Öffnung der Seite Jesu mit einer Lanze
Da es Rüsttag (Vorsabbat, d.i. Tag vor dem Sabbat) war, baten die Juden, damit die Leiber nicht über den Sabbat am Kreuze blieben (jener Sabbat nämlich war groß) (1), den Pilatus, daß ihnen die Beine gebrochen und sie herab genommen werden möchten. Darum kamen die Soldaten und zerbrachen zuerst die Beine des einen und dann des andern der mit Jesus Gekreuzigten. (2) Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, daß er schon gestorben war, zerbrachen sie seine Beine nicht, sondern einer von den Soldaten (3) öffnete mit einer Lanze seine Seite (4) und sogleich kam Blut und Wasser heraus. (5) Und der es gesehen, gibt Zeugnis davon, und sein Zeugnis ist wahrhaftig; und er weiß, daß er Wahres sagt, damit auch ihr glaubt. Denn dies geschah, damit die Schrift erfüllt würde: „Ihr sollt an ihm kein Bein zerbrechen.“ Und wieder eine andere Schriftstelle sagt: „Sie werden sehen, wen sie durchbohrt haben.“ (6)
Als es bereits Abend wurde (7), kam ein reicher Mann von Arimathäa (8), mit Namen Joseph; er war ein vornehmer Ratsherr (9), ein guter und gerechter Mann, der auch das Reich Gottes erwartete und ein Jünger Jesu war, aber insgeheim, aus Furcht vor den Juden. Er hatte auch nicht zugestimmt zu ihrem Beschluss und Tun. (10) Dieser ging mutig zu Pilatus und bat um den Leichnam Jesu. Pilatus wunderte sich, daß Jesus schon tot sei, und ließ den Hauptmann kommen und fragte ihn, ob Jesus schon gestorben sei. Als Pilatus es vom Hauptmann erfahren, schenkte er Joseph den Leichnam Jesu. Nachdem Joseph feines Linnen gekauft hatte, nahm er den Leichnam ab. Es kam auch Nikodemus, der vormals des Nachts zu Jesus gekommen war, und brachte eine Mischung von Myrrhe und Aloe, gegen hundert Pfund. (11) Sie nahmen nun den Leichnam Jesu und wickelten ihn samt den Spezereien in die reine Leinwand (12) ein, wie es Sitte der Juden ist, zu begraben.
Joseph hatte aber an dem Ort, wo Jesus gekreuzigt wurde, einen Garten, und in dem Garten ein neues Grab, das er für sich im Felsen hatte aushauen lassen, in das noch niemand gelegt worden war. (13) In dieses legten sie, weil es in der Nähe war, wegen des Rüsttages (14) der Juden den Leichnam Jesu, wälzten einen großen Stein vor die Türe des Grabes und gingen dann hinweg.
Die Frauen, die mit Jesus aus Galiläa gekommen, waren dem Leichenzug gefolgt und sahen das Grab, und wie er beigesetzt wurde. Maria Magdalena aber und die andere Maria (15), Josephs Mutter, blieben noch dem Grabe gegenüber sitzen. Dann kehrten sie in die Stadt zurück.
Am andern Tage aber, der auf den Rüsttag folgte, versammelten sich die Hohenpriester und Pharisäer bei Pilatus (16) und sprachen: „Herr, wir erinnern uns, daß jener Betrüger (17), da er noch lebte, gesagt hat: Nach drei Tagen werde ich auferstehen. Befiehl also, daß das Grab bis zum dritten Tage bewacht werde, damit nicht etwa seine Jünger kommen, ihn stehlen und zum Volk sagen: Er ist auferstanden von den Toten, und so der letzte Betrug ärger wäre als der erste.“ Pilatus erwiderte ihnen: „Ihr habt eine Wache (18), geht, laßt es bewachen, so gut ihr es versteht.“ Sie aber gingen hin und sicherten das Grab, nachdem sie den Stein versiegelt, mit der Wache. (19)
Die frommen Frauen ruhten indes während des Sabbats dem Gesetz gemäß. (20) Sowie aber der Sabbath vorüber war, kauften Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome Spezereien und Salböle, die sie herrichteten, um hinzugehen und Jesus zu salben.
(1) Das Gesetz verbot (Dt. 21,22f) überhaupt, die Leiche eines Hingerichteten, die zur Verschärfung der Strafe noch aufgehängt oder gekreuzigt war, über Nacht hängen zu lassen. Hier kam hinzu, daß der Sabbat bevorstand; jener Sabbat aber war „groß“, d. h. besonders heilig, weil er zusammentraf mit dem ersten Oster-Festtag.
(2) Das Zerschmettern der Beine mit Keulen kam auch als selbständige Strafe vor; hier sollte es den Tod beschleunigen, und zwar auf eine grausame Weise, damit an der Härte der Strafe nichts gemindert würde. Schien aber bei einem Gekreuzigten der Tod schon eingetreten, so wurde, zu voller Sicherheit, ein Todesstoß gegeben. So auch hier bei Jesus; wäre er noch nicht tot gewesen, dieser bei der geringen Höhe des Kreuzes mit Sicherheit von Soldatenhand geführte Stoß musste ihn töten. Aber Jesus war bereits tot, wie das Evangelium nachdrücklich hervorhebt.
(3) Dem Soldaten, der den Lanzenstich führte, gibt das römische Martyrologium unter dem 12. März den Namen Longinus. Weil aber der Hauptmann selbst schon im Evangelium des Nikodemus (cap. 11) wie bei späteren Geschichtsschreibern (vgl. die Bollandisten, Act. Sanct. d. 15. Mart., und Baronius, Annales eccl. Ad a.34, n.127 u. 187) Longinus genannt wird, so wird er mit jenem Soldaten für gleichbedeutend gehalten. Nach einigen hätte er eigentlich Cassius geheißen, von dem Stich mit der Lanze (griech. Lonchê) aber den Namen Longinus erhalten.
(4) Der Lanzenstich traf sicher das Herz Jesu, da er für den Fall, daß Jesus noch einiges Leben in sich habe, absolut tödlich sein sollte. Nach den ältesten Nachrichten (besonders der äthiopischen Übersetzung der Heiligen Schrift) führte der Soldat den Stoß von der rechten zur linken Seite in das Herz. Der Stoß war hiernach ein gewaltiger, wie auch daraus erhellt, daß er eine Öffnung zurück ließ, in die Thomas seine Hand legen konnte, demzufolge die Lanze mindestens 10-12 cm in die Brust eindrang.
(5) Daß aus dem bereits toten Körper Blut und Wasser floß, war ein Wunder, wie die heiligen Väter hervorheben und auch der Evangelist Johannes nachdrücklich bezeugt (Joh. 19,35; 1. Joh. 5,8); zugleich beteuert hier der hl. Johannes nachdrücklich als Augenzeuge die Tatsache, daß Jesus kein Bein zerbrochen, sondern die Seite geöffnet worden sei, so daß auch hier wieder ein großes geheimnisvolles Vorbild (das Osterlamm, Ex. 12,46), sowie eine große Prophetie (Zach. 12,10) ihre Erfüllung gefunden habe. Dieses Blut und Wasser sind nach den heiligen Vätern die Symbole der Sakramente der Kirche, insbesondere der heiligen Taufe und des heiligsten Altarsakramentes. Das Öffnen der Seite des am Kreuz entschlafenen Heilandes, des zweiten Adam, ist nach ihnen die Erfüllung des in der Erschaffung der Eva gegebenen Vorbildes. Aus der Seite des neuen Adam, unseres geistigen Stammvaters, wird hier die wahre Eva, die geistige Mutter der Lebendigen, die Kirche, die Braut Christi, gebildet. Nach dem hl. Augustinus ist uns hier eine Türe des Lebens geöffnet, die durch die Türe an der Seite der Arche vorgebildet war, durch die alles einging, was nicht in der Sündflut zu Grunde gehen sollte. (Vgl. S. Cyrillus Alex., Comm. In Ioann. 1. 12; S. Aug., Tract. 120 in Ioann.) – An all dieses erinnert uns die Kirche am Fest des heiligsten Herzens Jesu; sie erblickt in diesem Geheimnis das Siegel und die Vollendung der Hinopferung Jesu am Kreuz, die Erinnerung an seine Liebe und sein geheimnisvolles Leiden im heiligsten Sakrament sowie die Mahnung, zu diesem göttlichen Herzen zu fliehen, um dort Zuflucht zu suchen in all unseren Nöten und das Feuer seiner Liebe in uns zu entzünden. „Die Nägel und die Lanze“; sagt ein alter Schriftsteller, „rufen mir zu, daß ich wahrhaft mit Christus versöhnt bin, wenn ich ihn liebe. Longinus öffnete mir die Seite Christi mit der Lanze, und ich bin eingetreten und ruhe dort in Sicherheit“ etc. (Inter opera S. Aug., Manuale c. 23. Vgl. auch die schöne Stelle des hl. Bernhard, Serm. 3 de Pass. Dom. In den Lektionen der zweiten Nokturn dieses Festes)
(6) Sie sahen ihn damals, als sie ihn durchbohrten, mit Hohn und Verachtung; sie werden ihn wieder sehen mit Schmerz und Reue oder mit Schrecken und Verzweiflung, wenn er als Richter kommt und die Male seiner Wunden ihnen zeigen wird.
(7) Man musste mit der Bestattung eilen, weil mit dem Anzünden der Lichter der Sabbat begann. Joseph hatte sich offenbar schon mit den Jüngern und Frauen verständigt, das Linnen kaufen lassen und alles vorbereitet; jetzt ging er selbst zu Pilatus. Dazu gehörte großer Mut wegen des offenen Bekenntnisses Jesu vor den Juden gerade in dem Augenblick, wo diese triumphierten und Jesus das schmachvollste Ende genommen hatte. Übrigens mussten nach römischem Gesetz die Leichen der Hingerichteten deren Verwandten oder Freunden auf ihre Bitte zum Begräbnis ausgeliefert werden; doch setzten sich die Richter öfters über dieses Gesetz hinweg (vgl. Cicero in Verr. 6,45), und sicher hätten die Juden dessen Aufführung bei Pilatus zu verhindern gewußt, wenn etwa nur die allerseligste Jungfrau oder die Apostel etc. und nicht ein so vornehmer Mann den Leichnam begehrt hätte.
(8) Arimathäa ist nach einigen Gelehrten das heutige Ramla oder Ramleh. Neuere Gelehrte halten das heutige Rentis, (…), 15 km von Lydda, für das alte Arimathäa.
(9) Mitglied des Hohen Rates. Seine Würde und sein Reichtum gaben ihm die Zuversicht, daß seine Bitte gewährt werde. Aus dem Ausdruck: Pilatus „schenkte“ den Leichnam, schließt man wohl nicht mit Unrecht, daß Joseph bereit war, wenn nötig, auch die bekannte Habsucht des Pilatus zu befriedigen.
(10) Wo es galt, war er wohl aufgetreten für Jesus, ähnlich wie Nikodemus.
(11) Römische Pfunde, zusammen etwas über 32 kg; ein Pfund = 325 g. Man war im Altertum und besonders im Orient bei Bestattungen sehr freigebig mit Spezereien; so wurden bei dem Begräbnis des Herodes die Spezereien (nach Josephus, Jüd, Krieg 1,33,9) von 500 Sklaven getragen. – Bei dem Begräbnis Jesu war die Liebe nicht karg. Myrrhenharz und Aloeholz wurden zu Pulver gestoßen, vermischt und zwischen die Binden gestreut, mit denen der Leichnam eingewickelt wurde. Die Ägypter dagegen füllten die Leiche selbst mit den Spezereien an.
(12) Das Evangelium sagt: „Sindon“, d.i. „indische“ oder allgemein: „sehr feine, kostbare“ Leinwand. – Daher rührt, wie schon der hl. Hieronymus bemerkt, der Gebrauch der Kirche, den Leib des Herrn im heiligen Sakrament auf Leinwand (die Korporalien) zu legen.
(13) Alles dies war von der göttlichen Vorsehung so geordnet; das Grab musste in der Nähe der Kreuzigungsstätte sein wegen des Sabbats; es musste unentweiht sein, so forderte es die Würde Jesu; es musste in den Felsen gehauen sein, damit niemand sagen könne, es sei erbrochen und der Leichnam gestohlen worden. In einem neuen, reinen Felsengrab ruhte nun der Leichnam Jesu, wie er bei seinem Eintritt in die Welt im reinsten Schoß der Jungfrau geruht. Auch begann hier die Verherrlichung Jesu durch Erfüllung der Weissagung: „Man gab ihm bei Missetätern sein Grab, und bei einem Reichen ist er in seinem Tode“ (Is. 53,9); und auch die andere Weissagung sollte sich von nun an in herrlichster Weise erfüllen: „Sein Grab wird glorreich sein.“ (Is. 11,10)
(14) Weil die Zeit des hereinbrechenden Sabbats drängte. Das Grab befand sich in einer nur etwa 42m oder 70 Schritte nordwestlich von der Kreuzigungsstätte entfernten Felswand.
(15) Die „andere Maria“ war die Schwester oder nahe Verwandte der allerseligsten Jungfrau, die Frau des Alphäus oder Kleophas, die Mutter Jakobus des Jüngeren, des Joseph, Judas und Simon. Sie wird bald nach ihrem Mann, bald nach einem oder dem andern ihrer Söhne genannt.
(16) Mt. 27,62-66. In ihrem Triumph hatten sie beim Tode Jesu nicht sogleich daran gedacht. Erst nachträglich kam ihnen die Erinnerung, vielleicht veranlaßt durch die liebevolle Sorge, die sie dem Leichnam Jesu gewidmet sahen. In aller Frühe kommen sie daher zu Pilatus, und da sie dem Leichnam selbst nichts mehr anhaben können, wollen sie durch Wache und Siegel die Nichtigkeit der Weissagung feststellen. Sie mussten aber dadurch die Wahrheit der Auferstehung erst recht ins hellste Licht stellen. – Eine eingehende und treffliche Apologie dieses vom Unglauben vielfach angefochtenen Berichtes des hl. Matthäus gibt Kullmann, Die Wache am Grabe Christi und die Leugnung seiner Auferstehung, Würzburg 1887.
(17) „Jener Betrüger“ oder Verführer! So ließ sich nach dem hl. Augustinus der Sohn Gottes nennen zum Trost für seine Diener, wenn sie in ähnlicher Weise verleumdet und beschimpft werden. (In Psalm. 63; vgl. Off. Sabb. Sanct. Lect. 5)
(18) Die römische Tempelwache nämlich, die ihnen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Tempel während des Osterfestes zur Verfügung stand. (Josephus, Jüd. Altert. 20, 3,4)
(19) Die Wache sollte das Grab hüten; die Siegel aber sollten dazu dienen, sich der Treue der Wächter selbst zu versichern, damit sie nicht etwa sich bestechen und das Grab öffnen ließen. Was die Feinde an menschlichen Mitteln hatten, um jeden Versuch der Jünger und Freunde Jesu an dem Grab zu vereiteln, war angewendet. Jetzt erübrigte nur noch, daß Gott selbst die Wahrheit der Weissagung seines Sohnes beglaubigte.
(20) Lk. 23,56. Wie das Gesetz es vorschrieb, also bis zum Anzünden der Lichter am Abend. Dann aber konnten sie leicht noch am Abend in den hell erleuchteten Basaren alles Nötige einkaufen und herrichten, um am frühesten Morgen damit zum Grab zu eilen. Sie konnten den Augenblick kaum erwarten, der ihnen gestattete, Jesu den letzten Liebesdienst zu erweisen. Sie ahnten noch nicht, welcher Lohn ihrer harrte und wie sie die ersten Zeugen seiner glorreichen Auferstehung sein sollten!
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. II, Neues Testament, 1910, S. 553-558