewesen. Das Deponierte darf also in dem genannten Fall nicht zurück gegeben werden (S. Thom. 1. c), und David wird von Christus selbst gerechtfertigt, wenn er dergleichen Brote aß (Mark. 2, 25f).
Die Epikie unterscheidet sich von der Dispens darin, daß diese eine Ausfluss der obrigkeitlichen Gewalt, jene ein Urteil des Untergebenen ist, von der eigentlichen Auslegung des Gesetzes aber darin, daß diese das Gesetz, vielleicht wohl auch im Hinblick auf die Absicht des Gesetzgebers, jene hingegen lediglich die Absicht des Gesetzgebers, nicht das Gesetz, deutet (Reiffenstuel, Theologia moralis, Bassani 1773, I, 91). Wir sagen: von der eigentlichen Auslegung; denn die Gesetzesauslegung im weiteren Sinne begreift die Epikie als Species in sich. Bei irritierenden Gesetzen ist die Epikie nach der Lehre der meisten Moralisten nie statthaft, bei anderen menschlichen Gesetzen hingegen nicht selten. Kirche und Staat gehen von dem Grundsatz aus: In omnibus causis potior debet esse ratio eaquitatis quam stricti juris (L. 8, Cod. De Judiciis 3, 1). Auch bei positiv göttlichen Gesetzen des Neuen Testamentes ist sie zuweilen statthaft, z. B. In Betreff des Empfanges der Sakramente, der Vollständigkeit der sakramentalischen Beichte etc. Das Naturgesetz verliert hingegen freilich seine Kraft nie; indessen kann doch auch bei demselben insofern der Epikie Raum gegeben werden, als eine Regel, die überhaupt dem Naturgesetz entspricht, in einem besonderen Fall durch eine höhere Regel desselben Gesetzes außer Wirksamkeit gesetzt wird. Was die wirkliche Anwendung der Epikie betrifft, so ist dieselbe nicht erlaubt, wenn der rechtmäßige Obere um seine Willensmeinung gefragt werden kann (S. Thom. 2, 1, q. 96, a. 6); ist eine solche Aufgabe nicht möglich, so wird der Gewissenhafte, besonders in wichtigen Angelegenheiten, nie ohne das zustimmende Gutachten weiser und frommer Menschen sich wegen der mit der Beobachtung verbundenen Schwierigkeiten von dem Gesetz entbunden erachten. Jedenfalls liegt es im Begriff der Epikie, daß der Beobachtung des Gesetzes besondere, also außerordentliche Bedenken oder Schwierigkeiten entgegen stehen müssen; und diese außerordentlichen Bedenken oder Schwierigkeiten müssen u so größer sein, je wichtiger das Gesetz an sich ist, und je unverbrüchlicher der Gesetzgeber im Allgemeinen an demselben festhält. Überhaupt muss die Anwendung der Epikie von dem Grundsatz geleitet werden, daß sie, wie der hl. Thomas sagt (2,2, q. 120), nicht eine Verletzung der Gerechtigkeit, sondern nur eine höhere Gerechtigkeit sei. –
aus: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 4, 1886, Sp. 684 – Sp. 686