Acht Betrachtungen über das Leiden Jesu Christi
Achte Betrachtung: Blicke o Christ auf Jesus den Gekreuzigten!
Jesus am Kreuz gestorben
1. Blicke empor, mein Christ, blicke auf`s Kreuz, blicke auf den gestorbenen Jesus, auf seinen Leib voll Wunden, aus denen noch Blut fließt!
Der Glaube lehrt uns, daß Jesus Christus unser Schöpfer, unser Erlöser, unser Leben, unser Befreier ist; daß Niemand uns mehr liebt als Er, daß Er allein uns wahrhaft glücklich machen kann.
Ich glaube, o mein Jesus! daß Du mich ohne mein Verdienst von Ewigkeit her geliebt, daß Du mir bloß aus Güte das Dasein geschenkt, daß Du mich geliebt, obgleich Du meinen Undank vorher gesehen hast; Du bist mein Heiland, Du hast durch deinen Tod mich von der Hölle, die ich so oft verdient habe, befreit; Du bist mein Leben; denn Dir verdanke ich die Gnade, ohne die ich dem ewigen Tod nicht hätte entgehen können. Du bist mein Vater, und ein liebevoller Vater, der, voll Barmherzigkeit, mir so große Beleidigungen, die ich Ihm zugefügt habe, vergeben hat. Du bist mein Schatz; denn statt mich zu bestrafen, wie ich es verdient habe, bereicherst Du mich mit so großer Erkenntnis, mit so großen Gnaden. Du bist meine Hoffnung; denn von Anderen als von Dir habe ich nichts zu hoffen. Du allein liebst mich wahrhaft; um mich davon zu überzeugen, brauche ich nur daran zu denken, daß Du aus Liebe zu mir gestorben bist. Mit einem Wort: Du bist mein Gott, mein höchstes Gut, mein Alles.
O Menschen, Menschen! lasset uns Jesus lieben, lasset uns einen Gott lieben, der Alles für uns aufgeopfert hat. Die Ehre, die Er auf Erden erwarten, die Reichtümer und Freuden, die Er genießen könnte, hat Er zum Opfer dargebracht; Er war zufrieden, ein unscheinbares, armes, leidensvolles Leben zu führen; Er opferte, um durch seine Leiden für unsere Sünden genugzutun, all` sein Blut, sein Leben; Er starb, versenkt in ein Meer von Schmerz und Verachtung.
2. Vom Kreuz ruft unser Heiland einem Jeden von uns zu: Liebe Kinder! Konnte Ich mehr tun, um eure Liebe zu verdienen, als am Kreuz für euch sterben? – Siehe zu, geliebte Seele, ob du in der Welt Jemanden findest, der dich mehr liebt, als dein Herr und dein Gott; so liebe denn auch du Ihn, um Ihm wenigstens einigermaßen die Liebe, die Er zu dir trägt, zu erwidern.
Anmutungen und Bitten.
Wie ist es nur möglich, o mein Jesus! daß, wenn ich daran denke, daß Du für mich am Kreuz hast sterben wollen, ich nicht vor Schmerz weine, ja, daß ich sogar häufig noch deine Liebe verachtet habe? Wie ist es nur möglich, daß ,wenn ich Dich aus Liebe zu mir in so schmählichem Zustand erblicke, ich Dich nicht aus all` meinen Kräften liebe? Wie ist es nur möglich, o Herr, daß, obgleich Du für uns gestorben bist, damit wir nicht mehr für uns selbst leben, ich bisher, statt nur Dich zu lieben, statt nur deine Ehre zu suchen, bloß gelebt habe, um Dich zu betrüben und um Dich zu beleidigen? Für Alle ist Christus gestorben, auf daß, die da leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist. (2. Kor. 5,15)
Vergiß, o gekreuzigter Heiland, allen Schmerz, den ich Dir verursacht habe! Es reut mich von Herzen, und ich bitte Dich, mittelst deiner Gnade mich ganz zu Dir zu ziehen. Ich will nicht mehr für mich, ich will nur für Dich leben, der Du mich so unendlich geliebt, der Du alle meine Liebe verdient hast. Mich und Alles, was mein ist, übergebe ich Dir unbedingt, ich entsage allen Ehren und Freuden der Welt; ich will aus Liebe zu Dir Alles leiden, was Du über mich verhängst.
Du, o mein Gott! der Du mir diesen Entschluss einflößt, gib mir zugleich die Gnade, ihn ins Werk zu setzen. Lamm Gottes, für mich ans Kreuz geheftet, Schlachtopfer der Liebe, liebenswürdiger Gott! Könnte ich doch für Dich sterben, gleich wie Du aus Liebe für mich gestorben bist! – O heilige Mutter Gottes, Maria! erwirb mir die Gnade, die noch übrige Zeit meines Lebens der Liebe deines liebenswürdigenSohnes zu opfern! –
aus: Alphons Maria von Liguori, Das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi, Ein Gebets- und Betrachtungsbuch für die heilige Fastenzeit, 1892, S. 546 – S. 548