Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Lavigerie
Lavigerie, Charles Martial Allemand, Kardinal (seit 1882), * 31.10.1825 zu Huire bei Bayonne, † 25.11.1892 zu Algier. 1850 mit den Thesen de Hegesippo un d Essai sur l’ecole chrét. d’Edesse zum Doktor promoviert, erhielt er 1854 in Paris die Professur für Kirchengeschichte. Als Frucht seiner kurzen, mehr dem Praktischen zugewandten Lehrtätigkeit erschienen: Exposé des erreus doctrinales du Jansénisme (Paris 1858) und Histoire abrégée de l’Eglise (ebd. 1864). 1861 wurde er Uditore der Rota in Rom, 1863 als Nachfolger von Darboy Bischof von Nancy, wo er die Diözesanverwaltung und das kirchliche Erziehungswesen umgestaltete.
Allein Sorbonne, Rota und Nancy waren ein zu enges Arbeitsfeld für diese an Fähigkeiten, Plänen und Interessen überreiche Herrscher- und Eroberer-Natur mit dem sprühenden, mitunter heftigen Temperament und dem unbändigen Tatwillen („die Ewigkeit ist lang genug, um auszuruhen“), dem Organisationsgenie und dem Blick fürs Reale und Erreichbare. Schon als Direktor (seit 1856) und eigentlicher Organisator des Œuvre des Ecoles d’Orient und durch seine Reise im Dienst der Caritas nach Syrien 1860 anläßlich des Drusenaufstands, über die er 1861 in Buchform berichtete, war er auf die Mission an der mohammedanischen Welt hingewiesen worden. 1867 wurde er Erzbischof von Algier auf Vorschlag des Gen.-Gouverneurs, des Marschalls Mac Mahon. In baldigem Konflikt mit ihm und gegen die Regierungspolitik, die ein unter dem Gesetz des Korans bleibendes, von Zivilisation unberührtes arabisches Königreich, d. h. nur die militärische Okkupation, aber keine innere Assimilation, am wenigsten die Missionierung wollte, forderte Lavigerie größere politische, wirtschaftliche und religiöse Freiheiten.
Großzügig begann er das indirekte Apostolat an den Eingeborenen durch fürsorgerische Maßnahmen, Kindererziehung, Kranken- und Waisenhäuser, ja durch Bau christlicher Araberdörfer. Hierfür gründete er1868 die Weißen Väter, 1869 die Weißen Schwestern, ferner die Frères und Sœurs agricoles. Bald richtete er seine Ziele und Missionare auch tief in die Wüste (1868 Apost. Delegat der Sahara) bis zum Sudan und stellte für die Negermission ausgezeichnete, z. T. noch heute geübte Regeln auf; enthalten in den als Mskr. in Maison-Carrée 1927 gedruckten Instructions du Card. L. À ses missionaires (…). Seit 1879 führte er gegen die Sklaverei einen siegreichen Feldzug (vgl. seine Schrift Esclavage africain, 1891); er reiste 1888 in die europäischen Hauptstädte, regte eine päpstliche Enzyklika an, gründete das Œuvre anti-esclavagiste (die Dokumente hierfür von ihm 1890 hrsg.) und gab die Veranlassung zur Brüsseler Konferenz von 1889/90; die freiwillige Frères armés aber, halb Orden und halb Militär, die er gegen die Sklavenhändler in die Sahara sandte, musste er 1892 auflösen, weil die Regierung aus diplomatischen Befürchtungen die Unterstützung einstellte.
Inzwischen war 1880 sein apostolischer und patriotischer Eifer auch nach Tunis vorgestoßen, Lavigerie 1884 unter Beibehaltung des Sitzes von Algier Erzbischof von Karthago und Primas von Afrika geworden. Gleichsam aus nichts schuf er den Sprengel des hl. Cyprian neu, versorgte ihn mit Welt- und Ordensgeistlichen, errichtete z. T. mit staatlichen Geldern (Gambetta an Lavigerie: „Der Antiklerikalismus ist kein Ausfuhrartikel“) Gotteshäuser, kirchliche Anstalten und Klöster, baute in Karthago Kathedrale (hier sein Grab), Bischofspalais und archäologisches Museum.
Mit Grund nennen die Franzosen Lavigerie, den Wegbereiter ihrer „friedlichen Durchdringung“ Nordafrikas, den „großen Afrikaner“. Dabei spielte er zeitlebens auch in Frankreich eine führende Rolle, zuerst im Lager der “liberalen“ Katholiken, die sich mit den neuen politischen und sozialen Ideen abzufinden suchten, seit 1869 aber bei den „Ultramontanen“ an der Seite L. Veuillots gegen den Liberalismus, der Schwäche und Indifferentismus bedeute und zum religiösen, moralischen, philosophischen und staatlichen Ruin führe. Gegen die 3. Republik arbeitete er bis 1874 für eine parlamentarische Monarchie des Grafen Heinrich V. v. Chambord. Ständig lag er im Gefecht mit dem wachsend kirchenfeindlichen Regierungskurs.
Seit ca. 1880 nahm er unter Leos XIII. Einfluss die neue Staatsform als gegeben hin und forderte auf Anregung des Papstes in dem berühmten Toast von Algier 12.11.1890 die Katholiken zur Aussöhnung mit der Republik (ralliemant) und zur Sammlung (union sacrée) auf, was allerdings neue Zweiungen wach rief und ihm heftige Angriffe selbst aus dem Episkopat eintrug, die seinen Lebensabend verbitterten. (vgl. L. Baunard, Léon XIII. et le toast d’Algier, Paris 1914) Auf dem Vatikanischen Konzil verteidigte Lavigerie die Opportunität der Unfehlbarkeits-Erklärung; nur sollte sie nicht vom Papst, sondern vom Konzilsgremium aus erfolgen in Form authentischer Interpretation der Unionsbulle von Florenz.
1873 hielt er in Algier ein afrikanisches Konzil, das erste seit der arabischen Eroberung, ein Bekenntnis zum Syllabus. 1878 übernahm er für seine Weißen Väter die Annakirche in Jerusalem und richtete daran ein Seminar für Gräcomelchiten ein (vgl. HistPolBl 1911 II, 801/22). Lebendig und schlagfertig als Redner, erwies er sich auch als Meister des geschriebenen Wortes, namentlich ins einen zahlreichen Hirten- und Missionsschreiben. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VI, 1934, S. 428 – S. 429