Die Lehre von dem Werk des Erlösers im allgemeinen
§ 1. Der Zweck der Menschwerdung
Der Sohn Gottes ist Mensch geworden, um die Menschen zu erlösen. De fide.
Das Symbolum Nicaeno-Constantinopolitanum bekennt: Qui propter nos homines et propter nostram salutem descendit de coelis et incarnatus est. D 86.
Die hl. Schrift bezeugt, daß Christus in die Welt gekommen ist, um die Menschen zu retten, zu erlösen von ihren Sünden. Der Prophet Isaias weissagte im Alten Bund: „Er selbst (Gott) wird kommen und euch erlösen“ (35,4). Der Name Jesus deutet seine Erlöser-Aufgabe an. Vgl. Mt. 1,21: „Du sollst seinen Namen Jesus nennen; denn er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden.“ Der Engel verkündete den Hirten von Bethlehem die Geburt Christi mit den Worten: „Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland (Salvator) geboren worden“ (Lk. 2,11). Der greise Simeon pries Gott für die Gnade, das Heil aller Völker schauen zu dürfen: „Meine Augen haben dein Heil geschaut, das du bereitet hast vor allen Völkern“ (Lk. 2,30f). Jesus selbst bezeichnete es als seine Aufgabe, „zu suchen und zu retten, was verloren war“ (Lk. 19,10; vgl. Mt. 9,13). Der Apostel Paulus faßt das Lebenswerk Christi in die Worte zusammen: „Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten“ (1. Tim. 1,15). Ähnlich Joh. 3,17: „Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, nicht damit er die Welt richte, sondern damit die Welt durch ihn gerettet werde.“
Als weiteren Zweck der Menschwerdung Christi nennt die Hl. Schrift wenigstens andeutungsweise die Verherrlichung Gottes, die der höchste und letzte Zweck aller Werke Gottes ist. VGL. Lk. 2,14: „Ehre sei Gott in der Höhe!“ Jesus bekennt im hohepriesterlichen Gebet: „Ich habe dich auf Erden verherrlicht, indem ich das Werk vollbracht habe, das zu vollbringen du mir aufgetragen hast“ (Joh. 17,4).
§ 2. Kontroverse über die bedingte oder unbedingte Prädestination der Menschwerdung
Gegenstand der Kontroverse zwischen Thomisten und Skotisten ist die Frage, ob der ausschlaggebende Beweggrund der Menschwerdung des Sohnes Gottes die Erlösung der Menschen war, so daß die Menschwerdung ohne den Sündenfall der Stammeltern nicht stattgefunden hätte (bedingte Prädestination der Menschwerdung), oder die Verherrlichung Gottes, so daß der Sohn Gottes zur Krönung des Schöpfungswerkes auch ohne den Sündenfall Mensch geworden wäre, jedoch in einem nicht leidensfähigen Leibe (unbedingte oder absolute Prädestination der Menschwerdung). Die bedingte Prädestination der Menschwerdung lehren die Thomisten, die unbedingte die Skotisten (vor Scotus schon Isaak von Ninive (7. Jh.), Rupert von Deutz, Albert der Große) und viele neuere Theologen.
1. Bedingte Prädestination
Zugunsten der thomistischen Ansicht (vgl. S. th. III, 1,3) spricht das Zeugnis der Hl. Schrift, die an zahlreichen Stellen als Motiv der Inkarnation die Erlösung der Menschen von der Sünde nennt, während sie niemals erwähnt, daß die Menschwerdung auch ohne den Sündenfall erfolgt wäre.
Die Väter lehren übereinstimmend, daß die Menschwerdung des Gottessohnes an den Sündenfall der Menschen als Vorbedingung geknüpft war. Der hl. Augustin sagt. „Wenn der Mensch nicht zugrunde gegangen wäre, wäre der Menschensohn nicht gekommen… Warum kam er in die Welt? Die Sünder zu retten (1. Tim. 1,15). Ein anderer Grund bestand nicht, warum er in die Welt kam“ (Sermo 174, 2,2; 7,8).
2. Unbedingte Prädestination
Die skotistische Ansicht sucht eine biblische Grundlage in der Lehre des hl. Paulus, daß die ganze Schöpfung auf Christus als Ziel und Haupt hingeordnet ist. Vgl. Kol. 1,15-19. Es ist jedoch zu beachten, daß in den Versen 15-17, in denen Christus als der „Erstgeborene vor aller Schöpfung“, als Schöpfer des Alls einschließlich der Engelwelt, als Ziel der Schöpfung („Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen worden“) und als Erhalter der Welt dargestellt wird, von der Tatsache der Menschwerdung gänzlich abgesehen wird, so daß Christus nicht als Mensch, sondern als Gott das Ziel der Schöpfung ist. Wie er als Gott Schöpfer ist, so ist er auch als Gott Ziel der Schöpfung. Die Stellung des Hauptes, die ihm in V. 18 im Hinblick auf seinen mystischen Leib, die Kirche, zugeschrieben wird, hat ihren Grund in der Tatsache der Erlösung. Daß Christus im Plane Gottes unabhängig von Sünde und Erlösung die Stellung des Hauptes einnehmen sollte, ist damit nicht gesagt. In Hebr. 2,10 ist der Relativsatz: „um dessentwillen alles ist und durch den alles ist“, nicht auf Christus, sondern auf Gott Vater zu beziehen.
Diejenigen Aussagen der Hl. Schrift, die als Zweck der Inkarnation die Erlösung der Menschen angeben, schränken die Skotisten auf die tatsächliche, durch die Sünde geschaffene Heilsordnung ein, in der der Sohn Gottes mit einem leidensfähigen Leib in die Welt kam. Es bleibt jedoch auffallend, daß die Hl. Schrift über das ursprünglich geplante Kommen in einem leidensunfähigen Zustand schweigt.
Die spekulative Begründung der Skotisten macht geltend, der Zweck dürfe nicht geringer sein als die Mittel zum Zweck. Die Inkarnation als das erhabenste aller Werke Gottes könne darum nicht in erster Linie durch den Zweck bestimmt sein, sündige Geschöpfe zu retten. Die Thomisten entgegnen, daß die Erlösung wohl der nächste, aber nicht der letzte und höchste Zweck der Inkarnation war.
Die Skotisten finden es ferner passend, daß die Sünde, die Gott haßt, der Anlaß zur herrlichsten Offenbarung Gottes wurde. Die Thomisten sehen darin einen um so größeren Beweis der Liebe und Barmherzigkeit Gottes: O felix culpa, quae talem ac tantum meruit habere Redemptorem (Exultet der Ostervigil)!
Nach der skotistischen Ansicht leitet sich alle Gnade, nicht bloß die Gnade der gefallenen Menschen, sondern auch die Gnade des paradiesischen Menschen und die Gnade der Engel, vom Verdienst des Gottmenschen her. Christus nimmt darum eine alles beherrschende zentrale Stellung im göttlichen Weltplan ein.
Die thomistische Ansicht ist nüchterner als die skotistische, scheint aber in den Glaubensquellen besser begründet zu sein.
§ 3. Begriff und Möglichkeit der Erlösung durch Christus
1. Begriff der Erlösung
Man unterscheidet die Erlösung im objektiven und im subjektiven Sinn. Erstere ist das Werk des Erlösers, letztere (auch Rechtfertigung genannt) ist die Verwirklichung der Erlösung im einzelnen Menschen oder die Zuwendung der Erlösungs-Früchte an den einzelnen Menschen.
Das Erlösungs-Werk Christi bezweckte die Rettung der Menschheit aus der Not der Sünde. Die Sünde ist aber ihrem Wesen nach eine Abwendung von Gott (aversio d Deo) und eine Hinwendung zum Geschöpf (conversio ad creaturam). Dementsprechend muss die Wirkung der Erlösung in der Abwendung vom Geschöpf und in der Hinwendung zu Gott bestehen (vgl. Kol. 1,13). nach der negativen Seite ist sie die Befreiung aus der Herrschaft der Sünde und den in ihrem Gefolge stehenden übeln (Knechtschaft des Teufels und des Todes). Als solche wird sie redemptio = Loskaufung im engeren Sinne genannt. Vgl. Röm. 3,24; 1. Kor. 1,30; Eph. 1,7; Kol. 1,14; Hebr. 9,15. Nach der positiven Seite ist sie die Wiederherstellung des durch die Sünde zerstörten Zustandes der übernatürlichen Gottvereinigung. Als solche wird sie reconciliatio = Versöhnung genannt. Vgl. Röm. 5,10f; 2. Kor. 5,18ff; Kol. 1,20.
Die objektive Erlösung wurde durch die lehrende und leitende Tätigkeit Christi, vorzüglich aber durch die stellvertretende Genugtuung und as Verdienst Christi bei seinem Opfertod am Kreuz vollzogen. Durch die Genugtuung wurde die durch die Sünde Gott zugefügte Beleidigung aufgewogen und die verletzte Ehre Gottes weder hergestellt. Durch das Verdienst Christi wurden die in in der subjektiven Erlösung auszuteilenden übernatürlichen Heilsgüter erworben.
2. Möglichkeit der Erlösung
Die Möglichkeit der Erlösung durch die Genugtuung und das Verdienst Christi ist begründet in der gottmenschlichen Konstitution Christi, die ihn zur Mittlerschaft zwischen Gott und den Menschen befähigte. 1. Tim. 2,5: „Es gibt nur einen Gott und nur einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Christus Jesus, 6. der sich als Lösegeld für alle hingegeben hat.“ Hebr. 9,15: „Deshalb ist er der Mittler eines neuen Bundes.“ Vgl. D 143,711,790.
Der Gottmensch Jesus Christus ist in ontologischer und in ethischer Hinsicht, d. h. in der Ordnung des Seins und des Tätigseins, der natürliche und als solcher der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen, die in der Gnade begründete übernatürliche Mittlerschaft (Moses nach Dt. 5,5, die Propheten und die Apostel, die Priester des Alten und des Neuen Bundes, die Engel und die heiligen) ist unvollkommen und der einzigen natürlichen Mittlerschaft Christi untergeordnet. Christus übte und übt die Mittlertätigkeit durch die Handlungen seiner menschlichen Natur aus (homo Christus Jesus). Infolge der realen Verschiedenheit der beiden Naturen aus ist es möglich, daß er als Mensch die mittlerischen Akte vollzieht und als Gott sie entgegen nimmt. Damit löst sich der Einwand, daß Christus zwischen sich selbst und den Menschen vermittelt, was dem Begriff des Mittlers widerspricht. Vgl. S. th. III 26, 1-2.
§ 4. Notwendigkeit und Freiheit der Erlösung
1. Notwendigkeit von Seiten des Menschen
Der gefallene Mensch kann sich nicht selbst erlösen. De fide.
Das Konzil lehrt, daß die gefallenen Menschen „so sehr Knechte der Sünde waren und unter der Herrschaft des Teufels und des Todes standen, daß weder die Heiden durch die Kraft der Natur (per vim naturae) noch die Juden durch den Buchstaben des mosaischen Gesetzes (per litteram Legis Moysi) sich daraus befreien oder erheben konnten“. D 793. Nur durch eine freie Tat der göttlichen Liebe konnte die durch die Sünde zerstörte übernatürliche Ordnung wieder hergestellt werden (absolute Erlösungs-Bedürftigkeit).
Im Gegensatz zum kirchlichen Dogma steht der Pelagianismus, der dem freien Willen die Kraft der Selbsterlösung zuschrieb, und der moderne Rationalismus mit seinen verschiedenen Selbsterlösungs-Theorien.
Der Apostel Paulus lehrt im Römerbrief, daß alle Menschen, Juden und Heiden, unter dem Fluch der Sünde stehen und daß sie durch ein ganz freies Geschenk der göttlichen Liebe auf Grund der Erlösungstat Christi gerechtfertigt werden. Röm. 3,23f: „Denn alle haben gesündigt und ermangeln der Gottes-Herrlichkeit (= Rechtfertigungs-Gnade). Sie werden geschenkweise gerechtfertigt durch seine Gnade mittels der durch Christus Jesus vollzogenen Loskaufung.“
Die Lehre der Väter ist in dem Wort Augustins ausgesprochen: „Sie konnten sich verkaufen, aber sie konnten sich nicht wieder loskaufen“ (Vendere se potuerunt, sed redimere non potuerunt; Enarr. In Ps. 95,5).
Der innere Grund für die absolute Erlösungsbedürftigkeit der gefallenen Menschen liegt einerseits in der Unendlichkeit der Schuld und anderseits in der absoluten Übernatürlichkeit des Gnadenstandes. Als Tat eines Geschöpfes (offensa Dei activa) ist die Sünde zwar endlich, aber als Beleidigung des unendlichen Gottes (offensa Dei passiva) ist sie unendlich und verlangt demgemäß eine Sühne von unendlichem Wert. Eine solche kann aber ein bloßer Mensch nicht leisten. Vgl. S. th. III 1,,2 ad 2.
2. Freiheit von Seiten Gottes
a) Gott war weder von innen noch von außen genötigt, die Menschen zu erlösen. Sent. certa.
Die Erlösung ist eine ganz freie Tat göttlicher Liebe und göttlichen Erbarmens (libertas contradictionis). Wenn schon die Erhebung des Menschen in den Zustand der übernatürlichen Ordnung ein freies Geschenk der göttlichen Liebe ist, dann um so mehr die Wiederherstellung der durch die schwere Sünde zerstörten übernatürlichen Lebensgemeinschaft mit Gott.
Der Apostel Paulus beginnt den Epheserbrief mit einem Lobpreis der Gnade Gottes, die sich in der Erlösung durch Jesus Christus so herrlich offenbart. Er bezeichnet die Erlösung als „Geheimnis des göttlichen Willens, das er uns nach seinem Wohlgefallen kund getan hat“ (Eph. 1,9). Vgl. Eph. 2,4ff.
Die vom hl. Athanasius (Or. De incarn. Verbi 6) mit Rücksicht auf die Ehre Gottes behauptete Notwendigkeit der Erlösung ist im Sinne der höchsten Angemessenheit zu verstehen, da er anderwärts den Gnaden-Charakter der Erlösung entschieden betont. Der hl. Anselm von Canterbury (Cur Deus homo II 4 f) lehrt eine in der Unabänderlichkeit des frei gefaßten Beseligungs-Dekretes begründete Notwendigkeit der Erlösung: Wenn Gott trotz der Voraussicht der Sünde von Ewigkeit her beschloß, die Menschen zu erschaffen und zu beseligen, dann ergab sich aus diesem freien göttlichen Ratschluß nach dem Eintritt der Sünde die Notwendigkeit, die Menschen zu erlösen (necessitas consequens).
b) Die Inkarnation war auch unter der Voraussetzung des göttlichen Erlösungs-Ratschlusses nicht absolut notwendig. Sent. communis.
Der hl. Thomas lehrt mit dem hl. Augustin (De agone christ. 11,12) gegen den hl. Anselm von Canterbury (Cur Deus homo II,6), daß Gott durch seine Allmacht die Menschen auf viele andere Arten erlösen konnte (libertas specificationis). S. th. III 1,2)
Es wäre eine Schmälerung der göttlichen Allmacht, Weisheit und Barmherzigkeit, wollte man die Inkarnation als das einzig mögliche Mittel der Erlösung hinstellen. Gott kann ohne Verletzung seiner Gerechtigkeit dem reumütigen Sünder auch ohne jede Genugtuung oder auf eine nicht vollwertige (inadäquate) Genugtuung hin Verzeihung und Gnade schenken.
c) Wenn Gott eine vollwertige Genugtuung forderte, war allerdings die Inkarnation einer göttlichen Person notwendig. Sent. communis.
Die in der schweren Sünde liegende unendliche Beleidigung Gottes kann nur durch einen unendlichen Sühneakt vollkommen aufgewogen werden. Einen solchen kann aber nur eine göttliche Person leisten. Insofern kann man eine hypothetische (bedingte) Notwendigkeit der Inkarnation behaupten.
In einem weiteren Sinne kann man auch von einer necessitas congruentiae sprechen, insofern die Menschwerdung einer göttlichen Person das angemessenste Mittel zur Erlösung war, weil sie die Vollkommenheiten Gottes am herrlichsten offenbart und dem Streben des Menschen nach religiös-sittlicher Vollendung die stärksten Motive gibt. S. th. III 1,1-2. –
aus: Ludwig Ott, Grundriss der katholischen Dogmatik, 1954, S. 203 – S. 208