Die Barmherzigkeit Gottes gegen die Sünder
Das sündenvolle Leben und der heldenmütige Tod der hl. Afra ist zu merkwürdig und zu lehrreich, als daß du, der du von der Menge deiner Sünden beängstigt und von der Notwendigkeit deiner Bekehrung überzeugt bist, nicht noch einige Augenblick bei diesem Werk der göttlichen Barmherzigkeit nachdenkend verweilen solltest. Hier hat sich jenes inhaltsschwere Wort erfüllt, welches der hl. Paulus an die Römer schrieb: „Da die Sünde überschwänglich wurde, wurde die Gnade noch überschwänglicher.“ (Röm. 5, 20) Betrachte nun:
1. Wie barmherzig Gott den Sünder aufsucht. Es ist gewiß, daß Gott vermöge seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit die Übertretungen seiner Gesetze, die Verachtung seines Willens unendlich haßt und strafen muss. Diese Wahrheit spricht der Psalmist aus mit den Worten: „Der Böse weilt nicht bei Dir (o Herr), noch verbleiben die Ungerechten vor deinen Augen. Du hassest Alle, die Böses tun, und verdirbst Alle, die Lügen reden.“ (Ps. 5) Der bittere Leidenskelch, den Jesus Christus getrunken, und das harte Kreuz, an dem Er in namenlosen Schmerzen gehangen, verkünden mit erschütternder Sprache, wie furchtbar der Abscheu und Zorn Gottes wider die Sünde ist. Schauerlich ist das Heulen und Zähneknirschen der Verdammten, welches die ganze unermessliche Ewigkeit dauern wird; aber auf ihr Jammern über die große Qual, welche sie in den Flammen leiden, antwortet ihnen der Herr in gerechtem Zorn: „Weil ihr verachtet all meinen Rat und in den Wind geschlagen habt meine Strafreden: so will auch Ich bei eurem Untergang lachen und spotten.“ (Sprichw. 1, 25) Nicht minder gewiß ist, daß Gott Macht hat, zu jeder Stunde den Frevler wider seine Majestät zu ergreifen und mit Leib und Seele in die Hölle zu stürzen. Aber wunderbarer als seine Gerechtigkeit ist seine Barmherzigkeit. Nachdem Er schon die Strafe der Sündflut bestimmt, ließ Er doch vor den Augen der schuldigen 120 Jahre lang den Noe an der Arche bauen und ihren Ohren die Mahnung zur Bekehrung predigen; und als die Strafe begann, ließ Er vierzig Tage lang regnen und die Wasser nur allmählich steigen, damit die Sünder noch die letzten Augenblicke zur Buße und zum Ergreifen seiner erbarmenden Hand benützen möchten. So ist es immer; nein, unvergleichlich größer in Jesus Christus, der von den Sündern mit Wunden bedeckt, in alle Länder, zu allen Völkern geht und spricht: „Kommt ihr Unglücklichen und Belasteten, Ich will euch erquicken: Ich will nicht den Tod des Gottlosen, sondern daß er sich von seinen Wegen bekehre und lebe.“ (Ezech. 33) Jesus vervielfacht seine Einladung durch die Stimme von Priestern und Laien, durch innere Einsprechungen und äußere Ereignisse, wie bei der hl. Afra. O fürchte dich nicht vor diesem Gnadenruf!
2. Betrachte, wie barmherzig Gott den Sünder aufnimmt. Er verlangt vom Sünder nur das reuige, aufrichtige Bekenntnis, daß er gefehlt, daß er Ihn beleidigt und sich der ewigen Verwerfung schuldig gemacht habe. Wenn der Sünder auch hundertmal wieder gesündigt, aber reumütig seine Sünden bekennt, so verzeiht ihm der barmherzige Gott zum hundertsten Mal die ganze schuld und schenkt ihm die ewige Strafe. Ja, Gott nimmt ihn so huldvoll und sanftmütig auf, daß es scheint, Er schätze sich glücklicher, dem Sünder verzeihen zu können, als dieser, die Verzeihung zu erhalten. Diese wunderbare Schonung gegen seine Beleidiger bezeugt Jesus selbst durch die rührende Zärtlichkeit, mit welcher Er den achtunddreißig-jährigen Kranken heilt, den Oberzöllner Zachäus bekehrt, daß samaritanische Weib und die Sünderin Magdalena begnadigt, den gefallenen Petrus anblickt und dem reuigen Schächer das Paradies zusichert. Noch mehr: Er freut sich in übergroßer Freude, wenn der Sünder nur kommt und seine Gnade annimmt. So jubelt Jesus beim Wiederfinden des verlorenen Schäfleins: „Freuet euch mit Mir; denn Ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war“ (Luk. 15); und bei der Rückkehr des verlorenen Sohnes frohlockt Er: „Lasset uns essen und fröhlich sein: denn dieser mein Sohn war tot und lebt wieder, er war verloren und ist wieder gefunden.“ (Luk. 15) – O bewundere diese Barmherzigkeit Gottes aber treibe keinen Spott mit ihr, sondern umfasse sie wie die hl. Afra! –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 734 – S. 735