Die Verblendung der Feinde Christi – Wie die Erkenntnis so die Schuld
Teil 1
Die Erfordernisse zu einer moralischen Handlung des Menschen sind die Erkenntnis des Verstandes, das Begehren des Willens und die Freiheit der Wahl. Es gibt keine freie Wahl, wo der Wille sich nicht für dieses oder jenes aus sich selbst bestimmt und entschließt; es gibt keinen Entschluss, und kein Begehren des Willens, wenn ihm nicht die Erkenntnis des Verstandes den Gegenstand weist und vorhält, nach dem er begehren, für den er sich entschließen kann. Die freie Wahl und das Begehren und der Entschluss des Willens setzen also die Erkenntnis des Verstandes als notwendige Grundbedingnis voraus, und zwar so, dass, wo keine Erkenntnis, auch kein moralischer Akt vorhanden, und wie die Erkenntnis, auch der moralische Akt beschaffen ist.
Handelt es sich daher um eine moralische Schuld, so kann dort keine Schuld gefunden werden, wo keine Erkenntnis der Sündhaftigkeit einer Handlung vorhanden war; und war eine Erkenntnis der Sündhaftigkeit der Handlung vorhanden, so ist die Schuld von der Art, wie die Erkenntnis. Wie also die Erkenntnis, so ist die Schuld.
Soll also ermittelt werden, welche Schuld die Feinde Jesu Christi, die ihn gekreuzigt, auf sich geladen haben, so muss zuvor festgestellt werden, welche Erkenntnis sie von der Sündhaftigkeit ihrer Handlung, und namentlich welche Erkenntnis sie von dem Herrn selbst gehabt, ob sie ihn als den Messias und als den Sohn Gottes erkannt haben. Hätten sie ihn nur als einen Verbrecher erkannt, welcher die Kreuzigung verdient, so würden sie durch die Kreuzigung keine Schuld auf sich geladen haben.
Hätten sie ihn als einen unschuldigen Menschen erkannt, so würden sie sich einfach eines Menschenmordes schuldig gemacht haben. Haben sie ihn als den Messias erkannt, der das irdische Reich Israel wieder herstellen sollte, so haben sie sich mit der Schuld befleckt, sich selbst und ihrem Volk den Retter und Befreier aus der Fremdherrschaft getötet zu haben.
Welche Erkenntnis haben die Hohenpriester und Pharisäer von Christus gehabt?
Haben sie ihn aber als den Sohn Gottes erkannt, so sind sie des Gottesmordes schuldig. Welche Erkenntnis haben sie also von Christus, dem Herrn, gehabt?
Diese Frage ist nicht so leicht zu lösen. Denn Christus, der Herr, hat am Kreuz gebetet: „Vater! vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Luk. Kap. 23, Vers 34) So betete er für seine Feinde, die ihn gekreuzigt haben und noch auf dem Kreuz verspotteten; und wollte man auch annehmen, dass er dieses Gebet für alle Sünder überhaupt verrichtet habe, so waren doch seine Feinde davon nicht ausgeschlossen, da er für alle Menschen ohne Ausnahme leiden und sterben wollte, um alle selig zu machen.
In diesem Gebet führt aber der Herr als Beweggrund für die Erhörung seiner Bitte deren Unkenntnis an: „Denn sie wissen nicht, was sie tun“; diese Unkenntnis kann aber nicht auf ihre Handlung, auf die Kreuzigung und auf die Lästerung bezogen werden, weil sich die Feinde dessen, was sie getan haben und taten, wohl bewusst waren, sondern sie muss auf ihn selbst bezogen werden, und diese Worte des Herrn bedeuten also so viel als: Sie wissen nicht, wer ich bin, an dem sie diese Handlung vollziehen, den sie gekreuzigt haben und verspotten. Der Herr scheint also seinen Mördern selbst das feierliche Zeugnis zu geben, dass sie ihn nicht erkannt haben.
Nach dem hl. Paulus haben die Feinde Christi ihn nicht erkannt
Auch der heilige Paulus schreibt an die Korinther: „Wir lehren Gottes Weisheit, die geheimnisvolle, die verborgene, welche Gott vor dem Anbeginn der Welt zu unserer Verherrlichung bestimmt hat, die keiner von den Fürsten dieser Welt erkannt hat; denn wenn sie dieselbe erkannt hätten, würden sie den Herrn der Herrlichkeit niemals gekreuzigt haben.“ (1. Kor. Kap. 2, Vers 7 u. 8)
Der Apostel redet hier von der Weisheit Gottes im Erlösungswerk, von der Weisheit des Kreuzes, welche „den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit, den Berufenen aber sowohl aus den Juden als auch aus den Heiden Gottes Kraft und Gottes Weisheit ist“ (ebd. Kap. 1, 23 u. 24); er redet hier von „den Fürsten dieser Welt“, welche „den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt haben“, also von dem Hohenrat der Juden, von Pilatus und von Herodes (Vide Act. Apost. Kap. 4, Vers 24-29); und er sagt von diesen, dass ‚keiner von ihnen‘ diese Weisheit, diese Verherrlichung, das Werk Christi, Christum, als „den Herrn der Herrlichkeit erkannt habe.“
Auch der Apostel scheint also zu bezeugen, dass die Feinde des Herrn, selbst die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Pharisäer, ihn nicht erkannt haben.
Auch nach dem hl. Petrus taten die Juden das Verbrechen aus Unwissenheit
Auf gleiche Weise hat der Apostelfürst Petrus zu den Juden von Christus gesprochen: „Diesen habet ihr überliefert und verleugnet vor dem Angesicht des Pilatus der geurteilt, dass er loszulassen sei; aber ihr habet den Heiligen und Gerechten verleugnet und verlangt, dass man euch den Mörder schenke. Den Urheber des Lebens aber habet ihr getötet.“ (Vide Act. Apost. Kap. 3, Vers 13 -15) Dann aber fügte er bei: „Und nun, oh Brüder! Ich weiß, dass ihr es aus Unwissenheit getan habet, wie auch eure Obersten.“ (ebd. Vers 17)
Auch Petrus behauptet also, dass nicht bloß das Judenvolk, sondern auch dessen Vorsteher den Herrn nicht gekannt und nicht gewusst haben, wen sie kreuzigten und töteten.
Dass nun Christus, der Herr, selbst und die beiden Apostelfürsten Petrus und Paulus die Juden und sogar deren Vorsteher mit ihrer Unkenntnis und Unwissenheit entschuldigten und somit bezeugten, sie haben den Gottmenschen aus Unkenntnis und Unwissenheit gekreuzigt und daher ihn nicht gekannt, unterliegt keinem Zweifel. Dass dies aber um so mehr von Pilatus, von seinen Soldaten und Henkersknechten angenommen werden müsse, versteht sich von selbst.
Es ergibt sich nun aber die Frage, was für eine Unkenntnis und Unwissenheit es gewesen sei. –
aus: Georg Patiss SJ, Das Leiden unseres Herrn Jesu Christi nach der Lehre des heiligen Thomas von Aquin, 1883, S. 229 – S. 232
Fortsetzung folgt
siehe von Georg Patiss auch den wichtigen Beitrag: Die Urheber des Leidens Christi
sowie den Beitrag: Jesus beteuerte Seine Gottheit feierlich
Bildquellen
- PLATE4DX: wikimedia