Die Auffindung des heiligen Kreuzes
Kaiser Konstantin war in einen Krieg verwickelt mit dem Nebenkaiser Maxentius. Da seine Truppen dem feindlichen Heere in keiner Weise gewachsen waren, flehte er den Gott der Christen um Hilfe an. Sein Gebet wurde erhört; er und sein ganzes Heer sahen am Himmel ein flammendes Kreuz mit der Inschrift: „In diesem Zeichen wirst du siegen.“ In der folgenden Nacht erschien ihm Jesus Christus selbst und befahl ihm, daß er das Kreuz als Fahne dem Heere vorantragen lasse. Sogleich ließ Konstantin nach der Form des ihm erschienenen Kreuzes eine Fahne – das berühmte Labarum – machen und erfocht wirklich einen glänzenden, für die katholische Kirche außerordentlich folgenreichen Sieg. Aus Dankbarkeit dafür gelobte er, auf Golgotha bei Jerusalem, wo Jesus gekreuzigt worden, eine Kirche zu bauen, und verordnete, daß in seinem Reiche die Todesstrafe durch Kreuzigung verboten sei.
Die Ausführung dieses Gelübdes übernahm Helena, die Mutter des Kaisers und reiste – schon achtzig Jahre alt – nach Jerusalem. Namenloses Weh zerriß ihr Herz, als sie auf dem Kalvarienberg, wo Jesus gekreuzigt worden, eine Statue des Jupiter und über der Felsengrotte, wo Jesus begraben worden war, einen Tempel der Venus, der Göttin der unzüchtigen Liebe, errichtet fand. Die Römer hatten nach der Zerstörung der Stadt Jerusalem unter Titus die der christlichen Erinnerung so teuren und heiligen Stätten hoch mit Erde und Schutt überworfen und unzugänglich gemacht.
Da die Kaiserin den Gebrauch der Juden kannte, daß sie alle Werkzeuge, die zur Hinrichtung eines Verurteilten verwendet worden, zunächst dem Grabe des Getöteten in die Erde verscharrten, so sparte sie keine Mühe, um das heilige Kreuz aufzufinden. Der Venustempel wurde abgerissen, die Erde ringsherum weg geschafft und, o welch` glückliches Ereignis, die Felsengrotte des heiligen Grabes entdeckt. Ganz nahe dabei fand man auch drei Kreuze, drei Nägel und die Tafeln mit den Inschriften, welche jedoch von den Kreuzen abgelöst zur Seite lagen. Daß eines dieser drei Kreuze das wahre sei, darüber herrschte kein Zweifel; aber welches mochte das rechte sein? Diese Frage half der hl. Makarius, Bischof in Jerusalem, entscheiden durch den Vorschlag, man wolle öffentliche Gebete halten, und dann mit diesen aufgefundenen Kreuzen eine vornehme, todkranke Frau berühren, und Gott werde sicher entscheiden. In Gegenwart einer großen Volksmenge wurde die Sterbende mit dem ersten und zweiten Kreuz berührt, jedoch ohne Wirkung. Als dies auch mit dem dritten geschah, stand sie vollkommen gesund vom Bett auf. Die Freude über dieses Wunder und die dadurch bestätigte Auffindung des wahren Kreuzes Jesu durchhallte die ganze Christenheit.
Die überglückliche Kaiserin überschickte sogleich durch eine Gesandtschaft ihrem Sohn die drei heiligen Nägel und einen Teil des heiligen Kreuzes. Konstantin gab seiner Teilnahme an dieser Freude dadurch Ausdruck, daß er seinen Statthaltern im östlichen Reiche befahl, durch Herbeischaffung des köstlichsten Materials an Marmor, Gold und Silber den Bau der gelobten Kirche zu fördern, und legte auch aus seinem Schatz ungeheure Summen bei. Rasch wölbte sich über jenem Teil des Kalvarienberges, wo Jesus am Kreuz erhöht worden war, und zugleich über der Felsengrotte des heiligen Grabes die außerordentlich große Kirche, welche durch Säulengänge in zwei Abteilungen geschieden, unter dem Namen „die heilige Grabkirche“ weltberühmt ist. Hier stellte die hl. Helena den größeren Teil des heiligen Kreuzes in kostbarster Einfassung zur Verehrung auf für die Gläubigen, welche aus allen Gegenden der Welt dahin pilgerten.
Oft schnitt man vom heiligen Kreuz kleine Stücke (Partikel) ab und schenkte sie frommen Personen, ohne daß die geringste Abnahme am heiligen Holz zu bemerken war. Dieses Wunder verglich schon der hl. Cyrill mit jenem, welches Jesus in der Wüste gewirkt hat, als er mit fünf Broten fünftausend Männer speiste. (Joh. 6) Einen dritten Teil des heiligen Kreuzes setzte die hl. Helena in der Kirche zur Verehrung aus, welche sie in Rom baute, und die heute noch „die Kirche zum heiligen Kreuz von Jerusalem“ genannt wird. Schon im fünften Jahrhundert wurde in Rom das Fest der Kreuzfindung gefeiert, welches sich nach und nach über die ganze abendländische Kirche ausdehnte. –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 336 – S. 337
Anmerkung:
Der hl. Cyrill von Jerusalem, der im Jahre 334 oder 335 durch Bischof Makarius zum Diakon, durch dessen Nachfolger Maximus 345 zum Priester geweiht worden war, hielt 347/48 in der heiligen Kreuzkirche zu Jerusalem Katechesen, die uns noch erhalten sind. In der vierten, zehnten und dreizehnten gedenkt er des heiligen Kreuzes des Herrn und hebt hervor, daß der weitaus größte Teil desselben noch in Jerusalem gezeigt und hoch verehrt werde; zahlreiche Teilchen dieser heiligen Reliquie aber befänden sich in verschiedenen Kirchen des Erdkreises (Migne XXXIII 468,685,776). Im Jahre 351 wurde Cyrill Bischof von Jerusalem, und als solcher gedenkt er in einem Brief an den Kaiser Konstantius vom 7. Mai 351 der Tatsache, daß unter Konstantin dem Großen das heilbringende Kreuzesholz in Jerusalem wieder aufgefunden worden sei. Dieses Zeugnis hat unanfechtbaren historischen Wert. Denn mit Recht betont Fr. X. Kraus: „Ein Mann von der unbestreitbaren geistigen und sittlichen Größe wie er (Cyrill) konnte unmöglich, ohne derselben gewiß zu sein, in einem Brief an den Kaiser von Vorgängen sprechen, die er als Jüngling mit angesehen oder von denen er doch die allergenaueste Kunde besitzen konnte und, wie die Umstände es geboten, auch durchaus besitzen musste.“ Das Zeugnis des Cyrill allein also genügt, um die Auffindung des heiligen Kreuzes unter Kaiser Konstantin als eine unbestreitbare historische Tatsache erscheinen zu lassen.
… Auch von der Verehrung der heiligen Kreuzreliquie am Karfreitag oder von der Adoratio crucis schreibt die Pilgerin:
Der Bischof nahm auf seiner Kathedra Platz. Vor ihm stand ein mit weißen Linnen gedeckter Tisch, im Kreise um ihn herum die Diakonen. Nun wurde die mit Silber beschlagene Truhe gebracht, in der man das heilige Kreuz verwahrte. Sie wurde geöffnet und das heilige Kreuz nebst der Aufschrift (titulus) auf den Tisch gelegt. Der Bischof und die Diakonen hielten die Wache, während die Gläubigen und die Katechumenen herantraten, sich verneigten und das Kreuz küßten und mit der Stirn und den Augen, aber nicht mit den Händen berührten. In dieser Weise zogen alle einzelnen vorüber. Auf Grund dieser Zeugnisse ist doch so viel wenigstens historisch sicher, daß unter Kaiser Konstantin das heilige Kreuz des Herrn wieder aufgefunden wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber darf man als Datum der Auffindung den 14. September des Jahres 320 ansetzen.
Seit Calvin ist öfter die Behauptung ausgesprochen worden, die Kreuzpartikeln seien in so ungeheurer Menge verbreitet, daß sie den Stoff des Kreuzes bei weitem überschritten, Rohault de Fleury hat genaue Notizen über die öffentlich verehrten und die sonst vorhandenen Partikeln zusammen gestellt. Danach beträgt das Volumen aller im Kult und in der Geschichte bekannten Kreuzpartikeln etwa 1/45 des wahrscheinlichen Volumens des Kreuzes, das auf mindestens 178 Kubikdezimeter zu schätzen wäre. –
aus: Schuster u. Holzammer, Handbuch zur Biblischen Geschichte, Zweiter Band, Das Neue Testament, 1910, S. 538 – S. 539/ S. 541