Wem die Weisheit des Herrn mangelt

Wenn ihm deine Weisheit fehlt, o Herr!

Betrachtung zum 11. Januar

Et si qui erit consumnatus inter filios hominum, si ab illo abfuerit sapientia tua Domine, in nihilum computabitur.

„Und wenn gleich Einer unter den Menschenkinder vollkommen wäre, so ist er doch, wenn ihm deine Weisheit fehlt, o Herr! Für nichts zu achten. „ (Weish. 9,6)

1. Betrachte, wie groß die Eitelkeit so vieler Menschen ist, die sich auf die Erwerbung aller übrigen Dinge so eifrig verlegen, nur Eines ausgenommen, das von größter Wichtigkeit ist. Wie viele Schulen stehen nicht immer offen für Erlernung der Sing-, der Reit-, der Fechtkunst, und Alles läuft dahin. Wer dagegen besucht jene Schule, wo einzig die heilige Furcht Gottes gelehrt wird? Und doch ist diese allein die wahre Weisheit. Denn das ist wahre Weisheit, wenn der Mensch seine Handlungen so einzurichten weiß, daß sie ihn zur Erlangung seines letzten Zieles führen. Wer diese nicht hat, ist für nichts zu achten, und wäre er auch noch so vollkommen unter den Menschenkindern.

2. Betrachte, daß es nicht geradezu heißt, Jener sei für nichts zu achten, der die oben genannten Eigenschaften besitzt, sondern nur derjenige, dem dabei die Furcht Gottes fehlt: „Wenn die Weisheit des Herrn mangelt.“ Ja jene Eigenschaften können uns unter gewissen Bedingungen sogar verdienstlich sein. Vernimm darum die Regel, um zu bestimmen, welche Künste, welche Beschäftigung, welche Angelegenheiten es seien, denen du dich widmen sollst: jene, sage ich, mit welchen du nach deinem Stand leicht die göttliche Weisheit verbinden kannst. Jene aber, welche eine solche Vereinigung nicht zulassen, weise zurück.

3. Erwäge, daß es von Jenem, dem diese göttliche Weisheit fehlt, geradezu heißt: „Er ist für nichts zu achten“; damit du wissest, welche Münze im Himmel gangbar sei. Was wird dort die kriegerische Tapferkeit eines Alexander, die Pracht eines Cäsar, die Beredsamkeit eines Cicero, oder die Verschmitztheit des Tiberius gelten? „Sie wird für nichts geachtet.“ Ein unwissender, schmutziger, zerrissener und mit Geschwüren bedeckter Bettler, wie Lazarus, wird im Himmel höher geschätzt, als alle diese Großen miteinander.

Glaubst du diese Wahrheit? Woher kommt es dann, daß du sie nicht im Werk ausübest? Ein Strohhalm, den du aus Liebe zu Gott von der Erde aufhebst, eine Schüssel, die du abwäschst, ein Vorwurf, den du erträgst, ein Akt der Abtötung, der Demut, des Gehorsams, der Liebe, sei er auch noch so gering, hat doch mehr Wert für dich im Himmel, als wenn du ein Plato wärest. –
aus: Paul Segneri S.J., Manna oder Himmelsbrod der Seele, 1853, Bd. I, S. 24 – S. 25

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