Die Aszese des göttlichen Heilandes
Über die außerordentlichen Mittel der Aszese
Unter den äußeren Mitteln gibt es nun auch außerordentliche, die Gott nicht verordnet, sondern zuläßt, die aber im geistlichen Leben von großer Wichtigkeit sind. Das erste sind die Versuchungen. Sie sind Vorposten-Gefechte, die Schlachten und Belagerungen im geistlichen Kampf. Was das Gebet, die Gnade und die Übung der Tugend in uns gewirkt, zeigt sich in der Versuchung. Der Heiland hat sie in seiner Aszese nicht außer Acht gelassen. Da die Versuchungen nicht bloß von uns, sondern auch von dem bösen Feind und von der Welt ausgehen können, belehrt er uns über die Angriffs- und Kampfesweise des bösen Feindes (Lk. 11, 24-26; 22, 31; Mk. 14, 38) und über die Ärgernisse der Welt (Mt. 18, 7). Der Heiland wollte selbst auch versucht werden, um uns an sich ein praktisches Beispiel aufzustellen, wie wir die Versuchungen bestehen müssen (Mt. 4, 1-11; Lk. 4, 1-13). Ees ist überhaupt lehrreich, im Leben des Heilandes das Benehmen der bösen Geister gegen ihn und sein benehmen gegen sie zu betrachten (Lk. 4, 31-35; Mk. 5, 2-13).
Das zweite außerordentliche Mittel sind die Verfolgungen, welche im Leben der einzelnen wie der ganzen Kirche eine so große und wichtige Rolle spielen. Der Heiland hat auch sie in das Bereich seiner Belehrung und seines Beispiels gezogen. Er sagt der Kirche alle Verfolgungen voraus, und viele und harte (Lk. 17, 22-37; 21, 12-19;M 22, 35-37; Mt. 5, 10-12; 24, 9-28; Joh. 16, 1-5), dabei läßt er es aber nicht an den nachdrücklichsten Beweggründen fehlen, sie geduldig und großmütig zu bestehen (Lk. 12, 1-12; Joh. 15, 18-27). Es ist dieser Mut in den Verfolgungen und die edle Kreuzesliebe der Höhepunkt der christlichen Vollkommenheit, das Meisterstück des Starkmuts und das glänzende Zeugnis der Göttlichkeit der Religion.
Zum geistlichen Leben oder zur Aszese gehört auch die Mystik, welche das höhere, ungewöhnliche geistliche Leben zum Gegenstand hat. Sie ist die höchste Stufe der Aszese und besteht in einem Erkennen und Wirken, das unter dem Walten der gewöhnlichen Gnade nicht möglich ist. Bloß unter dem Einfluß von besondern außerordentlichen Gnaden erhebt sich der Christ zu einer Vereinigung des Verstandes und des Willens und der übrigen Fähigkeiten mit Gott, bei welcher der Mensch mehr empfangend als selbst tätig ist, und von welcher der Begnadete nicht bloß eine moralische, sondern eine geistig fühlbare Gewißheit besitzt. Die Erscheinungen dieses außergewöhnlichen Lebens umfassen alle Grade des höheren Gebetes und Wirkens von der Beschauung bis zu Erscheinungen, Offenbarungen und andern wunderbaren Wirkungen am eigenen Leibe und an andern. Von diesem zustand des geistlichen Lebens lehrt und spricht der Heiland nicht ausdrücklich und eingehend. Er deutet das Dasein und das Wesen in geheimnisvollen Worten bei dem hl. Johannes (Joh. 14, 23) an. Er bietet auch keine sichern Mittel zu diesen Begnadigungen, weil es keine gibt und hier alles endlich von Gott abhängt. Als Vorbereitung von unserer Seite weist er bloß auf die allgemeinen Mittel seiner Aszese hin. Und darin offenbart sich der sichere Griff seiner göttlichen, erzieherischen Weisheit.
Das ist in kurzen Zügen die Aszese des göttlichen Heilandes. Einfach ist sie und erhaben, klar und voll tiefer Geheimnisse; natürlich, groß und weit angelegt, genügt sie allen, den bescheidensten wie erhabensten Anlagen und Bedürfnissen des Geistes und Herzens; majestätisch und wahrhaft göttlich ist sie in ihrem Ziel, in ihren Mitteln und in ihren Wirkungen und Erfolgen, mächtig namentlich durch die Gnade, die sie mit sich führt, und durch das Beispiel ihres Urhebers, des Heilandes. Was er gelehrt, das findet seine Bestätigung und den schönsten und liebenswürdigsten Ausdruck in seinem Beispiel undLebensvorbild. Er selbst, seine Person und sein Leben ist die Verwirklichung seiner Lehre. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh. 1, 14), er ist der Inbegriff der Offenbarung und der Tugend, die wir üben müssen. In seinem Leben gewinnt die Tugend alles durch die Majestät und den Liebreiz der Persönlichkeit; in dem Leiden siegt sie über allen Widerstreit der Welt und der Hölle, und in der Auferstehung ergreift sie denKranz der Unsterblichkeit für sich und alle, die ihren Spuren folgen. Der Heiland ist der Urheber, das Vorbild und der Preis der christlichen Aszese. Sie ist nichts anderes als die Nachfolge Christi. –
aus: Moritz Meschler SJ, Gesammelte Kleinere Schriften, 1. Heft: Zum Charakterbild Jesu, 1908, S. 23 – S. 25