Seligsprechung Maria Goretti 1947

Hut, bischöflicher Krummstab, Kleidungsstücke eines Papstes

Porträt von Pius XII. in seiner päpstlichen Kleidung, ernst schaut er mit seiner Brille

Seligsprechung der kleinen Maria Goretti

Ansprache Papst Pius XII. vom 28. April 1947

CON VIVA COMMOZIONE

AAS XXXIX (1947) 353-358
Auszüge

Maria Goretti: eine Agnes des 20. Jahrhunderts

1172 … Maria Goretti, die im jugendlichen Alter von zwölf Jahren diese Erde verlassen musste, ist eine reife Frucht des christlichen Heimes, wo man betet, wo die Kinder in der Gottesfurcht, zum Gehorsam gegenüber den Eltern, zur Wahrheitsliebe, zur Schamhaftigkeit und Reinheit erzogen werden; wo sie sich von Kindheit an daran gewöhnen, sich mit wenigem zu begnügen und frühzeitig in Haus und Hof behilflich zu sein, wo die natürlichen Lebensbedingungen und die religiöse Atmosphäre, welche die Kinder umgibt, so stark zusammen wirken, daß diese mit Christus ganz eins werden und in seiner Gnade heran wachsen. Wie einfach ist doch diese alte Erziehungsmethode, die durch nichts ersetzt werden kann! Gibt man sie auf, so schwinden Wohlfahrt und Glück der Familie dahin. Du liebe Selige, leg Fürbitte ein bei Gott, damit diese Güter, denen du selber so viel verdankst, der Jugend und dem Volk erhalten bleiben!
Maria Gorettis Gestalt und Geschichte hat allen sogleich eine andere Begebenheit und eine andere Gestalt in Erinnerung gerufen: die heilige Agnes. Das Antlitz der römischen Märtyrerin und jenes des Mädchens von Corinaldo strahlen denselben Zauber aus; die Herzen beider verbreiten denselben Wohlgeruch. Vielleicht ist jedoch zu befürchten, daß die Anmut und zarte Unschuld dieser zwei Mädchen mehr das künstlerische und literarische Empfinden anregen, die allzu sehr an der Oberfläche haften und zu natürlich sind, und daher ihre charakteristische Tugend, den Starkmut, etwas in den Hintergrund drängen; den Starkmut der Märtyrerin, den ihre Jugend in ein viel helleres und strahlenderes Licht rückt, den Starkmut, der zugleich Schutzwehr und Frucht der Jungfräulichkeit ist.

Reinheit setzt Starkmut voraus

1173 Es ist ein großer Irrtum, für die Jungfräulichkeit nicht mehr als ein mitleidiges Lächeln übrig zu haben, weil man sie als eine Auswirkung der Unwissenheit und der Naivität kleiner, leidenschaftsloser Seelen hält, die kein Temperament und noch keine Erfahrung haben. Wie will denn ein Mensch, der sich kampflos ergeben hat, eine Vorstellung davon haben, wieviel Starkmut erfordert ist, um während langer Jahre, ja ein ganzes Leben lang, ohne einen Augenblick schwach zu werden, den geheimen Anreiz und Aufruhr der Sinne und des Herzens zu beherrschen, der seit der Erbsünde in der menschlichen Natur der Jugend auf gärt? Kann ein solcher Mensch eine Vorstellung davon haben, wieviel Starkmut nötig ist, um auch nicht ein einziges Mal nachzugeben und den tausend winzigen Neugierden der Augen und Ohren, des Geschmackes und Tastsinnes Widerstand zu leisten, jener Neugier, die uns dazu drängt, die Lippen dem berauschenden Becher zu nähern und den tödlichen Duft einzuatmen, der von den Blumen des Bösen ausströmt? Kann so ein Mensch eine Vorstellung davon haben, wieviel Starkmut erfordert ist, um inmitten der Schamlosigkeiten der Welt mit fest entschlossenem Willen standhaft zu bleiben, der über alle Versuchungen, alle Drohungen, alle verführerischen und höhnischen Blicke erhaben ist?
Gewiß war weder Agnes im Strudel der heidnischen Gesellschaft, noch Aloysius von Gonzaga an den Fürstenhöfen der Renaissance mit ihren galanten Ausgelassenheit, noch Maria Goretti in der Nähe und unter dem Druck leidenschaftlicher und schamloser Menschen unwissend oder gefühllos; wohl aber waren sie stark dank jenem übernatürlichen Starkmut, wozu alle Christen in der Taufe die Anlage bekommen haben, und der dank einer sorgfältigen und unablässigen Erziehung, in der liebevollen Zusammenarbeit der Eltern und Kinder vielfältige Frucht der Tugend und alles Guten zeitigt.

Das Beispiel Maria Gorettis

1174 Solcher Art war Maria Goretti. In der bescheidenen Umgebung, in der sie aufwuchs, war ihre Erziehung einfach, aber doch äußerst sorgfältig; und die Art und Weise, wie Maria ihr entsprach, war nicht weniger vollkommen. Welch bezeichnendes Zeugnis legte ihre eigene Mutter davon ab, als sie versicherte, das Mädchen habe ihr nie den geringsten freiwilligen Kummer verursacht! Und wer liest nicht mit Ergriffenheit sogar die Aussagen des Mörders, der bezeugt, er habe an ihr nie ein Vergehen gegen das Gesetz Gottes beobachtet!

1175 Unsere Selige war ohne Zweifel ein starkmütiges Mädchen. Sie wußte und begriff. Und gerade deshalb hat sie den Tod vorgezogen. Sie war noch nicht zwölf Jahre alt, als sie das Martyrium erlitt. Aber was für einen Scharfsinn, was für eine Klugheit und Energie hat dieses Mädchen bewiesen! Im Bewusstsein der Gefahr, sann es Tag und Nacht auf den Schutz seiner Unversehrheit, setzte alles daran, um nie allein zu sein, und in ständigem Gebet empfahl es der allerseligsten Jungfrau die Lilie der Reinheit. Nein, Maria ist nicht eine kleine, schwächliche Seele, sie ist eine Heldin, die unter den Dolchstichen ihres Mörders nicht an den Schmerz denkt, sondern an die Hässlichkeit der Sünde, die sie entschieden zurückweist.
Sie sind, Gott sei Dank, noch zahlreich – zahlreicher vielleicht, als man annimmt, weil sie ihren Ernst und ihre Tugend nicht zur Schau tragen wie andere ihren Leichtsinn und ihre Ausgelassenheit – jene Jungmädchen, die, von christlichen Eltern erzogen, unbefangen und frohmütig, aber züchtig, in der Stadt und auf dem Land ihren Weg gehen und sich dorthin begeben, wohin sie die häuslichen und beruflichen Pflichten, Schule oder Nächstenliebe rufen; die sich mit ihrer lächelnden Anmut die Zuneigung der Mitmenschen gewinnen, aber zugleich Achtung gebieten durch ihre unbeugsame und würdevolle Haltung. Ihre Zahl ist ohne Zweifel groß (die feierliche Zeremonie des gestrigen Tages bot uns dafür ein herrliches Schauspiel), und sie wäre noch größer, wenn auf Seiten der Eltern mehr Umsicht und liebevolle Güte, auf Seiten der Kinder mehr Vertrauen und Gelehrigkeit walteten.
Wir wollen nicht sprechen von den Niederlagen, die so viele unglückliche Mädchen in den Abgrund stürzen; Wir wollen nicht sprechen, von so manchem Drama, das mit einem hoffnungslosen Tod endet, von so mancher Entartung, die allmählich so weit führt, daß menschlich nichts mehr gut zu machen ist. Welch eine Kette von Entgleisungen, Feigheiten und schmählichen Niederlagen! Es ist der Taumel eines Augenblicks, über den der Leichtsinn zunächst vielleicht hinweg täuscht, dessen demütigende Erinnerung aber, wie Giftblasen an die Oberfläche eines stillen Wasserspiegels, später wieder aufsteigt mit peinigenden Gewissensbissen, deren Bitterkeit auch nach der Reue und der Verzeihung hienieden ihren herben Geschmack nie ganz verliert.
Angesichts dieser bedauernswerten Schwächen und armseligen Versager bewundert die Kraft der reinen Herzen! Es ist eine geheimnisvolle Kraft, eine Kraft, die über die Grenzen der menschlichen Natur und nicht selten auch über das gewöhnliche Maß der christlichen Tugend hinaus geht. Es ist die Kraft der Liebe zum göttlichen Bräutigam der Seele, die jeden zurückweist, der ihre Treue auf die Probe zu stellen und die Lauterkeit ihrer Gefühle zu bedrohen wagt.

1176 So erscheint uns Maria Goretti in ihrem Leben und nicht weniger in ihrem Martyrium. Aber wie dürfen wir denn ihre Tugend vergleichen mit jener einer Agnes, einer Cäcilia, einer Gertrud, einer Katharina von Siena, einer Theresia vom Kinde Jesu und so vieler anderer, die oft mit heldenhafter Entsagung und überragenden Leistungen – die Frucht ihrer Jungfräulichkeit – ihren Brautring, der sie fürs ganze Leben mit ihrem Bräutigam verbunden hatte, bis ins hohe Alter trugen? Maria war noch ein Kind, und wir dürfen uns keineswegs mit Sicherheit die Behauptung erlauben, sie habe sich durch das Gelübde der Jungfräulichkeit Christus geweiht. Nichts gibt uns die Gewissheit, daß sie nicht mit den Jahren den Weg so vieler anderer Mädchen gegangen wäre, die in der Blüte ihrer Unschuld an den Traualtar treten, um Gott in einer heiligen Ehe neue Anbeter, der menschlichen Familie neue vorzügliche Glieder, der Kirche treue Kinder und dem Himmel zukünftige Heilige zu schenken. Aber Christus wußte wohl, daß er Maria auserwählt und sich vorbehalten hatte; und Maria hatte sich ihrerseits, ohne an die Zukunft zu denken, in ihrem herzen ganz Ihm geschenkt; sie wollte nur eines: um nichts in der Welt das göttliche Gebot verletzen und Christus um jeden Preis, auch um den des eigenen Lebens, die Treue halten.
Ist Maria etwa nur ein naives, unschuldiges Kind, das instinktiv vor der bloßen Gefahr der Sünde erschrickt, wie beim Anblick einer Schlange? (Ekklesiastikus 21, 2) Wie der Hermelin, der sich (nach einer altenLegende) eher töten läßt, als daß er mit seinem Fuß den Kot des Weges streifte? Hält sie vielleicht einzig das natürliche Schamgefühl aufrecht? Keineswegs! Denn ist sie auch noch klein, so läßt sie doch schon die innige Kraft und Tiefe ihrer Liebe zum göttlichen Erlöser ahnen. Sie kann noch nicht lesen; Armut und Entfernung hindern sie am Schulbesuch. Aber ihr Herz kennt weder Schwierigkeiten noch Entfernung. Mehr als je macht sie sich mutig daran, alle Hausarbeiten zu erledigen, und eilt ins Dorf, um die christlichen Wahrheiten zu erlernen. Um Jesus in der heiligen Eucharistie zu empfangen, schreckt sie nicht davor zurück, einen langen Weg zurück zu legen, mitten im Sommer, nüchtern, unter der brennenden Sonne, auf staubiger Straße. „Ich kann die Stunde nicht erwarten, bis ich morgen die heilige Kommunion empfangen darf“, sagte sie eines Tages. Und der Morgen kam und mit ihm die heilige Kommunion! Welch ein Morgen und welch eine Kommunion! Am Nachmittag des gleichen Tages, an dem sie diese Worte gesprochen hatte, vergoß sie ihr Blut, um dem Bräutigam ihrer Seele treu zu bleiben!

1177 Gestern wurde das Opfer des ruchlosen Verbrechens vom 6. Juli 1902 zur Ehre der Altäre erhoben. Wie könnten wir daran zweifeln, daß die wunderbare göttliche Vorsehung in der neuen Seligen den Jungmädchen, besonders den eifrigen Mitgliedern der Katholischen Aktion, der unschuldigen Schar der Marienkinder und allen jenen, die sich der unbefleckten Jungfrau geweiht haben, ein Vorbild, eine himmlische Beschützerin und Fürbitterin schenken wollte? (*) Sie war eine von ihnen, als sie für Gott und sein Gebot den blutigen Tod erlitt. Kaum zwölfjährig, erwies sie sich in der christlichen Tugend schon reif und stark, bereit, ihr Blut mit dem des Lammes zu vereinigen.

Die moderne Welt gefährdet die Frauenwürde

1178 Seit Maria Gorettis ergreifendem Tode sind noch kaum fünfzig Jahre verflossen; sie waren angefüllt mit stürmischen Ereignissen und überstürzten Umwälzungen. Sie wurden nicht weniger erschüttert durch tiefgreifende Veränderungen im Leben des Mädchens und der Frau. Wir haben schon bei anderen Gelegenheiten ausführlich dargelegt, wie die Frauenwelt in diesem halben Jahrhundert aus der Abgeschiedenheit und dem Privatleben – die für frühere Zeiten kennzeichnend waren – in alle Bereiche des öffentlichen Lebens hinein geworfen wurde, sogar in den Militärdienst. Dieser Vorgang hat sich mit einer, Wir möchten sagen, erbarmungslosen Schnelligkeit vollzogen.
Wenn man nicht will. Daß derart tiefe und rasche Veränderungen für Religion und Lebensweise der Frau die schwersten Folgen zeitigen, muss man in ihr vor allem, im gleichen Grad und zur selben zeit, jene inneren und übernatürlichen Werte festigen, die in der neuen seligen aufstrahlen: den Glaubensgeist und die Eingezogenheit, und zwar nicht nur eine Bescheidenheit, die gewissermaßen ein unbewusstes natürliches Schamgefühl ist, sondern eine mit Bedacht und Sorgfalt gepflegte christliche Tugend. Außerdem haben alle jene, denen das Gemeinwohl der menschlichen Gesellschaft sowie das zeitliche und ewige Wohl der Frau am herzen liegen, unbedingt zu fordern, daß die öffentliche Moral sich zu Beschützerin ihrer Ehre und Würde mache. Aber wie steht es in Wirklichkeit? Sind Wir etwa im Irrtum, wenn Wir behaupten, es sei vielleicht noch nie eine Zeit so sehr ihren Pflichten der Frau gegenüber untreu gewesen, wie die gegenwärtige?

1179 Deshalb kommt Uns der Warnruf des Erlösers auf die Lippen: Vae mundo a scandalis! Wehe der Welt um der Argernisse willen! (Matth. 18, 7) Wehe jenen bewussten und vorsätzlichen Verführern in Roman, Zeitung, Zeitschriften, Theater, Film und schamloser Mode! Wehe jenen lockeren Jungmännern, die mit heimtückischem Leichtsinn das tödliche Gift in ein noch unberührtes Herz träufeln! Wehe jenen Vätern und Müttern, die, aller Energie und Klugheit bar, den Launen ihrer Söhne und Töchter willfahren und auf jene väterliche und mütterliche Autorität verzichten, die auf der Stirn des Mannes und der Frau gleichsam ein Abglanz der göttlichen Majestät ist! Wehe aber auch so vielen Namen- undScheinchristen, die sich bei etwas gutem Willen aufraffen und Legionen unbescholtener und rechtschaffener Menschen um sich scharen könnten, die bereit wären, mit allen Mitteln das Ärgernis zu bekämpfen!

1180 Die Legalgerechtigkeit bestraft den Mörder eines Kindes, und es ist ihre Pflicht. Jene aber, die ihm die Waffe in die Hand drückten, die ihn ermutigten, ihn gleichgültig oder gar mit einem nachsichtigen Lächeln gewähren ließen, welche Gerechtigkeit, welche menschliche Gesetzgebung wird es je versuchen oder fertig bringen, sie, auch wenn sie wollte, nach ihrer Schuldigkeit zu bestrafen? Und doch sind das die eigentlichen Hauptschuldigen! Auf diesen vorsätzlichen Verführern oder feigen Versagern lastet furchtbar die göttliche Gerechtigkeit.

1181 Hatte denn keine menschliche Gewalt die Kraft in sich, diese verderbten Herzen, die wieder andere zugrunde richten, aufzurütteln und zu bekehren, den vielen sorglosen und furchtsamen Christen die Augen zu öffnen und sie aus ihrem Schlummer wach zu rütteln? Zu einem einzigen Gebet vereinigt, werden das Blut der Märtyrerin und die Tränen des reumütigen und bußfertigen Mörders dieses Wunder bewirken. Wir hoffen es. –
aus: Anton Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., 1953, S. 763 – S. 769

(*) siehe die Ansprache von Papst Pius XII. an die weibliche Jugend der Katholischen Aktion: VIVA GIOIA É PER NOU – Die Reinheit

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