Pius XII. Bulle „Munificentissimus Deus“ Mariä Himmelfahrt
vom 1. November 1950
Auszug Teil III
Zeugnisse der Theologen
Scholastische Theologen und Kanzelredner
568 Unter den scholastischen Theologen, die es als ihre Aufgabe betrachteten, in die von Gott geoffenbarten Wahrheiten tiefer einzudringen und die Übereinstimmung zwischen dem theologischen Denken und dem katholischen Glauben aufzuzeigen, fehlte es nicht an solchen, die darauf hinweisen, wie wunderbar der Gnadenvorzug der Aufnahme der Jungfrau Maria in den Himmel übereinstimme mit den von Gott geoffenbarten Lehren, die uns die Heilige Schrift überliefert.
Von diesen Überlegungen ausgehend, brachten sie mancherlei Gründe vor, um diesen Gnadenvorzug Marias zu erläutern. Dabei war der Grundgedanke ungefähr folgender: Jesus Christus wollte, gemäß seiner kindlichen Liebe zur Mutter, dass sie in den Himmel aufgenommen werde. Die Beweiskraft all ihrer Gründe fanden sie in der unvergleichlichen Würde der Gottesmutterschaft und in all den Gaben, die daraus folgen: ihrer hervorragenden Heiligkeit, durch die sie alle Menschen und Engel überragt; ihrer engen Verbindung mit ihrem Sohn und vor allem in der innigen Liebe, womit der Sohn seiner ehrwürdigen Mutter zugetan war.
569 Ferner finden sich zahlreiche Theologen und Prediger, die nach dem Vorbild der heiligen Väter [Vgl. Johannes Damsc., Encomium in Dormitionen Dei Genitricis semperque Virginis Mariae, hom. II 2,11. PG 96, 723. Encomium in Dormitionem (dem heiligen Modestus von Jerusalem zugeschrieben). PG 86, 3287-3290] Ereignisse und Worte der Heiligen Schrift mit einer gewissen Freiheit heranziehen, um ihren Glauben an die Aufnahme Marias in den Himmel zu erläutern. So, um nur einige der am häufigsten gebrauchten Schriftstellen zu nennen, führen sie das Psalmwort an: Erhebe dich, o Herr, zu deiner Ruhestatt, du und deine heilige Lade! [Ps. 131,8] Dabei sehen sie in der Bundeslade, die aus unverweslichem Holz gefertigt und im Tempel Gottes aufgestellt war, ein Bild des reinen Leibes der Jungfrau Maria, der, frei von aller Verwesung des Grabes, im Himmel zu so großer Herrlichkeit erhöht wurde. In der gleichen Weise schildern sie die Königin, die im Triumph in den Königspalast einzieht und zur Rechten des göttlichen Erlösers thront [Vgl. Ps. 44,10, 14-16]. Andere weisen auf die Braut des Hohenliedes hin, die heraufsteigt von der Wüste wie eine Rauchsäule, umduftet von Myrrhe und Weihrauch, um mit der Krone geschmückt zu werden [Hohes Lied III 6; vgl. IV 8, VI 9]. Diese Vergleiche werden von ihnen als Bilder jener himmlischen Königin und Braut verwendet, die zusammen mit ihrem göttlichen Bräutigam zum Palast des Himmels emporsteigt.
570 Die Lehrer der Scholastik sahen nicht nur in manchen Bildern des Alten Testamentes die Aufnahme der jungfräulichen Gottesmutter in den Himmel ausgedrückt, sondern auch in der sonnenbekleideten Frau, die der Apostel Johannes auf der Insel Patmos schaute [Vgl. Geh. Offb. 12,1-17]. Ebenso schenkten sie unter den Stellen des Neuen Testamentes besondere Aufmerksamkeit den Worten: Gegrüßet seist du, voll der Gnade: der Herr ist mit dir; gebenedeit bist du unter den Frauen [Luk. 1,28], da sie in dem Geheimnis der Aufnahme Marias die Vollendung der Gnadenfülle, die der Allerseligsten Jungfrau zuteil geworden war, und einen besonderen Segen im Gegensatz zu dem Fluch über Eva sahen.
571 Aus diesen Gründen erklärt zu Beginn der scholastischen Theologie der fromme Amadeus, Bischof von Lausanne, der Leib der Gottesmutter sei unverwest geblieben: man darf nicht glauben, ihr Leib habe die Verwesung gesehen, da er doch in Wahrheit mit ihrer Seele wiedervereinigt und zusammen mit ihr im Himmel erhabener Herrlichkeit teilhaftig geworden ist. «Denn sie war voll der Gnade und gebenedeit unter den Frauen [Vgl. Luk. 1,28]. Sie allein war würdig, den wahren Gott vom wahren Gott zu empfangen; sie hat ihn als Jungfrau geboren, als Jungfrau genährt, sie hielt ihn auf ihrem Schoße und diente ihm in allem mit ehrfurchtsvoller Hingabe». [Amadeus von Lausanne, De Beatae Virginis obitu, Assumptione in Caelum, exaltatione ad Filii decteram. PL 188, 1337]
572 Unter den heiligen Schriftstellern, die damals mit Worten der Heiligen Schrift und mancherlei Vergleichen oder Gleichnissen den frommen Glauben an die Aufnahme Marias in den Himmel erläuterten, nimmt der Doctor Evangelicus, der heilige Antonius von Padua, einen hervorragenden Platz ein. Auf das Fest Mariä Himmelfahrt bezieht er die Worte des Propheten Isaias: Den Schemel meiner Füße werde ich verherrlichen [Is. 60,13], und versichert mit großer Bestimmtheit, der göttliche Erlöser habe seine geliebte Mutter, aus der er Fleisch angenommen hatte, mit höchster Herrlichkeit ausgestattet. «Hier ist es klar ausgesprochen», sagt er, «daß die Allerseligste Jungfrau dem Leibe nach, welcher der Schemel der Füße des Herrn war, in den Himmel aufgenommen wurde». Daher schreibt der Psalmist: Erhebe dich, o Herr, zu deiner Ruhestatt, du und deine heilige Lade! [Ps. 131,8] Wie Jesus Christus, so erklärt er, kraft seines Sieges über den Tod auferstanden ist und auffuhr zur Rechten Gottes, «so erhob sich auch seine heilige Lade, als am heutigen Tag die jungfräuliche Mutter in den himmlischen Palast aufgenommen wurde» [Antonius von Padua, Sermones dominicales et in solemnitatibus. In Assumptione S. Mariae Virginis sermo].
573 In der Blütezeit der scholastischen Theologie des Mittelalters führt der heilige Albert der Große zum Beweise dieser Wahrheit eine Reihe von Gründen an, die sich auf die Heilige Schrift, die Tradition, die Liturgie und das sog. theologische Beweisverfahren stützen, um dann zu schließen: «Auf Grund dieser und vieler anderer Schlussfolgerungen und Autoritäten ergibt sich, dass die Allerseligste Gottesmutter mit Leib und Seele über die Chöre der Engel erhoben wurde. Und dies halten wir unbedingt für wahr» [Albertus Magnus, Mariale, sive quaestiones super Evang. Missus est, q. 132]. In einer Predigt auf Mariä Verkündigung, in der er den Gruß des Engels erklärte: Sei gegrüßt, du Gnadenvolle.., verglich der Doctor Universalis Eva mit der heiligsten Jungfrau und versicherte auf das bestimmteste, Maria sei von dem vierfachen Fluch ausgenommen, dem Eva verfallen war [Vgl. Albertus Magnus, Sermones de sanctis, sermo XV: In Annuntiatione B. Mariae. Vgl. auch Mariale, q. 132].
574 Der Doctor Angelicus folgte den Spuren seines großen Meisters. Er hat zwar diese Frage niemals ausdrücklich behandelt; sooft er sie aber bei gegebener Gelegenheit berührt, steht er ohne Schwanken zur Lehre der katholischen Kirche, daß mit der Seele der Gottesmutter auch ihr Leib in den Himmel aufgenommen wurde. [Vgl. Thomas von Aquin, Sum. Theol. III. q. 27 a. 1; q. 83 a. 5 ad 8; Expositio salutationis angelicae; In symbol. Apostolorum expositio, a. 5; In IV Sent. D. 12 q. 1 a. 3 sol. 3; D. 43 q. 1 a. 3 sol. 1 u. 2]
575 Der gleichen Ansicht ist mit vielen anderen auch der Doctor Seraphicus. Er hält es für ganz sicher, daß Gott, wie er die Allerseligste Jungfrau, als sie den Herrn empfing und als sie ihn gebar, vor jeder Verletzung ihrer jungfräulichen Reinheit und Unversehrtheit bewahrte, so auch nicht zugegeben habe, daß ihr Leib in Verwesung und Staub zerfalle [Vgl. Bonaventura, De nativitate B. Mariae Virginis, sermo V.]. Die Worte der Heiligen Schrift erläuternd: Wer ist die, welche heraufsteigt aus der Wüste, überströmend von Wonne, auf ihren Geliebten gestützt? [Hohes Lied VIII 5], wendet er sie in übertragenem Sinn auf die Allerseligste Jungfrau an und folgert: «Darum kann man gewiss sein, daß sie dem Leibe nach droben ist… Ihre Glückseligkeit würde nämlich nicht vollkommen sein, wenn sie nicht als Person dort wäre; Person ist aber nicht die Seele allein, sondern Leib und Seele in ihrer Vereinigung. So ist also klar, daß sie in der Vereinigung von Leib und Seele droben ist. Sonst genösse sie nicht die Seligkeit in vollem Maße». [Bonaventura, De Assumptione B. Mariae Virginis, sermo I]
576 In der Spätscholastik, im 15. Jahrhundert, fasste der heilige Bernardin von Siena alles zusammen, was die mittelalterlichen Theologen über die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel ausgesagt und erörtert hatten, und erwog es mit großer Sorgfalt. Dabei begnügte er sich nicht damit, die Hauptgedanken der vorausgegangenen Periode darzulegen, sondern fügte noch weitere hinzu. Die Ähnlichkeit der Gottesmutter an Adel und Würde des Geistes und des Leibes mit ihrem göttlichen Sohne – eine Ähnlichkeit, die uns verbiete, auch nur zu denken, daß die himmlische Königin vom himmlischen König getrennt sein könne – verlange durchaus, daß «Maria nur da sein dürfe, wo Christus ist» [Bernhardin von Siena, I Assumptione B. Mariae Virginis, sermo II]. Auch sei es vernunftgemäß und angemessen, daß, wie ein Mann, so auch eine Frau mit Leib und Seele die Herrlichkeit des Himmels schon jetzt erlangt habe. Schließlich sei auch die Tatsache, daß die Kirche niemals Reliquien der Gottesmutter gesucht und dem Volke zur Verehrung vorgelegt habe, ein Beweis, den man «gewissermaßen einen Erfahrungsbeweis» [Bernhardin von Siena, 1. c] nennen könne.
Neuere kirchliche Schriftsteller
577 In der neueren Zeit waren die angeführten Gedanken der heiligen Väter und der Theologen gang und gäbe: Der heilige Robert Bellarmin macht sich die einheitliche christliche Ansicht der Vergangenheit zu eigen und ruft aus: «Wer könnte wohl, frage ich, glauben, daß die heilige Bundeslade, die Wohnung des Wortes Gottes, der Tempel des Heiligen Geistes, zusammengebrochen sei? Mich schaudert, auch nur zu denken, daß der jungfräuliche Leib, in dem Gott Fleisch wurde, der Gott geboren, genährt und gehegt hat, in Staub verwandelt oder den Würmern zur Nahrung überlassen wurde». [Robertus Bellarmin, Contiones habitae Lovanii, contio XL; De Assumptione B. Mariae Virginis]
Auch der heilige Franz von Sales versichert, man dürfe nicht daran zweifeln, daß Jesus Christus das göttliche Gebot, das den Kindern befiehlt, ihre Eltern zu ehren, aufs vollkommenste erfüllt habe, und legt sich die Frage vor: «Welcher Sohn würde, wenn er könnte, seine Mutter nicht wieder ins Leben zurückrufen und nach ihrem Tod in das Paradies führen?» [Franz von Sales, Handschriftliche Predigt zum Fest Mariä Himmelfahrt, Œuvres complètes, édit. Annecy 1896. Bd. VII, Sermons, vol. 1, S. 454] Und der heilige Alfons schreibt: «Jesus wollte nicht, daß der Leib Marias nach dem Tode verwese, da es für ihn eine Schmach gewesen wäre, wenn der jungfräuliche Leib, aus dem er selbst Fleisch angenommen hatte, die Verwesung erduldet hätte». [Alphonsus von Liguori, Le glorie di Maria, part. II, disc. 1]
578 So war das Festgeheimnis in voller Kraft dargelegt, und es fehlte nicht an Lehrern, die jetzt nicht so sehr die theologischen Billigkeitsgründe für die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel erörterten, sondern ihre Aufmerksamkeit unmittelbar dem Glauben der Kirche zuwandten, der mystischen Braut Christi, die nicht Makel noch Runzel [Vgl. Eph. 5,27] hat und vom Apostel Säule und Grundfeste der Wahrheit [1. Tim. 3,15] genannt wird. Gestützt auf diesen übereinstimmenden Glauben, betrachteten sie die entgegengesetzte Ansicht als verwegen, um nicht zu sagen häretisch. Der heilige Petrus Canisius erklärte, ebenso wie viele andere: das Wort Aufnahme bedeute nicht bloß die Verherrlichung der Seele, sondern auch die des Leibes, und schon seit vielen Jahrhunderten verehre und feiere die Kirche dieses Geheimnis der Aufnahme Marias. Dann bemerkt er: «Diese Ansicht ist schon seit einigen Jahrhunderten in Kraft und Geltung; sie ist so im Geist der Gläubigen verankert und von der ganzen Kirche derart gutgeheißen, daß diejenigen, die leugnen, Maria sei dem Leibe nach in den Himmel aufgenommen, nicht einmal mit Geduld angehört, sondern als übermäßig streitsüchtig, allzu verwegen und mehr von häretischem als katholischem Geist geleitet, allüberall verspottet werden». [Petrus Canisius, De Maria Virgine incomparabili et Dei Genitrice sacrosancta libri quinque, lib. V, cap. 5. David Sartorius, Ingolstadt 1577, S. 56]
Gleichzeitig stellt Suarez, der Doctor Eximius, für die Mariologie den Grundsatz auf, «man dürfe die Geheimnisse der Gnade, die Gott in der Jungfrau gewirkt habe, nicht nach den gewöhnlichen Gesetzen bemessen, sondern nach der Allmacht Gottes, vorausgesetzt sei nur, daß die Sache sich schicke und die Heilige Schrift nicht irgendwie widerspreche oder entgegenstehe» [F. Suarez, In tertiam partem D. Thomae, q. 47 a. 2 D. 3, sec. 5 n. 31]. Gestützt auf den einmütigen Glauben der Kirche, konnte er den Schluß ziehen, das Geheimnis der Aufnahme Marias in den Himmel sei ebenso fest zu glauben wie das der Unbefleckten Empfängnis; und er war schon damals der Ansicht, diese beiden Wahrheiten könnten als Glaubenssätze definiert werden.
Grundlegung in der Heiligen Schrift
579 Alle diese Beweise und Erwägungen der heiligen Väter und der Theologen stützen sich letzten Endes auf die Heilige Schrift. Diese stellt uns die hehre Gottesmutter als aufs engste mit ihrem göttlichen Sohne verbunden und sein Los immer teilend vor Augen. Daher scheint es unmöglich, sie nach diesem irdischen Leben, wenn nicht der Seele, so doch dem Leibe nach von Christus getrennt zu denken, sie, die Christus empfangen, geboren, an ihrer Brust genährt, ihn in den Armen getragen und an ihr Herz gedrückt hat. Weil nun unser Erlöser der Sohn Marias ist, musste er, der vollkommenste Beobachter des Gesetzes, in der Tat wie den Vater, so auch seine liebe Mutter ehren. Da er ihr die große Ehre erweisen konnte, sie vor der Verwesung des Todes zu bewahren, muss man also glauben, dass er es wirklich getan hat.
Ganz besonders ist aber darauf hinzuweisen, daß von den heiligen Vätern schon seit dem zweiten Jahrhundert Maria als die neue Eva hingestellt wird, die mit dem neuen Adam, wenn auch in Unterordnung unter ihn, aufs engste im Kampf gegen den höllischen Feind verbunden war. Dieser Kampf musste, wie es im Proto-Evangelium [Vgl. Gen. 3,15] vorausgesagt ist, zum völligen Sieg über Sünde und Tod, die in den Schriften des Völkerapostels beide immer miteinander verknüpft erscheinen, führen [Vgl. Röm. 5 und 6; 1. Kor. 15, 21-26, 54-57]. Wie daher die glorreiche Auferstehung Christi ein wesentlicher Teil und das letzte Wahrzeichen des Sieges ist, so musste auch der von Maria gemeinsam mit ihrem Sohn geführte Kampf mit der Verherrlichung ihres jungfräulichen Leibes abschließen; denn, so sagt gleichfalls der Apostel, wenn der sterbliche Leib die Unsterblichkeit anzieht, dann wird sich das Wort erfüllen, das geschrieben steht: Verschlungen ist der Tod im Sieg. [1. Kor. 15,54]
Die Krone aller Gnadenvorzüge Marias
580 Die erhabene Gottesmutter, die mit Jesus Christus von aller Ewigkeit her «durch ein und dasselbe Dekret» [Pius IX., Bulle Ineffabilis Deus zur Glaubensverkündigung der Unbefleckten Empfängnis. Pii IX Acta, pars Ia, p. 599, Tyyp Bonarum Artium. Vgl. HK Nr. 513] der Vorherbestimmung in geheimnisvoller Weise verbunden war; sie, die unbefleckt war in ihrer Empfängnis, die in ihrer Gottesmutterschaft unversehrte Jungfrau blieb, sie, die hochherzige Gehilfin des göttlichen Erlösers, der über die Sünde und ihre Folgen den vollen Sieg errungen hat: sie erhielt als herrliche Krone all ihrer Ehrenvorzüge, dass sie von der Verwesung im Grab verschont blieb und wie ihr Sohn nach dem Sieg über den Tod mit Leib und Seele in die Herrlichkeit des Himmels aufgenommen wurde, um dort zur Rechten ihres Sohnes, des unsterblichen Königs der Ewigkeit [Vgl. 1. Tim. 1,17], als Königin zu erstrahlen. –
aus: Anton Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., 1953, S. 338 – S. 345