Beschwerliche Tugend Die brüderliche Zurechtweisung
Mit dem ruhmwürdigen Eifer seiner Gottes- und Nächstenliebe hat der heilige Severin fast Unzählige: Land- und Stadtbewohner, Reiche und Adelige, Fürsten und Könige, ermahnt und gewarnt, die Sünde zu vermeiden und das Leben zu bessern, dadurch für sich große Verdienste erworben und für den Himmel viele Seelen gerettet. Zu dieser sehr wichtigen, aber der Eigenliebe beschwerlichen Tugend, welche die brüderliche Zurechtweisung heißt, bist auch du streng verpflichtet. Beherzige nur zwei Gründe:
1) Das göttliche Gebot der Nächstenliebe verpflichtet dich sehr streng, daß du deinen Mitmenschen in Not und Gefahr beistehst, Unglück und Schaden so viel möglich abwehrst. Gilt dieses Gebot Gottes schon bezüglich des Leibes und der zeitlichen Güter, so ist es bezüglich der Seele und ihres ewigen Heiles um so mehr der Fall. Denn die Seele ist der unvergleichlich wertvollerer Teil des Nächsten als sein Leib; sie ist die Tochter des himmlischen Vaters, und du mußt sein Ebenbild in ihr ehren; sie ist der Preis des Blutes Jesu, und du mußt dasselbe vor Entweihung sorgfältig schützen; sie ist der Tempel des heiligen Geistes, und du darfst denselben nicht schänden lassen. Die Sünde aber ist das größte Unglück und gefährlichste Übel, das deinen Nächsten schädigen kann: folglich bist du verpflichtet, Mühe und Opfer zu bringen, ihn von der Sünde abzuhalten, ihn zurecht zu weisen. Freilich entschuldigst du dich gerne: „Ich bin selbst ein Sünder, ich habe den Mut nicht, man lacht mich nur aus…, wenn ich andere zurechtweise“; allein du wehrst dich doch auch, wenn man dir das Kleid beschmutzt, die Ehre abschneidet, Unrecht zufügt, deinen Vater beschimpft, deine Mutter verdächtigt. Wie! Du solltest nicht so viel Mut zusammen bringen können, dem fehlenden Nächsten zu sagen: „Lieber Bruder, das ist eine Sünde, das schadet deiner Seele, tue es nicht.“
2) Das göttliche Gebot der Selbstliebe verpflichtet dich zur brüderlichen Zurechtweisung. Überlege wohl die Worte des hl. Jakobus: „Wer den Sünder von seinem Irrweg zurück führt, der wisse, daß dessen Seele vom Tod errettet und die Menge der Sünden bedeckt.“ (Jak. 5) Deine eigenen Sünden bedeckst du, weil das ausgeübte Liebeswerk vor Gott von so hohem Wert ist, daß Er dir zahlreiche Gnaden zur Bekehrung und Tilgung der Sündenstrafen schenkt. Und wenn Jesus das Stück Brot, das du den Armen gibst, als Ihm geschenkt dir zu lohnen verspricht, wie viel größer wird dein Lohn sein, wenn du dich beteiligst an dem erhabenen Werk, das Er selbst hienieden ausübte, an der Bekehrung der Sünder, an der Rettung der Seelen. „Weil aber“, wie der hl. Franz von Sales sagt, „die Verweise immer eine schwer verdauliche Kost sind“, so gib sie dem Nächsten zwischen dir und ihm allein mit Liebe und Sanftmut. –
aus: Otto Bitschnau O.S.B., Das Leben der Heiligen Gottes, 1880, S. 20 – S. 21