Wer das Leiden Christi betrachtet muss Ihn lieben
Der Glaube an Jesus, den Gekreuzigten, und das aus diesem Glauben hervor gehende beständige Andenken an das Leiden des Heilandes hat diesen beiden Brüdern die entsetzlichen Martern so erträglich, ja sogar süß gemacht, wie sie dies selbst vor ihren Peinigern gestanden. Im Hinblick auf die unbeschreiblichen Leiden Jesu, ihres geliebten Heilandes, verlangten sie sogar noch mehr zu leiden. – Siehe also, christliche Seele, welchen Trost, welche Stärke das Andenken an das Leiden Jesu in einem gläubigen Herzen hervorrufen kann! Aber nicht bloß Trost und Stärke im Leiden gewährt uns dies Andenken, sondern seine Wirkungen sind noch weit größer. „Keine Andachtsübung gibt es“, sagt der heilige Bonaventura, „welche geeigneter ist, eine Seele zu heiligen, als die Betrachtung des Leidens Christi“, und der heilige Augustin sagt, „man verdiene mehr dadurch, wenn man beim Andenken an das bittere Leiden Jesu eine einzige Träne vergießt, als wenn man jede Woche bei Brot und Wasser faste.“ Durch die Betrachtung des Leidens Christi werden nach und nach die Sünden ausgerottet; denn wie kann derjenige eine Sünde begehen und in der Sünde bleiben, der zum Kreuz empor schaut und betrachtet, wie der Sohn Gottes für die Sünde leidet! Aus der Betrachtung des Leidens Christi geht die Liebe zur Buße und Abtötung hervor; denn wie kann der ein weichliches, wollüstiges Leben führen und seinem Leib alles gestatten, der betrachtet, wie Jesus an allen Gliedern seines Leibes leidet!!
Wer das Leiden Jesu betrachtet, dessen Herz muss von Liebe entbrannt werden; denn wie kann ein Herz kalt bleiben, das da vor Augen sieht die Liebe, mit welcher der Heiland bis zum Tode am Kreuz duldet? Wer endlich das Leiden Christi betrachtet, der muss im Guten zunehmen und wird selig sterben. Darum sagt auch der heilige Bonaventura: „O Mensch! Willst du, daß du von Tugend zu Tugend, von Gnade zu Gnade, vom Guten zum Besseren fort schreitest, so betrachte täglich das Leiden deines Herrn“; und der heilige Augustin schreibt: „Die Nägel und die Lanzen rufen mir zu, daß ich durch Christus mit Gott versöhnt bin“, als wollte er sagen: Im Tode sagt mir das Leiden meines Heilandes, daß ich nicht verzagen dürfe, weil ich durch ihn Barmherzigkeit und Versöhnung finde.
O christliche Seele, so befolge also die Mahnungen dieser Heiligen und laß keinen Tag vorüber gehen, wo du nicht das Leiden deines Heilandes dir vor Augen stellst. Die beste Übung, die du hierin aber machen kannst, ist die heilige Kreuzweg-Andacht. (siehe den Beitrag: Alphons von Liguori Kreuzweg-Andacht) Verrichte sie oft, denn sie ist, wie ein Heiliger sagt, die Gott wohl gefälligste, bringt den reumütigen Sündern am meisten Trost und fördert am meisten die Liebe!! Wie das innige Andenken und Betrachten des Leidens Jesu aus großen Sündern Heilige macht, das kannst du lesen in (nachfolgender) Legende der heiligen Angela.
aus: Georg Ott, Legende von den lieben Heiligen Gottes, Erster Teil, 1904, S. 480 – S. 481