Acht Betrachtungen über das Leiden Jesu Christi
Vierte Betrachtung: Jesus als der Niedrigste der Menschen behandelt
1. Wir sahen ihn, den Verachteten, den Mindesten der Menschen, den Mann der Schmerzen. (Is. 53,2) Die Welt ist einst Zeuge dieses Wunders gewesen: der Sohn Gottes, der König des Himmels, der Herr der Welt ist behandelt worden wie der verächtlichste Mensch. Der heilige Anselm sagt: (in Phil. 2) Jesus Christus wollte auf Erden so sehr verdemütigt und verachtet werden, daß die Demütigungen und Verachtungen, die Er auf sich nahm, nichtgrößer sein konnten. – Man verachtete Ihn wegen seiner niedrigen Herkunft: Ist dieser nicht des Zimmermanns Sohn? (Matth. 13,55) wegen seines Vaterlandes: Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen? (Joh. 1,46) Man nannte Ihn einen Narren: Er ist unsinnig, was hört ihr Ihn an? (ebd., 10,20) einen Fresser und Säufer: Siehe, dieser Mensch ist ein Fresser und Weinsäufer (Luk. 7,34); einen Zauberer: Er treibt die Teufel aus durch den Obersten der Teufel (Matth. 9,34); einen Ketzer: Sagen wir nicht mit recht, daß Du ein Samaritaner bist? (Joh. 8,48)
2. In seinen letzten Leiden hatte Er indessen die größte Schmach zu erdulden. Als Er erklärte, daß Er der Sohn Gottes sei, sprach Kaiphas zu den übrigen Priestern: Seht, ihr habt jetzt die Gotteslästerung gehört, was dünkt euch? Sie antworteten und sprachen: Er ist des Todes schuldig (Matth. 26,65); und darauf spieen sie Ihn an und schlugen Ihn mit Fäusten, etliche schlugen Ihn ins Gesicht, so daß die Prophezeiung Isaias erfüllt ward: Meinen Leib gab ich den Schlagenden hin, und meine Wange den Raufern; mein Angesicht verbarg ich nicht vor denen, die Mich lästerten und anspieen. (Is. 50,6) Zugleich nannte man Ihn einen falschen Propheten: Weissage uns, Christus: Wer ist es, der Dich schlug? (Matth. 26,68) Die furchtbaren Leiden, die Jesus in jener Nacht duldete, wurden noch vermehrt durch die dreimalige Verleugnung des Petrus, der erklärte, daß er Jesus nie gekannt habe.
Gehen wir nun, geliebte Seele, in jenen finsteren Kerker zu unserem betrübten Jesus, der von den Seinigen verlassen, nur von denen umgeben ist, die Ihn um die Wette mißhandeln. Danken wir Ihm, daß Er so geduldig leidet; trösten wir Ihn durch wahre Reue über die Beleidigungen, die wir Ihm zugefügt haben; denn auch wir haben uns früher mit seinen Henkern verbunden, wir haben Jesus durch die Sünde verleugnet.
3. Man möchte darüber weinen, wenn man sieht, wie die Menschen das Leiden Christi so gering achten, wie wenig Christen an die Schmerzen und die Schmach, die ihr Heiland für sie erduldet hat, denken. Höchstens erinnert man sich in den letzten Tagen der Karwoche, wenn die Kirche die Gedächtnisfeier des Todes Christi mit rührendem Psalmgesang, mit Entblößung der Altäre und anderen Feierlichkeiten begeht, daß Christus für uns gestorben ist, indem man die übrige Zeit des Jahres kaum daran denkt; also ob sein sein Leiden eine Fabel wäre, und als ob Er sich für andere als für uns aufgeopfert hätte. Welch` eine Pein werden die Verdammten in der Hölle zu leiden haben, wenn sie sehen, wie viel ein Gott gelitten, um sie zu retten, und wie sie dennoch freiwillig sich ins Verderben gestürzt haben.
Anmutungen und Bitten.
Ich möchte vor Schmerz sterben, geliebtester Heiland, wenn ich daran denke, daß ich dein von Liebe zu mir entbranntes Herz so tief verletzt habe. Vergiß die Beleidigungen, die ich Dir zugefügt habe; siehe mich an mit einem Blick der Liebe , gleich wie Du Petrus angeschaut hast, nachdem er Dich verleugnet hatte, ihn, der hierauf bis zu seinem Tod seine Sünde beweinte.
O großer Sohn Gottes, unendliche Liebe! Der du für dieselben Menschen, die Dich hassen und die Dich verfolgen, hast leiden wollen: wie ist es möglich, daß Du, den die Engel anbeten, dessen Herrlichkeit unendlich ist, und der Du den Menschen die höchste Ehre erwiesen hättest, wenn Du ihnen gestattet, Dir die Füße zu küssen; wie ist es nur möglich, daß Du in dieser Nacht der Spielball dieser Gottlosen hast werden wollen? Mein verachteter Jesus! Lasse auch mich aus Liebe zu Dir verachtet werden! Könnte ich mich weigern, Verachtungen zu erdulden, wenn ich daran denke, welche Schmach Du aus Liebe zu mir hast erdulden wollen? O mein verachteter Jesus, gib, daß ich Dich kenne und liebe!
Gestatte nicht, o mein Jesus! Daß ich auch zur Zahl der Unseligen gehöre, die dein Leiden zu vergessen scheinen! Ich will nie wieder aufhören, an die Liebe zu denken, die Du mir durch deine große Leiden bewiesen hast; stehe mir bei, damit ich nie wieder deine Liebe vergesse! –
aus: Alphons Maria von Liguori, Das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi, Ein Gebets- und Betrachtungsbuch für die heilige Fastenzeit, 1892, S. 536 – S. 538