Ernste Worte an Eltern und Erzieher sowie an alle Kinderfreunde
von P. Franz Seraph Hattler SJ
Einleitung
Es ist bis auf die jüngste Zeit herab viel Redens gewesen in gelehrten und ungelehrten Büchern, wie Europa , das Weltstück, auf dem wir wohnen, die andern Viertel an Bildung und Menschlichkeit und Aufklärung übertreffe. Man hat die schwärzesten Farben gebraucht, um zu malen, wie es zum Beispiel bei den Schwarzen in Afrika unmenschlich wild zugehe. Es ist nun freilich wahr: es geht dort wirklich wild zu; aber wenn es bei uns daheim in Europa noch eine Weile so fortgeht, wie es jetzt im Zuge ist, dann wird Europa noch ein Ausbund von Ungerechtigkeit, Roheit und Wildheit. Wir wollen da nur eine einzige Sache in Betracht nehmen.
In Afrika ist die Unsitte, dass die Leute auf Kinderraub ausgehen. Die Kinder haben dann Unsägliches zu leiden; abgesehen von dem Herzeleid, Vater und Mutter zu verlieren und nie mehr ihr Lebenlang wiedersehen zu können, gibt es Schläge und Stöße, Sonnenbrand von oben und harten Weg von unten, Hunger und Durst zu leiden, und sie müssen Sklaven bleiben, solange sie leben, und täglich erwarten, dass ihre Herren sie wie ein Stück Vieh verkaufen. — Das ist nun gewiss himmelschreiende Sünde und Wildheit, so schwarz wie das Gesicht der Leute, welche solches treiben.
Siehe dazu den Beitrag: Das Los von Sklavenkinder in Afrika
Und in Europa? —
Was die katholische Kirche den Kindern getan
Christus, der göttliche Freund der Kinder, hat denselben ein warmes Bett gebettet; dieses Bett ist das Mutterherz der katholischen Kirche. Ihr hat er von der Liebe seines guten Herzens einen reichen Schatz ins Herz gelegt für die Kindheit und Jugend; und sie hat auch überall und zu jeder Zeit, wo man sie hat schalten lassen, den Kindern eine ganz mütterliche Liebe erzeigt.
Sie hat nicht bloß die Seele des Christenkindes in der Taufe neugeboren zum Gotteskinde und es dann durch Lehre und Tat großgezogen in Tugend und Heiligkeit; sie hat auch Vater und Mutter gelehrt, ihr Kind christlich zu lieben und für sein Leibeswohl liebreich zu sorgen. Sie hat wie ein Schutzengel gewacht, dass den Kindern in der Schule kein Gift in die junge, schwache Seele gespritzt werde. Sie hat viel Geld gesammelt und gebettelt, um arme Kinder aus der Sklaverei und aus dem Heidentum loszukaufen und sie von beiden freizumachen.
Dieses und noch viel anderes hat die katholische Kirche um Christi willen den Kindern getan und viele Tausende derselben zu Heiligen erzogen und unter die wildesten Leute wahre Bildung und ehrenhafte Gesinnung und zeitliches und ewiges Wohl gebracht.
Klagen von Eltern und Lehrern über die Wildheit der Kinder
Das ist aber in unserer Zeit gar viel anders geworden. Man hört auf einmal gar so viel Klagen und Jammern vieler Väter und Mütter, ihre Kinder seien bald nicht mehr zu erkennen, so dünkelhaft seien sie geworden, und vom Gehorsam wollten sie nichts mehr wissen; sie beten nicht gerne wie früher, sie zeigen sich trotzig und unwirsch, wenn man nicht nach ihrem Willen tut, und es kämen nicht selten Reden über ihre Zunge, dass es den Eltern darüber angst und unheimlich werde.
Auch die Lehrer in den unteren und oberen Schulen, nicht bloß die bravsten, auch die liberalsten derselben, haben seit einiger Zeit, wie sie selber klagen und sagen, schwere Not und großes Kreuz mit den Kindern und mit der Jugend; es sei keine Zucht, keine Ordnung, kein Gehorsam, kein Fleiß unter ihnen; sie könnten sich mitunter kaum mehr ihrer Haut erwehren vor den rohen Bengeln und haben allbereits — es ist das ganz und gar, selbst bei den Hottentotten, bisher unerhört gewesen — um ein Zuchthaus für Kinder gebeten!
Sage ich also nicht mit Recht: wenn das in Europa noch eine Weile so fortgeht, wird es noch ein Ausbund von Roheit und Wildheit und Unordnung aller Art, dass es sich endlich noch von den Zulus herüber seine künftigen Erzieher wird bestellen müssen?
Wie ist es zu dieser Situation gekommen?
Wie ist denn das eigentlich so gekommen? Es war doch früher gewiss nicht so. Wir ältere Leute sind doch auch einmal Kinder gewesen, und unser Großvater und die Muhme erinnern sich auch noch recht gut ihrer Kinderjahre, und wie sie und ihre Schulkameraden sich aufgeführt haben. Unkräuter hat es freilich immer gegeben; aber so viele und so giftige und stehende und beißende, wie heutzutage, gewiss nicht. Woher denn also auf einmal diese Masse von Brennnesseln, Disteln, Dornen und Stechäpfeln unter der Jugend?
Die Leute, die daran schuld sind, wissen’s eigentlich wohl; aber sie haben es nicht gern, wenn man öffentlich sagt, was sie öffentlich tun. Die Sache selber aber ist gar einfach gekommen, ganz ohne jegliches Wunder.
Das Schlechte im Kinde wächst nämlich wie Unkraut von selber; das Gute im Kindesherzen muss dagegen wie Getreide oder Wein mühsam besorgt werden. Tut man das nicht, oder hilft man noch gar dazu, neues Unkraut ins junge Herz zu säen, dann kann es natürlich nicht anders werden als eine rechte Brutstätte aller Schlechtigkeit.
Der liberale Zeitgeist verdirbt die Kinder
Nun hat in unsern Tagen der liberale Zeitgeist tapfer darauf losgearbeitet, die Kinder und die Jugend dem Einfluss des Christentums und namentlich der katholischen Kirche zu entziehen. Sie darf bereits vielfach nicht mehr die Kinder sorgfältig überwachen und leiten, darf nicht mehr die Eber, welche den zarten Weingarten Christi zerwühlen, überall abwehren und darf nicht mehr auf praktische Weise die Jugend ins gottesfürchtige, christlich tugendsame Leben einführen.
Er selber aber, der liberale Zeitgeist, hat entweder gar keinen oder nur den Scheinglauben ans Christentum und seine göttliche Kraft, und von Gottesfurcht hat er noch weniger im Herzen; und ohne die geht’s halt einmal nicht mit der Kindererziehung. Und so ist es kein Wunder, wenn das Schlechte im Kinde fortwächst und groß und größer wird und ausschlägt und wild und weh tut, sich selber zuerst und dann den Eltern und Lehrern und endlich allerhand andern Leuten in der Nachbarschaft.
Der Kindermord durch die Verführung zur Sünde
Aber neben dem liberalen Zeitgeist gibt es noch manch andere Leute auf der Welt, welche in unsern Tagen die Jugend verwildern helfen und auf das grausamste in die Sklaverei der Sünde verkaufen.
Bekanntlich hat seiner Zeit der politische Kopf Herodes viele Unschuldige Kinder, von denen keines ihm ein Haar gekrümmt hatte, grausam umbringen lassen. Aus diesem Kindermord hat Gott der Herr noch ein großes Glück für die armen Würmlein gemacht: er hat sie frühzeitig zu sich genommen, damit der Frost nicht ihr junges Herz erfriere, und jetzt danken sie ihm zu hunderttausend Malen für den Tod, den er sie hat für ihn erleiden lassen; sie dürfen die Märtyrerkrone tragen in Ewigkeit.
Aber es gibt einen Kindermord, aus dem auch Gott nichts Gutes mehr machen kann. Das geschieht, wenn in das kleine Herz des Kindes eine Sünde sticht und die Seele des Kindes am Stich der Todsünde dahinstirbt. Es ist eine große Frage, ob es noch einmal zum Leben komme und Buße tue und den Himmel gewinne. Jung gewohnt, alt getan!
Nun, mein Gott im Himmel, wieviel Kindermord gibt es heutzutage in der Welt, und was Kindermörder laufen ganz ungestraft überall offen herum! Da ist es oft Vater und Mutter selber, deren schlechtes, unsittliches und ungläubiges Leben dem Kinde die Gnade in der Seele ersticht. Da ist es die Kindsmagd, die ihm, bevor es noch zum Gebrauch der Vernunft kommt, Gewohnheiten beibringt, die es nicht mehr lässt, wenn es auch bereits weiß, es ist Sünde.
Einige Beispiele der Verführung
Da ist ein schlechter Kerl im Haus, der fein oder grob den Vergifter macht durch Rat und Tat. Da ist ein Schulkamerad, der angestochen ist und jetzt auch die andern, gesunden Schäflein mit seiner Räude wieder ansteckt. Da ist es ein Schullehrer, der wie ein Blutegel dem Kind langsam und unvermerkt den Glauben aus dem Herzen saugt und es zur Todsünde bringt; da ist es ein Theater oder eine Kunstreiterei, bei der die Unschuld zu Tode gespielt und geritten wird durch sündhafte Gedanken und Begierden, welche durch die Augen und Ohren einziehen.
Da ist es ein gottloses Buch und Bilder ohne Scham oder voll beißenden Spottes gegen Gott und Religion, gar fein gesponnene Fangnetze, an denen die Seele des Kindes sich erhängt. Da sind es Kindergärten, wo man von einer Religion und von einem Gott und von Tugend faselt, dass das Kind, wenn es zum Nachdenken kommt, davon nicht kalt und nicht warm spürt und demgemäß sich auch darum kein graues Haar wachsen lässt.
Da sind es die Fabriken, die oft nichts sind als rechte Räuberhöhlen voll Kindermörder. Da sind es die Tanzstuben und öffentlichen Badeorte, wo die Pest grassiert; schön wie ein Engel kommt das Kind hin, und schwarz wie der Teufel und noch schwärzer kommt es davon her!
Da sind es Leute, die aus dem Findelhaus Kinder annehmen, vorgeblich zur Erziehung, dann treiben sie schändliches Gewerbe mit ihnen, geben Unterricht im Lügen, Betteln, Stehlen, oder stecken das Geld, das sie für die angebliche Erziehung erhalten, für sich ein und lassen die armen Kinder langsam verhungern. O es ist himmelschreiend, was die Sonne bei Tag und der Mond bei Nacht sehen müssen von Schandtaten und Mordereien, welche die Menschen heutzutage an den Kindern vollführen.
Da tut es doch wahrlich not, dass man Lärm mache und hinaus ruſe in alle Herzen, die noch einen Funken christlichen Mitleides und Menschengefühles haben: Erbarmet euch doch der armen Kinder! Helft doch die Kinder retten!
Ernste Worte an alle Eltern, Lehrer und Kinderfreunde
Diesen Ruf erhebe ich allda in dieser Schrift. Ich richte ihn zunächst an alle Eltern, denen Gott die Kinder als sein eigenstes kostbares Eigentum zur Hinterlage übergeben und aus deren Händen er sie einst wieder zurückfordern wird. — Ich richte ihn an alle Lehrer und Erzieher, denen nach den Eltern zuallernächst die strenge, heilige und ernste Pflicht obliegt, die ihnen anvertrauten Kinder ihrer ewigen hohen Bestimmung entgegenzuführen.
Ich richte ihn endlich an alle edeln, großmütigen Herzen, um sie zu einem heiligen, gottgefälligen, dem Wohle der Menschheit förderlichen Werke aufzumuntern und anzufeuern. Da die Sache, wovon hier geredet wird, hochernst ist, werden es auch „ernste Worte“ sein müssen, die da gesprochen werden, um so mehr, da sie alle nur eine Auslegung und praktische Anwendung der Worte sein sollen, die Gottes Sohn und Gottes Wort selbst an alle Menschen gerichtet hat:
„Lasst die Kleinen zu mir kommen, und wehret es ihnen nicht.“
„Was ihr dem geringsten dieser Kleinen getan, das habt ihr mir getan.“
„Wehe dem Menschen, der eines dieser Kleinen ärgert. Es wäre ihm besser, wenn ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde.“
aus: Franz Hattler SJ, Ernste Worte an Eltern, Lehrer und alle Kinderfreunde, 1901, S. 1 – S. 5
Überschriften hinzugefügt.
Zur Biographie siehe: Wikipedia Stichwort Franz Seraph Hattler