Unwissenheit schützt nicht vor Schuld – insbesondere die Unwissenheit, die aus Nachlässigkeit entsteht
Teil 4
Schuldbar ist eine Unwissenheit, wenn man etwas zu wissen verpflichtet ist und wissen kann, aber aus Nachlässigkeit oder Bosheit es zu wissen sich nicht bemüht und somit nicht wissen will. Über diese Unwissenheit, die aus der Nachlässigkeit entsteht, schreibt der heilige Augustinus:
„Dasjenige weiß der Mensch aus Nachlässigkeit nicht, was er mit Anwendung seines Fleißes hätte wissen sollen“ (De natur. et grat. c. 17); und der heilige Bernardus sagt: „Vieles, was man wissen soll, weil man nicht; entweder weil man sich darum nicht kümmert, es zu wissen; oder weil man zu träg ist, es zu lernen; oder weil man sich schämt, darum zu fragen.“ (Epist. 77. ad Hug. de S. Vict.) Diese Unwissenheit ist selbst eine sündhafte, weil man verpflichtet ist, sie zu beseitigen und diese Pflicht nicht erfüllt; und Sünde ist jede Pflichtverletzung, welche aus dieser Unwissenheit hervorgeht; weil man diese Unwissenheit verschuldet und sie somit schuldbarer Weise als Ursache gesetzt hat, aus welcher die Pflichtverletzung als Wirkung sich ergibt.
Noch schuldbarer und sträflicher ist die Unwissenheit, wenn man darum etwas nicht wissen will, um ungestört sündigen zu können. Über eine solche Unwissenheit schreibt der heilige Isidor: „Den Willen seines Herrn nicht wissen wollen, was ist das anderes, als den Herrn aus Stolz verachten wollen? Niemand entschuldige sich daher mit einer solchen Unwissenheit, weil Gott nicht bloß jene, die gegen ihre Erkenntnis fehlen, sondern auch diejenigen richtet, welche aus solcher Unkenntnis sündigen.“ (De summo bono. c. 17. sent. 6.)
Wie groß sind die Übel der Unwissenheit!
Die Unwissenheit in geistigen und religiösen Dingen stiftet großes Unheil.
Der heilige Laurentius Justinianus sagt: „O wie groß sind die Übel der Unwissenheit! Unter derselben liegt die Vernunft darnieder, kommt die Klugheit in Gefahr, erschlafft der Geist, verflüchtigt sich die Demut, verliert sich die Kraft, wird der Friede gestört, wird die Ordnung verwirrt, geht die Gnade verloren, erkalten die heiligen Begierden, die man gefasst hat.“ (De interiore conflictu c. 8)
Wenn man Gott nicht kennt, wie kann man ihn lieben? Wenn man die göttliche Lehre Christi und sein heiliges Gesetz nicht kennt, wie kann man darnach urteilen, wollen, reden, handeln, leben? Wenn man die Heilsmittel und deren rechten Gebrauch nicht kennt, wie kann man sie zum Heile verwenden? Wenn man die Kirche Christi nicht kennt, wie kann man ein würdiges Kind derselben sein? Wenn man seine Standespflichten nicht kennt, wie kann man sie erfüllen? Wenn man nicht weiß, was Tugend und Sünde sei; wie kann man jene üben und diese vermeiden?
Wenn man sich selbst nicht kennt und nicht weiß, woher der Mensch komme, wohin er gehe, was seine Lebensaufgabe sei; wenn man nicht weiß, was ein Christ und dessen Bestimmung sei: wie kann man als Christ oder auch nur als Mensch leben?
Wer sich daher um solche Kenntnisse nicht kümmert, um keinen Unterricht darüber sich bewirbt, die Christenlehre, die Predigt, die Lesung religiöser Bücher, die Betrachtung und das Gebet vernachlässigt und deshalb in den zum Heile notwendigen Dingen unwissend bleibt oder darin aus Nachlässigkeit nicht eine solche Kenntnis sich verschafft, dass er den Versuchungen und der Verführung widerstehen kann; der schwebt in größter Gefahr, seine Pflichten zu verletzen, in Sünden zu fallen, selbst den Glauben zu verlieren und zu Grunde zu gehen.
Das Weltwissen nützt nicht für das Seelenheil
Was nützt alle andere Wissenschaft, wenn die Wissenschaft des Heiles fehlt? Kann eine andere Wissenschaft den Menschen selig machen? Wie verkehrt ist also eine Erziehung und Bildung, die alles lehrt und einübt, aber die Religionswissenschaft und Religionsübung vernachlässigt! An Wissen wird der Mensch niemals den verworfenen Geistern gleich kommen, die aber ungeachtet ihres Wissens in Ewigkeit unglücklich bleiben. Es geschieht solche Weltweisen, was der heilige Paulus sagt: „Sie wurden eitel an ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ward verfinstert; sie gaben sich für Weise aus, sind aber zu Toren geworden.“ (Röm. Kap. 1, Vers 21 u. 22)
Wer aber auch den inneren Erleuchtungen und Mahnungen der Gnade widersteht und die äußeren Gnadenmittel nicht in Anwendung bringt, damit er seinen bösen Neigungen ungehindert nachhängen kann; der widersetzt sich dem heiligen Geist, dessen Gnadengaben er verschmäht und dessen Einwirkungen er sich entzieht und verschließt. Das Unglück und Verderben der verblendeten und verstockten Juden sollte für jedermann eine heilsame Warnung sein, sich vor den Sünden wider den heiligen Geist zu hüten.
Das jüdische Volk hatte ihre gesuchte und frei gewollte Unwissenheit
Aus dieser Erwägung ergibt sich, dass die Juden durch ihre gesuchte und frei gewollte Unwissenheit und durch ihre schuldbare Verblendung zu Gottesmördern geworden seien. Es liegt darin auch die Wahrheit offen am Tag, dass, je öfter und länger jemand der Gnade widersteht, die Verblendung und Verstocktheit sich vermehre und endlich die Unbußfertigkeit bis ans Ende erfolge. Denn ein solcher gewöhnt sich an den Widerstand gegen die Gnade, häuft Sünden auf Sünden, Bosheit auf Bosheit, mehrt dadurch die Verfinsterung im Verstand, die Schwäche des Willens, die Gleichgültigkeit des Herzens, die Macht der Leidenschaften, und kommt endlich dahin, dass an ihm das Wort der Schrift sich erfüllt:
„Wenn der Gottlose in den Abgrund der Sünden kommt, verachtet er es; aber es folgt ihm Schmach und Schande.“ (Prov. Kap. 18, Vers 3) Von den Juden ist das Wort des Herrn im Übermaße wahr geworden:
„Was hätte ich meinem Weinberg noch tun sollen, das ich nicht getan? Ich wartete, dass er Trauben brächte; warum hat er Heerlinge gebracht? Und nun will ich euch anzeigen, was ich meinem Weinberg tun will; wegnehmen will ich seinen Zaun, dass er geplündert, niederreißen seine Mauer, dass er zertreten werde. Ich will ihn in eine Wüste verwandeln; er soll nicht beschnitten, nicht behackt werden, Disteln und Dornen sollen darin aufwachsen; und den Wolken will ich gebieten, dass sie keinen Regen darauf herab gießen. Der Weinberg des Herrn der Heerscharen ist aber das Haus Israel.“ (Isai. Kap. 5 Vers 4-7)
Was dem jüdischen Volk geschah, das geschieht auch mit anderen Völkern und Personen
Man erwäge den Zustand des Volkes und seines Landes seit dem Gottesmord, mit dem es das Maß seiner Sünden voll gemacht hat, bis auf den heutigen Tag; und man wird die schreckliche Erfüllung dessen an ihm sehen, was ihm der Herr unter diesem Bild des Weinberges angedroht und zur Warnung vorausgesagt hat.
Ähnliches geschieht auch mit anderen Völkern, Gemeinden, Familien und einzelnen Menschen. Daher mahnt und warnt auch der heilige Paulus: „Täuschet euch nicht! Gott lässt seiner nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er auch ernten. Wer in seinem Fleische sät, der wird vom Fleisch auch Verderben ernten; wer aber im Geist sät, der wird vom Geiste ewiges Leben ernten. Lasset uns also Gutes tun und nicht ermüden; denn zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermüden. Darum lasset uns, da wir Zeit haben, Gutes tun.“ (Gal. Kap. 6, Vers 7-10) –
aus: Georg Patiss SJ, Das Leiden unseres Herrn Jesu Christi nach der Lehre des heiligen Thomas von Aquin, 1883, S. 245 – S. 249
siehe von Georg Patiss auch Teil 1: Wie die Erkenntnis so die Schuld
Teil 2: Die Unwissenheit der jüdischen Vorsteher
Teil 3: Die Schuld des jüdischen Volkes
und den wichtigen Beitrag: Die Urheber des Leidens Christi
sowie den Beitrag: Jesus beteuerte Seine Gottheit feierlich
siehe auch den Beitrag: Leo XIII. Der Glaube ist zu bewahren durch Studium und Gebet
Bildquellen
- Eccehomo1: wikimedia