Die Schuld des jüdischen Volkes

Die Schuld des jüdischen Volkes: Pietro Lorenzetti - Einzug Christi in Jerusalem

Die Verblendung der Feinde Christi – Die Schuld des jüdischen Volkes

Teil 3

Was aber das jüdische Volk anbelangt, welches vor Pilatus geschrien hat: „Er soll gekreuzigt werden!“ (Matth. Kap. 27, Vers 23) und : „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (ebd., Vers 25) hat es sich, im Großen und Ganzen genommen, an dem Leiden und Sterben des Herrn in weit entschuldbarerer und unsträflicherer Unwissenheit beteiligt, als dessen Vorsteher. Es hat weder ein genügendes Erkennen und Verstehen der heiligen Schriften besessen, noch vollkommen erkannt, dass Christus der Messias und der Sohn Gottes war. Denn haben auch viele an ihn geglaubt, so hat doch die große Menge an ihn nicht geglaubt.

Einerseits hörte dieses Volk die wunderbaren Lehren des Herrn, sah die Wunder, die niemand leugnen konnte, und beobachtete seinen heiligen Lebenswandel, und das alles machte es geneigt, ihn für den Messias zu halten und an ihn als den Sohn Gottes zu glauben; andererseits aber nahm es den Widerspruch, die Lästerung seiner Vorgesetzten gegen Christus, den Herrn wahr, sah es deren Hass und Feindseligkeit, deren Nachstellungen und Verfolgungen gegen ihn, und fürchtete es sich vor deren Drohungen, jeden aus der Synagoge auszuschließen, der sich für ihn erklären würde.

Verworrenheit der Ansichten und Meinungen innerhalb des jüdischen Volkes

Es konnte sich auch seine Herkunft, sein Leben und seine Reden selbst mit den wenigen, verworrenen Begriffen, die es von dem Messias und von seinem Reich aus der Schrift besaß, nicht zurechtlegen; und die Besten erwarteten von ihm die Wiederherstellung des irdischen Reiches Israel.

Von der Verworrenheit der Ansichten und Meinungen, welche in diesem Volk über Christus am Ende seiner Lehrjahre herrschten, gibt uns der heilige Johannes ein Bild, indem er von der Gegenwart des Herrn am letzten Laubhüttenfest zu Jerusalem berichtet:

„Es war viel Redens von ihm unter dem Volk. Denn einige sagten: Er ist gut. Andere aber sagten: Nein, sondern er verführt das Volk. Doch redete niemand öffentlich von ihm aus Furcht vor den Juden. Als aber das Fest schon bald vorüber war, ging Jesus hinauf in den Tempel und lehrte. Und die Juden verwunderten sich und sprachen: Wie versteht dieser die Schrift, da er sie doch nicht gelernt hat?“ (Joh. Kap. 7, Vers 12-16)

Als sie ihn lehren hörten, „sprachen einige von Jerusalem: Ist das nicht der, den sie töten wollen? Sieh, er redet öffentlich, und sie sagen ihm nichts. Haben denn die Vorsteher wahrhaft erkannt, dass dieser Christus ist? Doch wir wissen ja, woher dieser ist; wenn aber Christus kommen wird, weiß niemand, woher er ist.“ (ebd., Vers 25-28)

Ein Bild der Verwirrung im Volk und des Hasses der Vorgesetzten

Als ihnen der Herr sagte, woher er gekommen sei, „da suchten sie ihn zu ergreifen; aber niemand legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen. Es glaubten aber viele von dem Volk an ihn und sprachen: Soll denn Christus, wenn er kommt, mehr Wunder tun, als dieser tut?“ (ebd., Vers 30 u. 31)

Als der Herr fortfuhr, zu lehren, und von dem lebendigen Wasser sprach, das er gebe, nämlich von dem Geist, den jene empfangen, die an glauben, „sprachen einige von demselben Volk, welche diese Worte von ihm hörten: Dieser ist wahrhaftig der Prophet! Andere sagten: Dieser ist Christus! Einige aber sprachen: Soll denn Christus aus Galiläa kommen? Sagt nicht die Schrift: Christus kommt von dem Geschlecht Davids und aus dem Flecken Bethlehem, wo David war? Es entstand also unter dem Volk eine Spaltung um seinetwillen.“ (ebd., Vers 40-44)

Die Diener, welche von den Hohenpriestern und Pharisäern hingeschickt worden waren, um den Herrn gefangen zu nehmen und zu ihnen zu führen, kamen unverrichteter Dinge zurück und antworteten auf die Frage, warum sie ihn nicht hergebracht hätten: „Niemals hat ein Mensch so geredet, wie dieser Mensch.“ (ebd., Vers 46)

Die Hohenpriester und Pharisäer aber sprachen voll Unwillen zu ihnen: „Seid etwa auch ihr verführt? Glaubt wohl jemand von den Obersten oder Pharisäern an ihn? Aber dieses Volk, das vom Gesetz nichts weiß, es ist verflucht! Da sprach Nikodemus zu ihnen, derselbe, der des Nachts zu ihm gekommen, und einer von ihnen war: Richtet denn unser Gesetz einen Menschen, wenn man ihn nicht zuvor gehört und erkannt hat, was er tue? Sie antworteten und sprachen zu ihm: Bist etwa auch du ein Galiläer? Durchforsche die Schrift und sieh, dass aus Galiläa kein Prophet aufsteht. Und sie kehrten zurück, jeder in sein Haus.“ (Joh. Kap. 7, Vers 47-53)

Das ist das Bild der Verwirrung, die im Volk herrschte, und des Hasses, welcher die Vorgesetzten desselben beherrschte.

Die offensichtliche Verwirrung: ‚Hosanna‘ und ‚Kreuzige ihn!‘

Dasselbe Volk, welches bald darauf bei dem feierlichen Einzug des Herrn in Jerusalem ihm entgegengezogen ist und zugejubelt hat: „Hosanna dem Sohne Davids; hochgelobt, der da kommt im Namen des Herrn!“ (Matth. Kap. 21, Vers 9) schrie wenige Tage nachher vor dem römischen Landpfleger gegen ihn: „Hinweg mit diesem und gib uns den Barabbas los!“ (Luk. Kap. 23, Vers 18) Es hatte gesehen, dass Christus gefangen genommen, eingekerkert, von dem Hohenrat zum Tode verurteilt worden sei; darum vergaß es auf die Blinden, Tauben, Lahmen, Stummen, Aussätzigen, Gichtbrüchigen, die er geheilt, auf die Besessenen, die er befreit, auf die Toten, die er auferweckt hat; der Glaube an ihn war erschüttert; und so geschah leicht, was das heilige Evangelium sagt:

„Die Hohenpriester und Ältesten beredeten das Volk, dass sie den Barabbas begehren, Jesum aber töten lassen sollten.“ (Matth. Kap. 27, Vers 20) Daher sagt der heilige Thomas: „Sie sind nachher von ihren Obersten betrogen worden, dass sie ihn weder für den Sohn Gottes, noch für den Christus hielten.“ (Loc. cit. 0)

Auch das jüdische Volk war nicht ohne Schuld

Aber auch diese Unwissenheit konnte nicht ohne Schuld sein. Denn auch das Volk hatte den Herrn gesehen, seine Lehre gehört, seine Wunder gekannt und gesunde Sinne und einen gesunden Verstand besessen. Christus, der Herr, hatte auch die Schriftgelehrten und Pharisäer ihm so gezeichnet, dass es sich deren verführerischen Schlingen leicht hätte entziehen können. Er hat zwar gesagt: „Auf dem Stuhl des Moses sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Darum haltet und tut alles, was sie euch sagen“ (Matth. Kap. 23, Vers 2 u. 3); das heißt, was sie als Lehrer des Gesetzes und als rechtmäßige Vorgesetzte euch vorschreiben, wenn es nicht gegen das göttliche Gesetz ist.

Allein er hat auch hinzugefügt: „Nach ihren Werken aber sollt ihr nicht tun, denn sie sagen es wohl, tun es aber nicht.“ (Matth. Kap. 23, Vers 3) Er entlarvte diese Heuchler vor dem Volk und rief denselben das achtmalige furchtbare Wehe zu, weil sie das Volk beharrlich vom Glauben abhielten: „Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich den Menschen verschließt! Denn ihr selbst geht nicht hinein, und, die hinein wollen, lasset ihr auch nicht hinein.“ (ebd., Vers. 13)

Christus hielt den Vorstehern ihre Sünden vor

Er überwies sie vor dem Volk ihrer Irrtümer (ebd., Vers 14-25) und hielt ihnen ihre Sünden vor: „Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr übertünchten Gräbern gleicht, welche von außen vor den Menschen zwar schön in die Augen fallen, inwendig aber mit Totengebeinen und allem Unrat angefüllt sind! Gerade so erscheint auch ihr von außen zwar gerecht vor den Menschen, inwendig aber seid ihr voll Heuchelei und Ungerechtigkeit.“ (ebd., Vers 27 u. 28) –

„Ihr Schlangen, ihr Natterngezücht! Wie werdet ihr dem Gericht der Hölle entrinnen?“ (ebd., Vers 33) Das Volk war also kräftig und nachdrücklich genug gewarnt, um sich auch von diesen Scheinheiligen nicht betrügen zu lassen. Überdies hat es vor dem Pilatus die Anklagen der Hohenpriester, Schriftgelehrten und Pharisäer wider den Herrn gehört, um welcher willen sie dessen Kreuzigung forderten, und mussten von der Unwahrheit und Falschheit derselben überzeugt sein; da es ja selbst zu Jerusalem und im ganzen Land Augen- und Ohrenzeuge von dem war, was Jesus gelehrt und getan hat, und was gerade Gegenteil von allem war, was diese Feinde da vorbrachten.

Das Volk hatte das feierliche Urteil des Pilatus über die Unschuld Christi vernommen

Endlich hat dieses Volk auch das stets wiederholte und zuletzt noch feierlich ausgesprochene Urteil des Pilatus selbst über die Unschuld des Herrn vernommen, und zwar in Bezug auf alle Anschuldigungen, mit welchen sie seinen Tod am Kreuz begehrten. Dieses Volk hätte also die Wahrheit erkennen können, wenn es aufrichtig und ernstlich dieselbe hätte erkennen wollen, wie sie auch viele aus seiner Mitte wirklich erkannt haben. Dieses deutet auch Christus, der Herr, selbst an, und es hat sich an diesem Volk im Gazzen und Großen sein Wort bewahrheitet:

„Es wird an ihnen die Weissagung des Isaias (Isai Kap. 6, Vers 9) erfüllt, der sagt: Hören werdet ihr und nicht verstehen; sehen werdet ihr und doch nicht sehen. Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt, und sie hören schwer mit den Ohren und verschließen ihre Augen; damit sie nicht etwa sehen mit den Augen und nicht hören mit den Ohren und mit dem Herzen nicht verstehen und sich nicht bekehren, noch ich sie heile.“ (Matth. Kap. 13, Vers 14 u. 15)

Wer gesunde Augen und Ohren hat und dennoch nicht sieht, was man ihm vorhält, und nicht hört, was man ihm sagt; ja die Augen und die Ohren verschließt, damit er nicht sehe und nicht höre: der will eben weder sehen noch hören.

Wer ein Herz hat, zu verstehen, und doch nicht versteht, was verständlich genug ist; der will eben nicht verstehen. Wen endlich der göttliche Heiland heilen will, und wer doch nicht geheilt wird; der will eben nicht geheilt werden. Es fehlt da nicht an der Erkenntnis, sondern an dem Willen, der so boshaft ist, sich der Erkenntnis und der Heilung zu widersetzen. Wer könnte nun behaupten, dass dieses Volk in schuldloser Unwissenheit seinen Heiland verworfen, von sich gestoßen und gekreuzigt habe? Es ist von Gott nicht ohne Schuld so schrecklich gestraft worden; es hat aus eigener Schuld „die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannt“ (Luk. Kap. 19 Vers 41-45) und ist darum zu Grunde gegangen.

Die Juden, die hohen und die Niederen aus ihnen, haben sich selbst verblendet, in dieser Selbstverblendung den Gottesmord begangen und durch diesen Gottesmord sich selbst ins Verderben gestürzt.

Diese Tatsache ist eine große Lehre für jedermann. –
aus: Georg Patiss SJ, Das Leiden unseres Herrn Jesu Christi nach der Lehre des heiligen Thomas von Aquin, 1883, S. 241 – S. 245

Fortsetzung folgt: Teil 4 Folgen der Unwissenheit für uns

siehe von Georg Patiss auch Teil 1: Wie die Erkenntnis so die Schuld

Teil 2: Die Unwissenheit der jüdischen Vorsteher

und den wichtigen Beitrag: Die Urheber des Leidens Christi

sowie den Beitrag: Jesus beteuerte Seine Gottheit feierlich

Bildquellen

  • Pietro_Lorenzetti_-_Entry_of_Christ_into_Jerusalem_-_WGA13502_1: wikimedia

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