Über Wesen und Ursache der göttlichen Gnade
Gnade! O süßes, liebliches, inhaltsvolles Wort! Gnade! Ruft der hungernde Bettler und der ermüdete Wanderer vor der Türe des Wohltätigen. Gnade! Seufzt die verlassene Waise und die Witwe mit dem gebrochenen Herzen zu ihrem Vormund oder Vogt. Gnade! Fleht der reuige Sohn vor dem zürnenden Vater. Gnade! Mit welcher Seligkeit hört dieses Wort der zum Tode Verurteilte, der aus der Heimat Verbannte aus dem Mund seines Königs! Und doch, was ist menschliche Gnade im Vergleich zur göttlichen Gnade! In Bewunderung der hl. Blandina denke nach über das Wesen und die Ursache der göttlichen Gnade.
1. Die göttliche Gnade ist eine innere übernatürliche Mitteilung Gottes an uns Menschen, welche unsere Vernunft durch Erleuchtung befähigt, Gott als das einzige, ewige Gut, die Sünde als das einzige, ewige Übel gläubig zu erkennen; welche zugleich unsern Willen stärkt, das erkannte Böse siegreich abzuwehren und nur das zu lieben, zu verlangen, was der übernatürlichen Welt angehört, was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und keines Menschen Herz hienieden je empfunden hat. „Sie ist“, sagt der große Bischof Wilhelm von Paris, „eine göttliche Hilfe, um zu tun, was gut, Gott wohlgefällig und der ewigen Seligkeit würdig ist: eine göttliche Hilfe, um gegen sich selbst und Alle streiten und alle Hindernisse des Heils bewältigen zu können: eine göttliche Hilfe, um uns mitten unter Pfeilen, Schwertern und Waffen, die uns von allen Seiten angreifen und den sichern Tod drohen, zu schützen: eine göttliche Hilfe, damit wir in den Flammen der Augenlust, der Fleischeslust und der Hoffahrt des Lebens nicht bloß ohne Brandwunden, sondern auch ohne erhitzende Aufregung bleiben.“ –
O Gott, wie erhaben und kostbar ist doch deine Gnade, die ein Ausfluss deines liebenden Herzens ist und darum nicht nach den Schätzen der Welt taxiert, nicht mit den Vollkommenheiten der Engel verglichen werden kann!
2. Die Ursache aber, warum der liebe Gott mit unbegrenzter Freigebigkeit seine kostbaren Gnaden uns mitteilt, ist das Kreuzopfer unseres erstgeborenen Bruders Jesu Christi. Denn die Sünde hatte den Himmel verschlossen, und weder die Heiligkeit noch die Gerechtigkeit des Allerhöchsten konnte oder durfte mit dem Sünde befleckten Menschen in Berührung treten, um ihm seine übernatürliche Liebe, d. h. göttliche Gnade mitzuteilen; indem aber Jesus, geboren aus der reinsten Jungfrau Maria, durch seinen freiwilligen Tod des Gehorsams für unsere Missetaten genuggetan, schmerzlich genuggetan hat, ist der Himmel wieder geöffnet, d. h. sind wir mit Gott ausgesöhnt, durch die Wiedergeburt in der heiligen Taufe seine Kinder und somit seiner Gottesliebe würdig und teilhaft geworden, fließen uns die göttlichen Gnaden reichlichst zu. Daher sagt Jesus mit ewiger Wahrheit: „Ohne Mich könnt ihr nichts tun.“ (Joh. 15) Der hl. Paulus aber frohlockt: „Alles vermag ich in Dem, der mich stärkt“ (Phil 4); und die hl. Blandina zeigt in wundervoller Wirklichkeit, daß sie mit und durch die göttliche Gnade mehr Leiden zu ertragen vermag, als menschliche Bosheit ihr anzutun imstande war.
O schätze die göttliche Gnade über alles hoch und beherzige tief in deiner Seele die schönen Worte des frommen Bischofs Konrad Martin von Paderborn: „Alle göttlichen Gnaden sind der Preis des Leidens und Sterbens Jesu Christi und an jeder Gnade, die wir empfangen, hängt gleichsam ein Tropfen seines kostbaren Blutes.“ –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 423-424