Heiligenkalender
2. November
Heiliger Marzian, Einsiedler
(Vorzug der Nächstenliebe)
In Syrien war eine Stadt, Namens Cyrus, wo der berühmte Kirchenvater Theodoret als Bischof die christliche Kirche leitete. Da nun der hl. Marzian aus eben dieser Stadt gebürtig war, so ließ es sich der hl. Theodoret angelegen sein, dessen, Lebensgeschichte zu schreiben.
Marzian stammte aus einer angesehenen Familie, war dem Körper nach ausgezeichnet groß und schön, und hatte dabei einen lebhaften gewandten Geist, weshalb er bei Hof viele Aufmerksamkeit sich zuzog. Aber sein Herz war ergriffen von der Liebe Gottes; deshalb entsagte er gänzlich der Welt und verbarg sich in einer entfernten verborgenen Einöde. Hier machte er sich eine Zelle, welche so klein war für seinen großen Körper, daß er weder aufrechtstehen noch beim Liegen sich der Länge nach strecken konnte. Ein kleines Fenster brachte ihm Helle. Hier bestand nun seine ganze Beschäftigung darin, daß er Gott zuhörte, indem er die heiligen Schriften las, oder daß er zu Gott redete, indem er Psalmen sang und betete. Mit diesen Beschäftigungen wechselte er fortwährend ab und fand daran so viele Freude, daß er niemals davon satt wurde. Dieses unermüdliche Betrachten und die Vereinigung mit Gott bewirkte, daß er von den Wahrheiten und Geheimnissen des christlichen Glaubens außerordentliche Erleuchtung erlangte.
Marzian nahm zwar täglich Speise zu sich, aber erst am Abend, und so wenig, daß er fortwährend Hunger und Durst ausstand. Aber dieses unaufhörliche Fasten war ihm noch nicht genug zur strengen Zucht des Körpers, er belastete ihn außerdem noch mit 80 Pfund Eisen. Dabei führte er dennoch ein sehr glückliches Leben, indem sein Herz in der vollen Hingabe an Gott oft von wunderbarer Wonne und Tröstungen überströmt wurde.
Zuerst wollte er ganz allein leiben ohne einen Menschen zu sehen; nach einiger Zeit nahm er zwei Lehrjünger an, Euseb und Agapet, welche jedoch eine abgesonderte Wohnung hatten, wo sie beteten, sangen und sich mit dem Lesen der hl. Schriften beschäftigten. Euseb hatte allein das Vorrecht, von Zeit zu Zeit bei Marzian nachzusehen, ob er nicht seiner Dienste bedürfe. Erst gegen Ende seines Lebens duldete er es, daß ihn die Leute nach dem Osterfest besuchten; und Alles lief hin zu ihm, teils um den wunderbaren Mann zu sehen, teils um von ihm Anweisungen zum Seelenheil zu bekommen. Besonders suchten ihn auch vornehme Personen auf; hingegen scheint es, daß Frauen und Mädchen keinen Zutritt bei ihm hatten.
Da sehr viele seine Belehrung und Leitung benützen wollten, ließ er ziemlich weit von seiner Zelle eine Wohnung herrichten, und Euseb gab ihnen dann die Unterweisung, wie er sie von dem Lehrmeister bekommen hatte. Auf diese Weise bildete er verschiedene Personen, die sich nachher durch große Tugend auszeichneten und selbst eine Menge von Klöstern errichteten, wo dann die Regeln des hl. Marzian eingeführt wurden.
Es scheint, daß er keine Wunder gewirkt hat, und zwar aus Furcht, daß ihm solches Versuchung werden könnte zu eitlem Ruhm. Man kann aber aus einem Ereignis abnehmen, daß ihm die Wundergabe wohl zu Gebot gestanden wäre, wenn seine tiefe Demut ihn nicht abgehalten hätte sie anzuwenden. Ein vornehmer Mann, welcher zur Zeit, da Marzian noch in der Welt lebte, zu seinen besten Freunden gehörte, hatte vergebens ihn gebittet, seiner besessenen Tochter zu helfen. Da beredete er einen alten Mann, welcher bei dem hl. Marzian täglich Zutritt hatte, ein Fläschchen Öl vor die Türe seiner Zelle zu stellen, in der Hoffnung, daß dadurch schon das Öl gesegnet werde. Als Marzian solches bemerkte, tat dieses große Vertrauen seiner Demut so leid, daß er jenem Greis drohte, ihn nicht mehr vor sich zu lassen. Bei dem Gebrauch des Öles aber schrie der böse Geist, daß Marzian ihn vertreibe, und das Mädchen ward alsbald geheilt.
Man könnte auch noch Folgendes ein Wunder des Glaubens nennen. Eine große Schlange hatte angesetzt auf Marzian loszuschießen; Euseb schrie ihm zu, sich zu flüchten. Da tadelte Marzian seinen Schüler wegen dieser Zaghaftigkeit, machte das Zeichen des Kreuzes und hauchte gegen die Schlange; alsbald fiel diese in Stücke auseinander. Derselbe Euseb wollte ihn auch beobachten, was er während der Nacht mache; da sah er, daß Marzian die hl. Schrift lese ohne Lampe, dafür aber ein himmlisches Licht über seinem Haupt leuchte. Euseb erschrak darüber und bekam noch größere Ehrfurcht vor dem Heiligen.
Wie seine Wundergabe, so suchte Marzian auch seine Weisheit demütig zu verbergen. In einer andern Gegend der Wüste wohnte ein alter Einsiedler, Namens Avit. Obschon derselbe selbst ein sehr strenges Leben führte, so ließ er sich doch durch den Ruf der ungewöhnlichen Vollkommenheit des hl. Marzian bewegen, ihn zu besuchen. Dieser nahm den Einsiedler sehr freundlich auf. Teils aus Liebe, teils um seine strenge Lebensweise zu verbergen, befahl er dem Euseb eine Mahlzeit aufzusetzen, da es noch früh am Tage war. Da nun Avit, welcher auch gewöhnt war, erst nach Sonnen-Untergang zu essen, lange sich weigerte, schon so früh Speise zu nehmen, seufzte Marzian aus tiefer Brust, indem er sprach: „Du siehst wohl, wie ich dich getäuscht habe; du hast dich hierher bemüht, um einen bußfertigen strengen Mönch zu sehen, und findest nur einen weltlichen Menschen, der gern gut ißt.“ Gerührt von diesen Worten nahm Avit Speise zu sich und sagte, er hätte sogar lieber Fleisch essen wollen, als seinen Gastfreund dergestalt reden hören. Hierauf gestand ihm der hl. Marzian, daß er zwar auch gleich strenge Lebensweise einzuhalten suche, daß er aber geglaubt habe, hier müsse das fasten der Liebe weichen; denn das fasten sei hier Sache der freien Wahl, die Liebe hingegen ein Gebot Gottes selbst. Sie aßen dann und blieben drei Tage beisammen, um einander zu erbauen.
Manchmal ist es anders nicht möglich, irgend Jemanden eine Rücksicht, einen Gefallen zu erweisen, oder ihm einen Ärger zu ersparen, als wenn man auf eine fromme Übung, ein gutes Werk verzichtet, woran man sonst gewöhnt ist. Was soll man in diesem Fall tun? Obige Begebenheit gibt Antwort für manche derartige Fälle. Die Ausübung der Nächstenliebe muss mehr gelten, als eine freiwillige gute Übung. Wenn du z. B. gewöhnt bist, auch unter der Woche täglich in die hl. Messe zu gehen, und eine schwer kranke Person bittet dich zur Zeit, wo es zusammen läutet, bei ihr zu bleiben, so tue was die Nächstenliebe verlangt; oder ein Dienstbote, eine Tochter möchte jede Woche die hl. Sakramente empfangen oder eine Wallfahrt von mehreren Tagen machen, sie weiß aber, daß ihre Angehörigen sich darüber sehr erzürnen, weil manche Arbeit liegen bleibt. Hier gebietet die Rücksicht auf Andere, nicht so oft, als es das Herz wünscht, zu beichten und zu kommunizieren. Denn es ist nicht geboten, täglich in die Kirche und wöchentlich zum Tisch des Herrn zu gehen, wohl aber den Nächsten zu lieben. Ganz anders verhält sich aber die Sache, wenn ein bestimmtes Gebot, eine Pflicht entgegen steht der Rücksicht auf den Nebenmenschen; hier geht immer die Pflicht vor. Wollte z. B. eine Herrschaft, daß ihr Dienstbote auch am Sonntag nicht in die hl. Messe gehe, oder daß es Jemanden anlüge, um der Herrschaft eine Verlegenheit zu ersparen: da dürfte durchaus nicht aus Menschen-Rücksicht das Gebot Gottes oder der Kirche übertreten werden. Auch hierüber finden wir im Leben des hl. Marzian ein Beispiel.
In der Wüste lebte auch ein Einsiedler, Namens Abraham, welcher in allen Tugenden ausgezeichnet war, insbesondere aber so von Zerknirschung durchdrungen, daß er fortwährend weinte. Dennoch ließ er sich nicht bewegen, die von der allgemeinen Kirchen-Versammlung von Nicäa fest gesetzte Osterzeit anzunehmen, sondern feierte seine Ostern immer noch in der Zeit, wie es in Syrien alt herkömmlich war. Marzian gab sich alle mögliche Mühe, ihn zu bereden, daß er sich der Anordnung der allgemeinen Kirche füge – allein vergebens. Da hatte Marzian die Wahl, ob er noch ferner Abraham besuchen und mit ihm beten wolle, oder ob er sich von dem trenne, welcher sich der Kirche nicht fügen wollte. Marzian trennte sich ganz von seiner Gemeinschaft, und gerade diese Strenge bewirkte, daß Abraham zur Einsicht kam und der Kirchenordnung sich unterwarf.
Einst verabredeten sich die vier Bischöfe von Syrien, in Begleitung von einigen angesehenen und sehr frommen Männern bei dem hl. Marzian mit einander einen Besuch zu machen. Als sie ihn aufgefunden hatten, blieben sie stillschweigend stehen in der Erwartung, daß Marzian zu ihnen sprechen werde; allein dieser blieb auch ganz stumm. Endlich bat ihn einer seiner besten Freunde, er möge doch, dem Wunsch der heiligen Kirchen-Vorsteher gemäß, etwas Belehrendes und Erbauliches zu ihnen reden; da seufzte Marzian aus tiefer Brust und sprach: „Gott unterweist uns alle Tage über unsere Pflicht durch seine Geschöpfe und durch die hl. Schrift – und wir hören nicht darauf. Wie könnten sonach die Worte des Marzian etwas nützen, da er selbst auch nicht mehr, als die Andern, das benützt, was Gott uns sagt?“ Hierauf ließen sich die Bischöfe mit ihm in Unterredung ein, worauf sie mit einander beteten und sich wieder entfernten.
Da das Alter des Marzian schon so vorgerückt war, daß das Ende seines Lebens nahe schien, ließ sein Neffe Alypius und viele Andere eine Kapelle bauen, in der Hoffnung, den Leib des Heiligen einst hier beisetzen zu lassen. Da Marzian solches erfuhr, ließ er den Euseb mit zwei andern Jüngern, zu denen er Vertrauen hatte, schwören, daß sie ihn beerdigen werden und vor Abfluss vieler Jahre keinem Menschen den Ort sagen wollten. So geschah es dann auch; nachdem er gestorben war, begruben Euseb und die beiden Andern alsbald ihren Lehrmeister und bedeckten das Grab in solcher weise, daß man es nicht erkennen konnte; dann erst machten sie bekannt, daß er gestorben sei. Eine Menge Leute gaben sich nun Mühe, sein Grab zu entdecken, konnten es aber nicht finden. Erst ach langer Zeit, da nur noch ein Einziger von den Drei am Leben war, entdeckte dieser den Ort, wo Marzian begraben lag. Da wurde ihm nun ein Grabmal von Stein errichtet mitten in der Wüste, nachdem jene für ihn erbaute Kapelle schon längst durch Reliquien von andern Heiligen geweiht war. Sein Grab wurde dann häufig besucht und durch mehrere Wunder verherrlicht.
So erstreckte sich die Demut des hl. Marzian auch noch über das Grab hinaus durch die Vorsorge, daß seinem abgestorbenen Körper keine besondere Ehre erwiesen werde. –
aus: Alban Stolz, Legende oder der christliche Sternhimmel, Bd. 4 Oktober bis Dezember, 1872, S. 188 – S. 193