Acht Betrachtungen über das Leiden Jesu Christi
Siebente Betrachtung: Jesus am Kreuz! Welch ein Anblick!
1. Jesus am Kreuz! Welch ein Anblick war es für die Engel des Himmels, als sie einen Gott gekreuzigt erblickten! Aber was sollten nicht wir empfingen, wenn wir den König des Himmels voll Wunden, von Allen verhöhnt und verflucht, ans Kreuz geheftet, mit dem Tod ringen, vor Schmerz sterben sehen?
Warum, o Gott, leidet dieser göttlicher Erlöser, der doch unschuldig und heilig ist? – Er leidet, um für die Schuld der Menschen genug zu tun.
Aber ist es nicht unerhört, daß der Herr für seinen Knecht, daß der Hirt für seine Herde leidet, daß der Schöpfer für sein Geschöpf sich aufopfert?
2. Jesus am Kreuz ist jener Mann der Schmerzen, den Isaias verkündigt hat. Auf jenem schmählichen Holz wird Er von innerlichen und äußerlichen Schmerzen verzehrt. Geißeln, Dornen, Nägel zerreißen seinen heiligen Leib; das Blut strömt von allen Seiten, jedes Glied leidet besondere Pein. Er ist traurig, trostlos, von Allen verlassen, verlassen von seinem himmlischen Vater; aber mehr als dieses Alles peinigt Ihn der Anblick der furchtbaren Sünden, welche die durch sein Blut erlösten Menschen nach seinem Tod noch begehen werden.
Anmutungen und Bitten.
O mein Heiland! Unter jenen Undankbaren erblickst du damals auch mich und alle meine Sünden. Auch ich habe also viel dazu beigetragen, Dich am Kreuz zu peinigen, an dem Du für mich gestorben bist. O wäre ich doch eher gestorben, als daß ich Dich beleidigt hätte!
O mein Jesus! meine Hoffnung, der Tod flößt mir Schrecken ein, wenn ich bedenke, daß ich in jenem Augenblick Dir Rechenschaft ablegen muss über alle die Beleidigungen, die ich deiner Liebe zugefügt habe; aber ich fasse Mut, ich hoffe Verzeihung, wenn ich auf deinen Tod blicke. Es reuet mich von Herzen, daß ich Dich früher verachtet habe; liebte ich Dich auch damals nicht, so will ich Dich doch in der Folge lieben, und Alles tun, Alles leiden, um Dir wohl zu gefallen. Hilf mir, mein am Kreuz für mich gestorbener Erlöser!
Du hast uns versprochen, o Herr! daß Du, wenn Du am Kreuz erhöht sein werdest, alle Herzen zu Dir ziehen wollest: Wenn Ich erhöht sein werde von der Erde, werde ich alles an Mich ziehen. (Joh. 12,32) Du hast schon so viele Herzen durch deinen Tod am Kreuz mit deiner Liebe entzündet, so daß sie Alles, Güter, Vaterland, Eltern, ja das Leben Dir zum Opfer gebracht haben; – ziehe auch mein armes Herz zu Dir! Mit dem Beistand deiner Gnade will ich nur Dich lieben.
Gestatte nicht, daß ich, wie früher hin, die Eitelkeiten dieser Welt liebe. Könnte ich doch, befreit von allen irdischen Neigungen, Alles vergessen, um nur an Dich zu denken, um nur Dich zu lieben! Ich hoffe dieses Alles von deiner Gnade; aber Du weißt, wie schwach ich bin; um jener Liebe willen, die Dich bewogen hat, einen so bitteren Tod auf dem Kalvarienberg zu erdulden, stehe mir bei! Todd meines Jesus, Liebe meines Jesus! Raubt mir jeden anderen Gedanken, jede andere Neigung; macht, daß ich von heute an nichts Anderes begehre, als Jesus zu gefallen, daß ich an nichts Anderes denke, als wie ich Jesu meine Liebe beweisen kann! Um der Verdienste deines Todes willen erhöre mich, liebenswürdigster Jesus! – Maria, Mutter der Barmherzigkeit! Erhöre auch Du mich, und bitte Jesus für mich; denn deine Fürbitte kann mich zu einem Heiligen machen, und ich hoffe, daß es geschehen werde. –
aus: Alphons Maria von Liguori, Das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi, Ein Gebets- und Betrachtungsbuch für die heilige Fastenzeit, 1892, S. 544 – S. 546