Acht Betrachtungen über das Leiden Jesu Christi
Fünfte Betrachtung: Das trostlose Leben Jesu Christi auf Erden
1. Unser göttlicher Heiland blieb sein ganzes Leben hindurch in seinem Leiden ohne Trost, ohne Erleichterung; sein Leben war jenes große Meer, das ganz bitter ohne einen Tropfen Trost war: Groß wie das Meer ist dein Elend. (Klagel. 2,13) Jesus selbst offenbarte der heiligen Margareta von Cortona, daß Er sein ganzes Leben hindurch keine fühlbare Tröstung empfunden habe. Die Traurigkeit im Garten Gethsemane, die so groß war, daß sie allein Ihn hätte töten können: Meine Seele ist betrübt bis zum Tode (Matth. 23, 38), empfand Er nicht nur damals; denn weil Er alle Leiden, die Ihm bis zum Tod bevorstanden, vorher wußte, so hatte Er vom ersten Augenblick seiner Menschwerdung an das Vorgefühl der Martern, die Ihn erwarteten. Aber nicht so sehr der Anblick der Leiden, die Er während seines ganzen Lebens uns insbesondere bei seinem Tod zu erdulden hatte, betrübte Ihn so sehr, als vielmehr der Anblick der Sünden, welche die Menschen nach seinem Tod begehen würden; dieses war die höchste Betrübnis in seinem ganzen Leben. Er musste sterben, um die Sünde aus der Welt zu verbannen, um die Seelen von der Hölle zu befreien; und dessen ungeachtet musste Er sehen, daß, obwohl Er so große Leiden auf sich nahm, dennoch eine so große Menge von Schändlichkeiten bis ans Ende der Zeit begangen würden; sein Schmerz war unendlich, da Er jede einzelne Sünde besonders erblickte. Jede einzelne Schuld hatte Er vor Augen, sagt der heilige Bernhardin von Siena. Das war jener Schmerz, den Er stets vor Augen hatte, der Ihm keinen Trost gestattete: Mein Schmerz ist immer vor meinem Angesicht. (Ps. 37,18) Der heilige Thomas sagt, daß der Blick auf die Sünden der Menschen und auf das Verderben so vieler Seelen unserem Heiland einen Schmerz verursachte, der die Schmerzen aller Büßer, selbst jener, die aus Reue gestorben sind, weit überstieg.
Auch die Märtyrer haben große Leiden, Foltern, glühendes Eisen etc. ausgestanden; aber Gott erleichterte ihren Schmerz durch innerlichen Trost; Christus blieb in seinen Schmerzen und in seiner Traurigkeit ohne alle innerliche Erleichterung, und deshalb ist sein Märtyrertum das furchtbarste gewesen. Sein Schmerz war reiner Schmerz, ohne den mindesten Trost, sagt der heilige Thomas. (P. 3. qu. 46 a.6)
2. Trostlos lebte, trostlos starb unser Erlöser; als Er ohne allen Beistand am Kreuz hing, suchte Er, wer Ihn tröste, und fand Niemanden: Ich erwartete, ob nicht einer Mich tröste; und Ich fand niemanden. (Ps. 68,21) Er fand nur Spötter und Gotteslästerer, die Ihm zuriefen: Wenn Du der Sohn Gottes bist, steige vom Kreuz herab; Er hat Anderen geholfen; Er kann sich selbst nicht helfen. (Matth. 27,40-42) Als sich nun unser göttlicher Heiland von allen Menschen verlassen sah, wandte Er sich zu seinem ewigen Vater; aber als Er auch da keinen Trost fand, schrie Er mit lauter und kläglicher Stimme: Mein Gott, mein Gott! Warum hast Du Mich verlassen. (ebd., 27,46) Also endete das Leben unseres Erlösers, wie Er es durch David vorher verkündigt hat: Er kam in die Tiefe des Meeres und der Sturm hat Ihn versenkt. (Ps. 68,3) Wenn wir trostlos sind, so müssen wir bei unserem trostlosen Jesus Stärkung suchen, wir müssen Ihm unsere Leiden aufopfern, und sie mit den Leiden vereinigen, die Er, der Unschuldige, aus Liebe zu uns auf dem Kalvarienberg ausgestanden hat.
Anmutungen und Bitten.
Ich möchte vor Schmerz sterben, geliebtester Heiland, wenn ich daran denke, daß ich dein von Liebe zu mir entbranntes Herz so tief verletzt habe. Vergiß die Beleidigungen, die ich Dir zugefügt habe; siehe mich an mit einem Blick der Liebe, gleich wie Du Petrus angeschaut hast, nachdem er Dich verleugnet hatte, ihn, der hierauf bis zu seinem Tod seine Sünde beweinte.
O großer Sohn Gottes, unendliche Liebe! Der du für dieselben Menschen, die Dich hassen und die Dich verfolgen, hast leiden wollen: wie ist es möglich, daß Du, den die Engel anbeten, dessen Herrlichkeit unendlich ist, und der Du den Menschen die höchste Ehre erwiesen hättest, wenn Du ihnen gestattet, Dir die Füße zu küssen; wie ist es nur möglich, daß Du in dieser Nacht der Spielball dieser Gottlosen hast werden wollen? Mein verachteter Jesus! Lasse auch mich aus Liebe zuDir verachtet werden! Könnte ich mich weigern, Verachtungen zu erdulden, wenn ich daran denke, welche Schmach Du aus Liebe zu mir hast erdulden wollen? O mein verachteter Jesus, gib, daß ich Dich kenne und liebe!
Gestatte nicht, o mein Jesus! Daß ich auch zur Zahl der Unseligen gehöre, die dein Leiden zu vergessen scheinen! Ich will nie wieder aufhören, an die Liebe zu denken, die Du mir durch deine große Leiden bewiesen hast; stehe mir bei, damit ich nie wieder deine Liebe vergesse! –
aus: Alphons Maria von Liguori, Das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi, Ein Gebets- und Betrachtungsbuch für die heilige Fastenzeit, 1892, S. 539 – S. 541