Von der Wertschätzung der übernatürlichen Gnade
Das Zusammenleben der Margareta mit dem reichen Kaufmann in Montepulziano und ihre schreckliche Trennung von demselben ist ganz geeignet, dir bei einigem Nachdenken den Wert der übernatürlichen Gnade Gottes zur lebendigen Anschauung zu bringen. Es genügen dazu schon die zwei Gründe:
1. Die göttliche Gnade ist zum Heil notwendig. Durch den Propheten Ezechiel spricht Gott die Verheißung aus: „Ich will euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euch legen: Ich will weg nehmen das steinerne Herz aus eurem Leib und euch ein Herz von Fleisch geben. Ich will meinen Geist in euch legen und machen, daß ihr nach meinen Geboten wandelt, meine Rechte in Acht habt und danach tut.“ (Ezech. 36) Diese Verheißung hat Gott an Margarita erfüllt, als sie im Gebüsch neben der Leiche des Kaufmannes stand. Sie hatte bis zum 25. Lebensjahr ein Herz von Stein gegenüber der Stimme des Gewissens, des natürlichen Scham- und Ehrgefühles, des Gesetzes Gottes; Er gab ihr ein Herz von Fleisch, ein menschliches Herz, das wieder schauderte ob der Hässlichkeit der Sünde, sich fürchtete vor dem Zorn des beleidigten Gottes, sich in Tränen der Reue ergoß und sich anstrengte, die Gebote des Herrn zu befolgen. Ohne diese göttliche Gnade hätte Margarita ihr bisheriges Leben fortgesetzt, das ihrem Leichtsinn so wohl gefallen, ihrer Sinnlichkeit so viele Freuden verschafft und ihrem Stolz so reiche Nahrung eingetragen hatte; denn es läßt sich von ihrem Standpunkt aus gar kein Grund angeben, warum sie eine andere Lebensweise hätte anfangen sollen, zumal sie in Montepulziano oder anderswo genug Persönlichkeiten würde gefunden haben, welche die Stelle des getöteten Kaufmannes übernommen hätten. Ganz bestimmt erklärt der Kirchenrat von Trient: „Wenn Jemand sagt, der Mensch könne ohne Eingebung des heiligen Geistes und ohne dessen Beistand glauben, hoffen, lieben und Buße tun, wie erfordert wird, damit ihm die Gnade der Rechtfertigung verliehen werde, der sei im Bann.“ (Sitzung 6). Die Gnade hat also für das ewige Heil denselben Wert, wie das Leben für das irdische Dasein.
2. Die Gnade ist eine freiwillige Gabe Gottes, d. h. Gott verleiht dem Menschen ohne sein vorher gegangenes Verdienst, nur aus freier Liebe und Güte ein neues Herz und einen neuen Geist. Diese Wahrheit verkündet Jesus mit den tiefsinnigen Worten: „Niemand kann zu Mir kommen, wenn der Vater, der Mich gesandt hat, ihn nicht zieht.“ (Joh. 6) Aber, – diese Frage drängt sich hier auf – warum hat der Vater die Margarita gezogen, daß sie zu Jesus kam und eine Heilige wurde, und warum hat Er den Kaufmann nicht gezogen, sondern in der Unbußfertigkeit sterben lassen? Margarita – so scheint es – verdiente die Hölle in gleichem Grad, wie ihr unglücklicher Liebhaber; denn Beide hatten ja mit einander gesündigt, mit einander Gott beleidigt und waren folglich mit einander strafbar. Den Grund, warum der himmlische Vater diesen Unterschied machte, warum Er dem Kaufmann zürnte, der Margarita sich erbarmte, warum Er an Jenem die Strenge seiner Gerechtigkeit, an dieser die Fülle seiner Barmherzigkeit offenbarte, gibt der hl. Paulus an mit den Worten: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind deine Gerichte und wie unerforschlich seine Wege! Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat Ihm zuerst etwas gegeben, daß es Ihm wieder vergolten werde?“ (Röm. 11) Der hl. Augustin sagt: „Den einen straft Gott in seinem Zorn, damit du nicht vermessentlich auf seine Barmherzigkeit hin sündigst; dem anderen gibt Er seine Gnade, damit du nicht verzweifelst.“ Darum ist die Gnade so unendlich kostbar, weil sie ein ganz unverdientes, freies Geschenk ist. O weise die Güte des himmlischen Vaters, da Er dich zieht, nicht von dir! –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 136-137