Über die christliche Tugend der Geduld
Wie willst du dein Kreuz tragen?
Was für eine Blume kannst und sollst du dir aus dem herrlichen Ruhmeskranz des hl. Paulus herausnehmen, um sie dir aufzubewahren: welche Tugend sollst du dir auswählen, um sie nachzuahmen? Ein namhafter Gelehrter, ein gefeierter Prediger kannst du vielleicht nicht werden, noch weniger ein Bischof, oder ein Patriarch; aber geduldig wie dieser Heilige kannst du werden, und geduldiger als du jetzt schon bist, sollst du werden.
1. Was ist die christliche Geduld? Sie ist jene sittliche Macht und Tugend, vermöge welcher du deinen Schmerz, deine Trauer über ein gegenwärtiges Übel aus Liebe zu Jesus so mäßigest und beherrschest, daß du in diesem Gemütszustand dich zu Nichts hinreißen läßt, was wider die Vernunft und den Glauben ist. Denn dieser Schmerz, diese Trauer, wenn du sie nicht mäßigest durch eine gute Meinung, durch eine übernatürliche Absicht und durch andächtiges Gebet, gebärt Haß und Ingrimm gegen denjenigen, der nach deiner Meinung der Urheber deines bittern Schmerzes, deiner Traurigkeit ist, also gegen Mitmenschen, gegen dich selbst oder sogar gegen Gott und die Heiligen. Ein solcher Haß ist in allen seinen Graden und Äußerungen wieder die Vernunft und die Lehre Jesu – eine Sünde. Die christliche Geduld verlangt von dir nicht, daß du unempfindlich und gefühllos seiest, daß Schmerz und Trauer dir nicht beschwerlich fallen, sondern daß du in der Gesinnung und Liebe Jesu diesen Leidenskelch trinkest. Die Arianer mäßigten ihren Schmerz und Zorn über die Tugendgröße des hl. Paulus und seine Erhebung zur Bischofswürde nicht; deshalb stiegen sie herab zu den Gemeinheiten der Ränke, der Verleumdung, der Verfolgung; der hl. Paulus dagegen mäßigte seine Traurigkeit über diese Ungerechtigkeiten mit Stillschweigen und Dulden; und deshalb ist er die Ehre des Himmels und die Zierde der katholischen Kirche geworden.
2. „Die beste Schule der Geduld ist“, wie der hl. Augustin so schön lehrt, „der Kalvarienberg. Dort stehen drei Kreuze aufgerichtet; an dem einen hängt ein Mörder, des selig wird; an dem andern ein Mörder, der verdammt wird; an dem mittleren Jesus Christus, der den einen selig macht, den andern aber verdammt. Die Kreuze (körperlichen Leiden) sind einander ziemlich gleich, die Gekreuzigten aber sehr ungleich: Jesus leidet ohne Sünde und – solchen Leiden folgt die ewige Glorie. Der Schächer zur Rechten leidet in Reue wegen seiner Sünden, und für solches Leiden erlangt er Gnade und Vergebung – und das Paradies; – der Schächer zur Linken leidet ebenfalls wegen seiner Sünde, aber ohne Reue, voll Ingrimm und Verzweiflung – ohne christliche Geduld – und versinkt in die Finsternis.“ So ist es immer. Viele tragen das nämliche Kreuz, aber nicht auf die nämliche Weise; daher ist auch der Lohn ihres Kreuztragens gar verschieden.
Leidest du, wie Jesus und der hl. Paulus, in Unschuld schweigend und geduldig, so ist dein Lohn groß, – die ewige Seligkeit im Himmel; leidest du aus Schuld, aber in demütiger Bußgesinnung, wie der Schächer Dismas, so wirst du die Gnade und Seligkeit erlangen; leidest du aus Schuld, aber ohne Mäßigung deiner Traurigkeit, widerwillig und mürrisch, wie der Schächer Gesmas, dann bleibst du in der Ungnade, deren Endziel die Hölle ist. Wie willst du nun dein Kreuz tragen? Welche von diesen drei Arten gefällt dir am besten? Eine vierte gibt es nicht, und ohne Kreuz sein wirst du nie. O gehe fleißig dem hl. Paulus nach in die Schule des Kalvarienberges!
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 437-438