Acht Betrachtungen über das Leiden Jesu Christi
Dritte Betrachtung: Jesus der Mann der Schmerzen
1. Der Prophet nennt unseren Erlöser: Den Mann der Schmerzen, der Schwachheit erfahren hat (Is. 52,3); und Salvianus schreibt über das Leiden Jesu: „O Liebe! Ich weiß nicht, ob ich Dich mild oder hart nennen soll, da Du beides zu sein scheinst.“ O Liebe meines Jesus, ich weiß, wie wie ich Dich nennen soll? Ganz mild bist Du gegen uns, denn du liebst uns ungeachtet so großen Undankes; hart und grausam aber behandelst Du dich selbst, da Du ein so schmerzvolles Leben, einen so bitteren Tod hast erdulden wollen, um für unsere Sünden genug zu tun. Der heilige Thomas sagt, daß Christus, um uns von der Höllenpein zu erretten, Schmerz und Misshandlung im höchsten Grad hat erdulden wollen; denn es hätte genügt, um der göttlichen Gerechtigkeit genugzutun, wenn Er auch nur geringe Schmerzen gelitten; aber nein, Er wollte die schmählichsten Beleidigungen, die heftigsten Schmerzen erdulden, damit wir die Größe unserer Schuld, die Größe seiner Liebe zu uns begreifen möchten. Deshalb sagt Christus selbst beim heiligen Paulus: Einen Leib hast Du Mir bereitet. (Hebr. 10,5) Denn Gott wollte, da Er Christo einen menschlichen Leib zum Leiden bereitete, daß sein Fleisch äußerst empfindlich und zart sei; empfindlich: damit Er lebhafter die Schmerzen empfinde; zart, damit der geringste Schlag eine Wunde verursache: Sein Leib ward zum Leiden bereitet.
Vom ersten Augenblick seiner Menschwerdung an standen Jesu alle Schmerzen, die Er bis zu seinem letzten Atemzug zu erdulden hatte, vor Augen; Er sah sie und nahm sie bereitwillig an, um den Willen Gottes, der Ihn für unser Heil aufopfern wollte, zu erfüllen, und sprach: Siehe, Ich komme, o Gott, um deinen Willen zu erfüllen (Hebr. 10,9), bereitwillig bringe Ich Mich zum Opfer dar; worauf der Apostel hinzufügt,, daß diese Bereitwilligkeit Christi uns die Gnade Gottes erworben habe: Denn Kraft dieses Willens sind wir geheiligt worden, indem Jesus Christus seinen Leib einmal aufgeopfert hat. (Ebd. 10,10)
2. O süßer Heiland! Was hat Dich nur bewegen können, dein Leben unter so großen Schmerzen für uns aufzuopfern? – Der heilige Paulus erwidert: Er hat uns geliebt, und sich selbst für uns hingegeben. (Ephes. 5,2) Seine Liebe hat Ihn bewogen, seinen Rücken den Geißelstreichen, sein Haupt den Dornen, sein Angesicht den Schlägen, seine Hände und Füße den Nägeln, sein Leben dem Tod preis zu geben.
Wer einen Mann der Schmerzen sehen will, der blicke auf Jesus am Kreuz. Siehe, wie er da an drei eisernen Nägeln hängt; das Gewicht des Leibes erweitert die Wunden seiner durchbohrten Hände und Füße, jedes Glied leidet besonderen Schmerz, und das ohne alle Linderung. Man hat Recht, die drei Stunden, die Christus am Kreuz hing, seinen Todeskampf zu nennen; denn Er litt ihn die ganze Zeit hindurch, Er litt denselben Schmerz, der Ihn endlich tötete, so daß dieser Mann der Schmerzen vor Schmerz starb.
Anmutungen und Bitten.
Wie ist es nur möglich, o Jesus! daß, wer glaubt, daß Du für ihn am Kreuz gestorben bist, leben könne, ohne Dich zu lieben; und wie konnte auch ich so lange Jahre ohne Dich leben, und so lange Jahre einem Gott mißfallen, der mich so unendlich geliebt hat? Wäre ich doch gestorben, ehe ich Dich beleidigt habe! O Geliebter meiner Seele, mein Erlöser! Könnte ich doch auch, nachdem Du für mich gestorben bist, aus Liebe zu Dir sterben. Ich liebe Dich, mein Jesus, ich will nur Dich lieben. –
aus: Alphons Maria von Liguori, Das bittere Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi, Ein Gebets- und Betrachtungsbuch für die heilige Fastenzeit, 1892, S. 534 – S. 536