Führe uns nicht in Versuchung
Der zweite im Bunde ist das Fleisch
Der zweite im Bunde ist das Fleisch… Im Paradies stand neben dem Baum des Lebens der Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. An diesem Baume aber hing ein göttliches Verbot mit verhängnisvollen Klausel: „Sobald du davon ißt, mußt du sterben.“ Durch den Ungehorsam des ersten Menschen also ist dieser Baum ihnen und ihren Nachkommen zum Baum des Todes geworden. Es ist aber das Christenherz ein kleines Paradies mit diesen zwei Bäumen, dem Baum des Lebens und dem Baum des Todes.
Der Baum des Lebens ist die heiligmachende Gnade
und die Früchte, die er trägt, sind Liebe, Freude, Friede, Geduld, Milde, Güte, Langmut, Sanftmut, Treue, Mäßigkeit, Enthaltsamkeit und Keuschheit;
Der Baum des Todes ist der „Zunder der Sünde“
die Begierlichkeit, das Fleisch, und seine Früchte sind Unkeuschheit, Unzucht, Geilheit, Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Zank, Zorn und Missgunst, Zwietracht, Hader und Totschlag, Schwelgerei, Trunksucht und Ketzerei. Wir haben uns also unter dem Namen „Fleisch“ einen Giftbaum mitten in unserer Brust vorzustellen, der an drei großen Ästen drei Sorten von seeletötenden Früchten bringt, nämlich die Werke der Fleischeslust, der Augenlust und der Hoffart des Lebens. Da sieht nun aber jeder ein, wie gefährlich dieser Feind uns mit seinen Versuchungen werden kann: er ist unser Hausgenosse, aber als solcher hinterlistig, er ist unser Freund, aber als solcher Unheil spinnend. Das Unheil aber, das er uns zuerst anzutun sucht, ist die Verblendung… In der Menschenbrust sind zwei zu Hause, Abel und Kain, Mardochäus und Aman, der Geist, der die Sache Gottes begünstigt, und das Fleisch, das der Sache des Teufels gewogen ist, und dieser Kain ist immer nur darauf aus, den armen, schwachen Abel tot zu schlagen, und dieser Aman geht immer nur damit um, den Mardochäus an den Galgen zu bringen, und dieses Fleisch in seiner wilden Gier hat immer nur im Sinn, den Geist in seinem Himmelwärtsstreben nicht bloß zu hindern und zu lähmen, sondern auch sich ihn zu unterjochen und seinen niedrigen Absichten dienstbar zu machen. Daher sucht dasselbe, wo es nur kann, den Geist, den guten Gottestrieb, zu blenden, ihm das Augenlicht zu nehmen, daß er Augen hat und nicht sieht, was ihm zum Heile sei, und Tausende lassen diese Verblendung an ihrer Seele ruhig geschehen und wirken eifrig dazu mit… –
Wer aber kennt die Zahl derjenigen, die das Fleisch durch den Brand seiner wilden Gier am Geist blind gemacht hat, damit sie in die Versuchung eingingen und in die Sünde fielen? Nur Gott kennt sie. Daher tut es, angesichts der Versuchung, die uns vom „Fleische“ bereitet wird, noch mehr not, als in jener, die von der Welt ausgeht, zu Gott um Hilfe, Schutz und Kraft zu beten mit den Worten des Vaterunsers: „Führe uns nicht in Versuchung!“…
Das Zerstörungswerk verübt aber dieser schlimme Hausgenosse in allen, die in seine Versuchung eingehen und was er ihnen anrät und zuflüstert, vollbringen: es dauert nicht lange, so ist der geistige Tempel Gottes in eine Räuberhöhle und Mördergrube umgewandelt, worin dann viel ekelhaftes Gewürm und Getier sein Unwesen treibt. Darum heißt es vor diesem Feind auf der Hut sein und des Erlösers Mahnwort aus Gethsemani beherzigen: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet!“…
Wer es also gut mit sich und seinem Seelenheil meint, tut wohl daran, diesen Feind im Auge zu behalten, und aus den fünf Sinnen des Leibes und den Kräften seiner Seele ein Observations- oder Beobachtungskorps zu bilden, das den heimtückischen Feind in seinen Bewegungen und Unternehmungen sorgfältig bewacht. Er ist nämlich Sozialdemokrat der schlimmsten Sorte, Anarchist im wahrsten Sinn des Wortes, der alles, was in der Seele an Gottesordnung, an Regiment der Vernunft, an Vorschriften des Glaubens, an Gesetz der Sitten erinnert, zu vernichten strebt. Für einen Christen ist aber doch gar zu traurig, diesem Feind gegenüber Niederlage auf Niederlage zu erleiden. Darum müssen wir gegen ihn Gott zu Hilfe rufen und beten: „Führe uns nicht in Versuchung!“ – mit dem Fleisch, mit der dreizackigen Begierlichkeit! –
aus: Philipp Hammer, Der Rosenkranz, eine Fundgrube für Prediger und Katecheten, ein Erbauungsbuch für katholische Christen, I. Band, 1896, S. 386 – S. 395