Warum die geringe Zahl der Auserwählten

Über die Zahl der Auserwählten und Verworfenen: Der breite und der enge Pfad
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Warum die geringe Zahl der Auserwählten – Vernunftgründe dafür

Zweiter Teil

9. Es bedürfte sicher außer dem Gesagten nichts weiter, um das zu bezweifeln, was ich mir zur Aufgabe gemacht hatte. Nichtsdestoweniger will ich, um euch noch vollkommener zu überzeugen, nebst den Aussprüchen der heiligen Schrift und der Väter, auch noch Vernunftgründe vorführen, und so jeden Ausweg euch verschließen.

Wie ist es möglich, fragt ihr, dass selbst unter den Gläubigen nur der kleinere Teil selig wird? Der Himmel ist ja doch für uns geschaffen.

Wie ist es möglich? Vernehmt es.

Zwei Wege allein gibt es, um in den Himmel zu gelangen: den Weg der Unschuld oder den Weg der Buße. Wenn ich euch nun nachweise, dass nur wenige den Weg der Buße und äußerst wenige den Weg der Unschuld wandeln; so werdet ihr euch gezwungen sehen zu bekennen, dass wirklich nur der kleinere Teil der Gläubigen die Seligkeit gewinnt.

Nur wenige gehen den Weg der Unschuld

10. Beginnen wir mit der Unschuld.

Wenn wir bloß von den Erwachsenen reden, – o wie selten finden sich Christen, welche nicht durch irgendeine schwere Sünde die in der heiligen Taufe empfangene Gnade wieder verlieren! Gewöhnlich geht es uns wie den Raben, welche weiß zur Welt kommen, aber allmählich ihre glänzend weiße Farbe mit dem dunkelsten Schwarz vertauschen.

Kaum tritt der Mensch in ein Alter, wo er des vollen Gebrauches seiner Vernunft fähig wird, so pflegt er auch schon entweder durch die Ärgernisse, die er sieht, oder durch die Einflüsterungen, die er hört, oder durch die inneren Reize und Triebe, welche von der empörten Begierlichkeit ausgehen, in frühester Zeit das Böse zu lernen; so dass in der Tat viele sagen dürften, dass sie sich gar nicht erinnern können, jemals im Stande der Unschuld gewesen zu sein. Jedenfalls, wir alles recht erwägen, werden wir finden, dass die Hermeline äußerst selten sind, welche sich lange Zeit im Schmutz dieses Lebens rein bewahren, ohne unsauber und befleckt zu werden.

Und der Grund hiervon liegt nicht fern: es ist das zartere Alter bei den Menschen eben das, was der Frühling der Welt. Die Sonne hat da die Kraft, die Feuchtigkeiten emporzuziehen, aber sie ist nicht imstande, sie gehörig aufzulösen. Etwas Ähnliches gilt von den jungen Leuten. Die Vernunft, welche die Sonne der kleinen Welt des Menschen ist, reicht hin, um so viel zu erkennen, als notwendig ist, damit das Herz nach der Sünde lüstern werde; aber sie reicht nicht hin, um die Sünde in ihrem Wesen so klar kennenzulernen, als nötig wäre, um sie zu verabscheuen.

Es bleibt nur der Weg der Buße, um selig zu werden

11. Es bleibt also, wenn doch viele selig werden sollen, nur die Annahme übrig, dass sie auf dem Weg der Buße ihr Heil wirken. Denn nach der Sünde gibt es keinen anderen Weg zum Heil, als die Buße; was der Herr uns ausdrücklich lehrt, indem er sagt: „Wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auf gleiche Weise zu Grunde gehen.“ (Luk. XIII. 5)

Aber diese wahre Buße ist auch so selten, dass der heilige Ambrosius der Meinung war, sie sei nicht minder schwer zu finden, als selbst die Unschuld: „Ich fand leichter jemand, der die Unschuld bewahrt, als der nach Gebühr Buße getan hätte.“ (S. Ambros. de Poenit. Lib. II, c. X)

Betrachten wir demnach die Buße etwas näher in jener Weise, in welcher sie am leichtesten zu üben ist, nämlich in dem heiligen Sakrament, das von ihr den Namen trägt; und gehen wir die drei Hauptteile desselben, das Bekenntnis, die Reue und die Genugtuung einzeln durch, um noch mehr von der Wahrheit des Gesagten überzeugt zu werden. „Drei Dinge“, sagt der heilige Gregor der Große, „sind bei einem jeden wahren Büßer zu berücksichtigen: das Bekenntnis des Mundes, die Bekehrung des Herzens, und die Sühne für die Schuld.“ (S. Gregor. M. In I. Reg. XV, lib. VI, c. II)

1.

Viele lassen in der Beichte mit Absicht Sünden aus

12. Ich sage nun fürs Erste, dass sehr viele unter den Christen schon in dem ersten Hauptteil der Buße, in der Anklage ihrer Sünden, in dem Bekenntnis des Mundes es sehr an sich fehlen lassen; denn sie lassen bei der Beichte gar manche Sünden aus, sei es, dass sie dieselben in böser Absicht, aus einer gewissen falschen Scham, verschweigen, oder dass sie dieselben aus sträflicher Nachlässigkeit übersehen, weil sie ihr Gewissen nicht mit der Aufmerksamkeit und Sorgfalt erforschen wollen, wie sie sollten.

Es sind dies Menschen, sagt der heilige Augustinus (S. August. In Ps. XXXV.), welche im nämlichen Augenblick, da sie ihre Missetaten aufsuchen wollen, ängstlich fürchten, sie zu finden; weil sie wissen, dass sie, falls sie dieselben finden, verpflichtet sind, sich ihrer zu entledigen und sie zu meiden: „Sie fürchten ihre Missetat zu finden; denn wenn sie dieselben finden, ergeht an sie das Geheiß: Entfernt euch von ihr!“

Die Unterlassungssünden

Ich habe gegenwärtig nicht die Absicht, euren Geist in Unruhe zu versetzen, sondern bloß euch zu erleuchten. Und darum will ich in dieser Beziehung nichts anderes tun, als euch bloß auf eine gewisse Art von Sünden hinweisen, über welche die Leute sich gewöhnlich kein Gewissen machen, während sie doch wegen derselben außerordentlich in Sorge sein sollten. Dies sind die Unterlassungssünden, welche darin bestehen, dass man eine von Gottes Gesetz auferlegte Pflicht in erheblicher Weise vernachlässigt.

13. Unter allen Sünden gibt es vielleicht keine, die man so sehr fürchten müsste, als die Unterlassungssünden. Geschieht das Vergehen durch eine bestimmte böse Tat, so hat man den Feind offen vor sich, und es ist dies jener verfluchte Geist, der im neunzigsten Psalm der böse Mittagsengel heißt; die Unterlassungssünde aber ist ein versteckter Nachsteller, und jener Höllengeist, der um Mitternacht schleicht. „Vor dem Geschäft, das im Finstern geht, vor Angriff und vor dem bösen Geist am Mittag“ (Ps. XC. 6), soll deshalb, wie der Psalmist sagt, Gottes Obhut uns schützen.

Bemerkt hier, wie die heilige Schrift sich ausdrückt. Sie nennt die Unterlassungssünden ein Geschäft, und zwar ein Geschäft, das im Finstern geht, um uns zwei sehr schlimme Umstände anzudeuten.

Der Teufel gewinnt durch diese Art der Sünden viele Seelen

Der erste ist: dass die Unterlassungssünden gleichsam das beste Betriebsgeschäft des Teufels sind, indem er durch dieselben mehr Seelen gewinnt, als sonst durch irgendein anderes Mittel; ja gerade jene, welche er auf andere Weise nicht in sein Garn ziehen kann, eignet er durch dieses sein Geschäft sich zu.

So zum Beispiel, wenn der höllische Feind einen rechtschaffenen Priester sieht, der unbefleckt in seinem Gewissen und unbescholten in seinem Wandel ist; – was tut er? Er macht, dass derselbe nach einer Kirche lüstern wird, damit er dann die Pflichten eines guten Seelenhirten mangelhaft erfülle, und so in der Sorge für die Seelen Anderer die eigene Seele verliere. So gewinnt der böse Geist auf Umwegen das, was er auf dem geraden Weg niemals zu gewinnen hoffen durfte.

Der zweite schlimme Umstand bei den Unterlassungssünden liegt darin, dass sie ein Geschäft sind, welches in tiefer nächtlicher Finsternis geht; das heißt, etwas, was der Mensch wenig kennt und wenig achtet; da solche Sünden nicht in irgendeinem bestimmten Werk, sondern in der bloßen Verneinung einer sonst gebotenen Tat bestehen. (S. Thom. I. II, q. LXXI, a. 5) „Wer das Gute weiß, und es nicht tut, dem ist es Sünde“, sagt der heilige Jakobus. (Jak. IV. 17)

Daher geschieht es dann, dass wer sich von dem bösen Feind durch diese Arglist hintergehen lässt, gewöhnlich seinen Fehler nicht eher einsieht, als wann schon keine Zeit mehr ist, denselben wieder gut zu machen; weshalb jene nämlichen Menschen, welche endlich einmal mit zunehmenden Jahren ihr Fluchen oder ihre Trunkenheit, ihre Unsittlichkeit oder ihre Rachsucht ablegen, sich in Bezug auf ihre Unterlassungssünden niemals bessern, sondern dieselben bis ins Grab mit sich tragen.

Es gibt ein geheimes Mittel, um bei dem Abschießen des Gewehres den Knall, der mit der Entladung verbunden ist, zu verhindern; aber verhüte Gott, dass dieses Geheimnis zu weiter Kunde gelange! Denn wie viel schwerer wäre es dann, dem Schuss zu entgehen, wenn man nicht einmal hören könnte, woher er kommt.

Unterlassungssünden sind unter den Christen am meisten verbreitet

14. Diese äußerst verderblichen Unterlassungssünden nun sind bei dem größten Teil der Christen am allgemeinsten verbreitet, und beziehen sich sowohl auf die Pflichten der Gerechtigkeit, als der Liebe, welche vernachlässigt und versäumt werden.

Wirft man einen Blick auf die Pflichten der Gerechtigkeit, – wie viele geistliche Hirten gibt es an den Kirchen, welche für die ihnen von Christus anvertrauten Seelen keine größere Sorge tragen, als wenn ihnen dieselben gar nicht angehörten! Sie geben den Kindern nicht den christlichen Unterricht, öffnen nie den Mund vom Altar aus, um ihr Volk zu unterweisen, das doch in einer tiefen Unwissenheit über die zum Heil notwendigen Wahrheiten liegt: und sie spenden die heiligen Sakramente der Buße und des Altars nie, außer im Fall der äußersten Notwendigkeit.

Wie viele Beichtväter gibt es, welche beinahe keine von den Seelen, die zu ihnen zur Beichte kommen, ob ihrer Sünden zurechtzuweisen pflegen: welche keine Mittel gegen den Rückfall vorschreiben, und sogar solchen die Lossprechung erteilen, die kein Zeichen wahrer Reue und ernstlichen Vorsatzes an sich haben! Wie viele Richter, wie viele Anwälte, wie viele Vorstände, wie viele Beamte, wie viele Ärzte, wie viele öffentliche Diener gibt es, welche den Geschäften ihres Amtes nicht mit dem erforderlichen Fleiß obliegen! Wie viele Väter gibt es, welche schmählich die Erziehung ihrer Kinder vernachlässigen und höchstens daran denken, sie reich an zeitlichen Gütern zu machen, gleich als ob die ewigen nicht unendlich wichtiger wären!

Die Pflichten der Liebe

Aber ich würde mich zu lange aufhalten, wenn ich alle diese Sünden, welche das allgemeine Unheil in der Welt bilden, einzeln aufführen wollte; und darum gehe ich von den Pflichten der Gerechtigkeit auf die Pflichten der Liebe über, in Betreff welcher die Unterlassungssünden nicht minder allgemein sind.

Denn es lässt sich nicht beschreiben, wie sehr heutzutage die Armen in ihrem Elend verlassen werden. Ja, wie viele gibt es, welche, statt dieselben durch Almosen zu unterstützen, vielmehr deren Jammer noch durch jede Art von Erpressung, von Gottlosigkeit, von Rohheit vermehren! Und doch hat der Herr uns ausdrücklich bedeutet, dass er uns mit demselben Maße messen werde, mit welchem wir selbst unseren Nächsten messen würden: „Mit welchem Maße ihr messet, wird euch wieder zugemessen werden.“ (Matth. VII.2)

Diese und noch viel mehr andere Unterlassungssünden werden unter den Christen ohne Scheu und Bedenken begangen, – so sehr sind sie schon zur Gewohnheit geworden!

Und gesetzt auch, dass die Beichten mancher, die in dieser Beziehung so unvollständig sind, durch Unbedachtsamkeit und Vergesslichkeit entschuldigt werden könnten; sagt, wie sollen die Sünden selbst entschuldigt werden, da der Herr im Evangelium so feierlich und so offen erklärt hat, dass er hierüber ein besonders genaues Gericht halten werde, gleich als ob die anderen Sünden, im Vergleich zu jenen, mit minder furchtbarer Strenge behandelt werden würden? „Weichet von mir, ihr Verfluchten! In das ewige Feuer; denn ich war hungrig, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben“; wird der Herr zu den Verworfenen sprechen. „Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters! Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben“, wird er den Auserwählten zurufen. (Ibid. XXV. 34-42)

Als diese Worte der heilige Bernhardinus von Siena erwog (Berhardin. de Siena de christ. relig. serm. XI), drang sich ihm die Bemerkung auf, dass drei große Gerichte des Herrn sich unterscheiden lassen:

Das erste war am Anfang der Welt gegen den Stolz, als Gott alle Engel verstieß, die gegen ihn sich empört hatten; das zweite war in späterer Zeit gegen die Unzucht, als Gott in der allgemeinen Sündflut alle strafte, die durch fleischliche Lust seinen Zorn herausgefordert hatten; und das dritte wird am Ende der Zeit stattfinden, und zwar gegen den Geiz, indem Gott da alle jene richten wird, welche den Armen nicht durch Almosen zu Hilfe gekommen sind: gleich als ob das letzte Gericht sich ganz besonders mit den Unterlassungssünden wider die Pflichten der Nächstenliebe zu befassen hätte, – Unterlassungssünden, die gewöhnlich von den Leuten noch viel weniger beachtet werden, als jene, welche gegen die Pflichten der Gerechtigkeit streiten.

2.

Die Notwendigkeit der wahren Bekehrung des Herzens

15. Aber dies, obgleich viel und arg, ist noch nicht das ganze Übel. Mehr noch fehlen die Sünder gewöhnlich in dem zweiten Hauptteil der Buße, welcher in der wahren Bekehrung des Herzens besteht.

Ein großer Teil des Christenvolkes scheint nicht einmal zu wissen, dass diese Bekehrung unbedingt notwendig ist; sondern man meint schon gut genug zu beichten, wenn man nur seine Sünden alle hersagt. Wie werden also solche Menschen es sich angelegen sein lassen, jenen ernstlichen und aufrichtigen Reueschmerz in ihrem Herzen zu erwecken, in dem die wahre Bekehrung ihren Grund und ganzen Bestand hat?

Zudem, wie oft trifft es sich, dass die ganze Reue jener Leute in der Tat rein natürlich ist, und lediglich aus der Verletzung der Natur hervorgeht, wie der heilige Bonaventura sich ausdrückt; weil nämlich die Sünde, da sie der Vernunft zuwider läuft, natürlicherweise in dem Menschen, der immerhin vernünftig ist, eine gewisse Betrübnis und eine gewisse Qual hervorruft; weshalb dann auch ein Misstrauen über die begangene böse Tat in ihm entstehen muss!

Endlich, wie leicht geschieht es bei dergleichen Sündern, welche so sehr das Laster zu lieben gewohnt sind, – dass ihnen bloß die Strafe missfällt, welche sie fürchten, nicht aber die Schuld, welche sie sich zugezogen haben! Wie dies der heilige Fulgentius bei dem Bekenntnis des Königs Saul bemerkte, der nicht das verabscheute, was er getan hatte, seinen Ungehorsam nämlich; sondern bloß fürchtete, was ihm gedroht war, nämlich den Verlust des Reiches: „Er hasste nicht, was er getan; sondern fürchtete bloß, was er nicht wollte.“ (S. Fulgent. de rem. peccat., lib. II, c. XV)

Man muss die Sünde hassen

Und doch – eben die Sünde muss man hassen, und zwar mehr als alles Übel hassen; und fest entschlossen sein, ihr niemals wieder den Zutritt in das Herz gestatten zu wollen; noch mehr: man muss mit der Sünde zugleich auch die nächsten Gelegenheiten verabscheuen, welche uns Anlass sein können, sie wieder zu begehen, – nach dem Wort des Psalmisten: „Jeden bösen Weg habe ich gehasst“ (Ps. CXVIII. 128); ich habe nicht bloß das Böse, die Sünde, sondern auch jeden Weg, der zu ihr führt, das heißt, die Gelegenheit, gehasst.

Und nun bedenkt, wie viele Christen dies nicht erfüllen, sondern immer den nämlichen Umgang fortsetzen, die nämlichen Gesellschaften beibehalten, den nämlichen sinnlichen Bequemlichkeiten anhängen, welche die nächsten Veranlassungen zu ihrem Fall waren. Daraus schließt dann, wie groß die Zahl derer ist, welche, obwohl sie jedes Jahr zur Beichte gehen, doch niemals wahrhaft von Herzen ihre Sünden bereuen.

Der Mangel an wahrer Reue

16. Und doch schweben mir noch zwei mächtigere Gründe vor, welche mich von der Unzulänglichkeit der Reue bei sehr vielen Sündern überzeugen. Den einen Grund geben mir die Zeichen, welche der Beichte vorangehen, den anderen aber jene, welche der Beichte folgen.

Diese letzteren beweisen deutlich den Mangel wahrer Reue, wenn man sieht, dass die Sünder, kaum nachdem sie gebeichtet haben, sogleich wieder zu dem alten bösen Wandel, zu der alten schlechten Gewohnheit zurückkehren, ohne irgendeinen Fleiß oder reine angemessene Sorgfalt für ihre Besserung anzuwenden.

Ein Verwundeter, der seine Wunde nicht bindet, sie nicht salbt, kurz, keine Mittel für deren Heilung anwendet, gibt augenscheinlich zu erkennen, dass dieselbe ihm nicht wehe tut. So steht es auch mit dem Gewissen sehr vieler Christen, das ganz voll Wunden und Beulen ist. Man kann von solchen Sündern sagen: „Von der Fußsohle bis zum Scheitel ist kein heiler Fleck an ihm“ (Is. I. 6); und nichtsdestoweniger zeigen sie nicht die mindeste Beflissenheit, ihre Geschwüre zu heilen: „Wunde und Beule und angeschwollene Strieme – ist nicht verbunden, und nicht versorgt mit Heilmittel, und nicht gepflegt durch Öl.“

Es scheint, dass der heilige Paulus als Kennzeichen der wahren Reue eine gewisse Stetigkeit in der Buße fordert, welche auf die Reue folgt. Denn so schreibt er an die Korinther: „Die gottgefällige Traurigkeit bewirkt eine stetige Buße zum Heil.“ (II. Cor. VII. 10) Und diese Stetigkeit scheint auch von der Vernunft selbst als notwendig erkannt zu werden. Wenn eine Witwe, kaum dass sie ihren verstorbenen Gatten beweinte, sogleich wieder in den Brautstand tritt; glaubt niemand, dass ihre Trauer ihr vom Herzen ging. Das Gleiche gilt von einer Seele, die, kaum nachdem sie ihre Sünde beweint hat, dieselbe alsbald wieder begeht. Welch eine Reue, kann man denn glauben, dass sie darüber gehabt habe?

Der Mangel an wahrem Reueschmerz

17. Was dann die der Beichte vorangehenden Zeichen betrifft, so fürchte ich, dass bei vielen der besagte Reueschmerz ein sehr mangelhafter sei, wenn ich ihr früheres langes Verweilen in der Sünde betrachte: – ein wahrhaft schreckliches Verweilen, weil es in dem Herzen des Sünders notwendigerweise ein unermessliches Verderben anrichten muss.

Alles Unheil, welches die Erbsünde über die menschliche Natur brachte, indem sie den Verstand verdunkelte, den Willen entkräftete, die nicht mehr gehorchenden Leidenschaften insgesamt entfesselte, – all dieses Unheil, sage ich, wird täglich durch des Menschen eigene Sündentat erneuert, indem diese verhältnismäßig in der Seele die nämlichen Wirkungen hervorbringt, welche einst die Ursünde mit sich brachte. So lehrt der heilige Thomas.

Stellt euch nun vor, in welchem Zustand fürchterlicher Verkehrtheit sich so viele Menschen befinden müssen, die in ihrem ganzen Leben nicht taten als sündigen! Und doch sollen diese sich bekehren!

Einige beginnen, wie wir oben sagten, ihr böses Leben, kaum dass sie zum Gebrauch ihrer Vernunft gelangt sind; und in der gleichen Weise setzen sie dasselbe beständig bis zu ihrem Tod fort: sie lassen keine sich ihnen darbietende Gelegenheit, Gott zu beleidigen, ungenützt vorübergehen; ja sie begehen mit den Begierden des Herzens und durch absichtlich gepflegte Lust am Bösen jene Verbrechen, welche sie im Werk nicht vollführen können; – einem Wolf ähnlich, der, wenn er den Schafstall wohl verschlossen findet, rings um denselben schleicht, und wenigstens mit der inneren Gier die darin verwahrte Beute verschlingt, welche er mit seinem Rachen nicht erreichen kann.

Welch ein Verderben muss daher, allem vernünftigen Ermessen zufolge, ein so fortgesetztes Sündigen am Ende in den Vermögen und Kräften der Seele anrichten! Wie sehr muss in denselben die Blindheit, die Bosheit, die Leidenschaft, die Begierlichkeit sich mehren und stets Wunde auf Wunde sich häufen! „Er schüttet auf die Erde aus meine Eingeweide“, würde die Seele solcher Unglücklichen ausrufen, wenn sie dieses so ununterbrochenen Sündigens sich fühlbar bewusst würde: „Er schlägt mir Wunde auf Wunde, und stürmt auf mich ein wie ein Riese.“ (Job. XVI. 14. 15)

Aber ihre Seele pflegt, je mehr sie geschlagen wird, immer desto abgestumpfter und unempfindlicher für das Böse zu werden; und darum kann man beinahe mit Gewissheit sagen, dass alle jene, welche in so frühen Jahren zu sündigen beginnen, verloren sind.

Wer vom zarten bis zum letzten Alter sündigt, kann nur schwer seine Seele retten

18. Die bösartigen Gestirne erscheinen sicher alle zu großem Schaden am Himmel; am schädlichsten aber sind doch jene, welche am Morgen aufgehen. Der Grund ist, weil diese dann länger über der Erde stehen und so mehr Zeit haben, ihre verderblichen Einflüsse auf dieselbe zu üben.

Das Nämliche kann man von den Sünden sagen. Wenn sie auch nur kurze Zeit im Gewissen herrschend werden, verursachen sie stets große Zerrüttung und schweres Unheil; aber größeres Verderben als je verursachen sie, wenn sie schon vom zartesten Alter an im Herzen Gewalt zu üben beginnen, und aus demselben nicht weichen bis zum letzten Alter. Dann versetzen die Sünden den Menschen, der sie hegt, in einen so unseligen Zustand, dass er voll der Vergessenheit in Bezug auf sein letztes Ziel, und darum auch voll der Irrungen in Betreff der dazu führenden Mittel dahinlebt. Es ist deshalb überaus schwer, dass solche Unglückliche ihre Seele retten.

Und doch ist es gerade diese Art von Sündern, welche an Zahl jede andere übersteigt.

Die meisten glauben, sie seien für sich selbst geschaffen

19. Unzählbar sind jene, welche nicht zur Einsicht kommen wollen, dass sie geschaffen sind, um Gott zu verherrlichen; sie geben sich vielmehr der Meinung hin, als seien sie lediglich für sich selbst geschaffen.

Darum beziehen sich bei all ihrem Tun und Lassen ihre Absichten nie auf Gott, sondern ihr ganzes Streben geht fortwährend und ausschließlich dahin, dass sie sich irdische Güter, Reichtümer, Vergnügen, hohen Rang, Macht und Herrschaft erringen, ohne dass sie je ihre Augen zu Gott ihrem Herrn erheben. Sie machen sich auf diese Weise selbst den unreinen Tieren ähnlich, welche, unter eine Eiche geschart, daselbst bloß mit den Eicheln sich zu sättigen suchen, und sogar um dieselben miteinander streiten, weil jedes mehr erhaschen will; aber nie den schmutzigen Schädel emporrichten, um nach dem Hirten zu schauen, der ihnen von der Höhe des Baumes herab die gierig verlangte Nahrung schüttelt.

Sie schätzen die zeitlichen, nicht aber die ewigen Güter

20. Noch größer jedoch ist die Zahl derer, welche wohl einigermaßen ihr letztes Ziel kennen, aber dann auf die schlimmste Weise sich über die Mittel irren, welche zu demselben führen.

Sie leben in dem Wahn, dass die, welche auf dieser elenden Erde am meisten besitzen, auch von Gott am meisten bevorzugt und begünstigt sind: „Glücklich nannten sie das Volk, das dies alles hat.“ (Ps. CXLIII. 15) Sie legen deshalb auf die ewigen Güter gar keinen Wert, sondern schätzen bloß die zeitlichen, und rufen einander zu: „Kommt, kommt, lasset uns, was des Guten ist, genießen; denn dies ist unser Anteil, und dies unser Los.“ (Sap. II. 6, 9) Und indem sie so sprechen, reihen sie sich auch unter die Schar jener Toren, deren Zahl, nach den Worten der heiligen Schrift, unendlich ist: „Der Toren Zahl ist ohne Ende.“ (Eccle. I, 15)

Nun versucht es einmal, solche Menschen zu überzeugen, dass die Sünde das größte Übel ist, und dass man daher, wenn man eine wahre Reue über dieselbe in der heiligen Beichte erwecken will, sie mehr als jedes andere von allen denkbaren Übeln verabscheuen muss. Sie verstehen nichts von dem, was ihr ihnen da sagt: ihre Erkenntnis ist so schwach, ihr Herz so hart, dass sie für keine anderen Verluste, als die zeitlichen, ein Verständnis oder Gefühl haben. Sie gleichen dem Krokodil, das auf jener Seite, welche gegen den Himmel gekehrt ist, das heißt, auf dem Rücken, für jedes Geschoss undurchdringbar ist; während man es auf der entgegengesetzten Seite, die zur Erde schaut, auf dem Bauch nämlich mit einer Nadel durchbohren kann.

Die Sünder ahmen in der Beichte das Schuldbekenntnis des Judas nach

21. Diese Sünder, wenn sie beichten, sehen ihre Flecken, wie ein Mensch sie sieht, der sich in einem Spiegel schaut; aber sie erblicken dieselben nicht wie der, der in einer Quelle sich besieht und nicht zufrieden, sie zu sehen, sie auch sogleich wegzuwaschen sucht.

Darum sind sie auch nach der Beichte die nämlicher wieder wie zuvor. Je mehr sich aber ihre Sünden vermehren, desto mehr nimmt auch die tödliche Kälte ihres Herzens zu, – wie wir etwas Ähnliches in den niedrig gelegenen Landschaften bemerken, in welchen der Winter um so härter sich fühlbar macht, je dichter die Luft ist. (Arist. Probl. Sect. XXIII, q. VI.)

So tritt es denn klar zu Tage, wie schwierig für solche Menschen die Erweckung einer übernatürlichen Reue ist, wann sie zur heiligen Beichte gehen sollen. Und dies um so mehr, da sie keine Sorgfalt anzuwenden pflegen, um ihr Gemüt in die notwendige Stimmung zu versetzen; da sie sich nicht bemühen, aufmerksamen Sinnes die Beweggründe zu einer wahren Reue bei sich zu überdenken; da sie keine Bücher lesen mögen, welche von diesem Gegenstand handeln: da sie keine Predigten hören, keine Vorstellungen annehmen, ja nicht einmal unter den Beichtvätern die besten und tüchtigsten wählen wollen; sie suchen vielmehr geflissentlich gerade jene auf, welche in dem Ruf stehen, dass sie nachsichtiger sind.

So ahmen sie auch hierin das Schuldbekenntnis des Judas nach, der in der Angabe seiner Sünde genau und aufrichtig war: „Ich habe gesündigt, indem ich unschuldiges Blut verriet“ (Matth. XXVII. 4); aber keinen guten Priester suchte, um seine Schuld ihm zu eröffnen, sondern wahnwitzig zu den Pharisäern ging. „Zu den Pharisäern ging er“, sagt der heilige Augustinus, „die Apostel floh er; und darum fand er keine Hilfe, sondern eine Vermehrung seiner Verzweiflung.“ (S. August. de vera et falsa poenit. c. XI)

3.

Es fehlt den Sündern an der Genugtuung

22. Endlich fehlt es der Buße so mancher Sünder auch an dem letzten Teil, an der Genugtuung, an der Sühne für die Schuld. Es fehlt an der Genugtuung sowohl in Bezug auf Gott, als in Bezug auf den Nächsten, dem ein Schaden zugefügt worden ist.

Was nun (um von dem Nächsten hier ganz zu schweigen) den beleidigten Gott betrifft, – sagt, geliebte Zuhörer! Welche Genugtuung wird ihm denn von so vielen Christen geleistet, welche die Wucht einer Unzahl von Sünden, die sie auf ihren Schultern haben, für nichts achten, aber sich dann für sehr beschwert halten, wenn ihnen der Beichtvater einige wenige Gebete auferlegt, durch deren Verrichtung sie Gott einigermaßen, ich möchte sagen, auf Abschlag, sühnen sollen? Heißt dies für die Beleidigung, welche man Gott zugefügt hat, Genugtuung leisten?

„Wirkt würdige Früchte der Buße!“ (Matth. III. 8) Dies ist das einzige Mittel, auf welches der heilige Johannes der Täufer hinwies, um dem Zorn Gottes zu entgehen. Und doch – welche Früchte der Buße bringt denn der größte Teil der Sünder? Man kann nicht einmal sagen, dass er überhaupt Früchte der Buße, geschweige denn, dass er würdige Früchte der Buße bringt, das heißt solche, welche zu der begangenen Schuld im angemessenen Verhältnis stehen.

Und dann wollt ihr, dass diese Menschen leicht ihre Seele retten?

Was Gott von den Büßern verlangt

23. Und glaubt nicht, dass dies ein mehr scheinbarer als fester Grund zum Zweifel sei. Denn ihr müsst wissen: Gott verlangt von den Büßern, dass sie durch gute Werke die bösen Taten, deren sie sich anklagen, wieder ersetzen.

Wenn Gott bei seinen Auserwählten zulässt, dass sie sündigen, so ist diese Zulassung in einer gewissen Hinsicht eine Folge und Wirkung ihrer Vorherbestimmung, welche von Gott ganz zum Besten der Auserwählten selbst getroffen worden ist; wie denn auch der Apostel sagt: „Denen, die Gott lieben, gereicht alles zum Guten“ (Röm. VIII. 28), – sogar auch die Sünden, wie die Glosse hier bemerkt.

Ordnet nun Gott selbst die Zulassung der Sünden zum Besten der Büßer, deren Heil er vorhersieht; so kann er dabei nicht die Absicht haben, dass sie bloß nicht mehr sündigen; sondern sein Zweck muss sein, dass sie auch an heilsamen und heiligen Werken zunehmen, und so wahrhaft ihren Wandel bessern und im Guten wachsen. Denn welcher Zweifel könnte sonst sein, dass es viel besser für sie gewesen wäre, gar nicht zu sündigen, als nach der Sünde einfach wieder zu fallen; wenn sie aus jenem vorhergehenden Übel keinen anderen Nutzen zu ziehen gehabt hätten, als dass sie in Zukunft vor dem Fall sich bewahren?

Demzufolge mache ich den Schluss: selbst jene, welche ihre Sünden wirklich von Herzen bereuen, aber aus ihren Sünden nicht irgendeinen größeren Nutzen ziehen, indem sie sich bemühen, die Flecken ihrer Schuld nicht bloß abzuwaschen, sondern darüber auch noch die köstlichen Verzierungen einer um so größeren Demut, einer um so größeren Dankbarkeit, einer um so größeren Gerechtigkeit und um so größeren guter Werke zu weben, – haben an sich nichts jenes so entscheidende Merkmal, dass sie zu den Auserwählten gehören, indem sie nicht alle jene heilsamen Früchte bringen, welche Gott, zum Besten des büßenden Sünders selbst, von dessen Buße und Bekehrung erwartet.

Urteilt demnach selbst, ob in der Zahl der Auserwählten jene einen Platz haben können, welche nach der Beichte ihr Leben nicht nur nicht bessern, sondern nicht einmal ändern.

Der Wahn, im letzten Augenblick noch eine gute Beichte zu verrichten

24. Und hier bemerkt im Vorübergehen, aber doch ganz im Verfolge der Sache, um die es sich handelt, um wie viel eitler und grundloser noch die Hoffnung derer ist, welche immer ein schlechtes Leben führen, und dabei dem Wahn sich hingeben, mittelst einer guten Beichte, die sie im letzten Augenblick machen wollen, würden sie dennoch gut sterben.

Wie ist es wahrscheinlich, dass diese Menschen, die nicht mehr Zeit haben, ihre Sünden, deren Menge so groß ist, sich zum Guten zu kehren, in die Zahl der Auserwählten gehören?

Sollten sie wirklich ihre Seele retten, so müsste entweder Gott in diesem Augenblick ein Wunder seiner Gnade wirken, indem er dieselbe über alles Maß und außer der gewöhnlichen Ordnung seiner übernatürlichen Vorsehung spendete; oder sie selbst müssten ein Wunder der Mitwirkung vollbringen.

Aber das eine wie das andere, – o wie schwer muss man annehmen, dass es gewöhnlich geschehe! Sie sind viel weiter von ihrem Heil entfernt, als ein Pol der Welt von dem anderen Pol. Wie sollen sie also mit einem Male diesem ihrem Heil nahekommen – kraft einer außerordentlich starken Mitwirkung des Willens, der das heißeste Verlangen hat, all das Gute zu tun, das die eifrigsten Büßer zu tun pflegen?

Die Wirkungen, welche von der Kälte ausgehen, sind allezeit träg und langsam. Wie kann man daher von einem so eisig kalten Herzen eine so entschlossene, so kräftige, so schnelle Mitwirkung erwarten? Andererseits aber ist es nicht glaublich, dass der Herr geneigt ist, jeden Augenblick Wunder zu tun, – namentlich zum Besten von Menschen, die nichts als Züchtigung verdienen, weil sie sich in ihrem Leben stets den Absichten seiner unendlichen Erbarmung widersetzen.

Leute, welche an sehr langwierigen Krankheiten darnieder liegen, pflegen meistens zur Winterszeit zu sterben. (Arist. Probl. Sect. I, n. 18.) Das Gleiche begegnet denen, welche immer ein schlechtes Leben führen: sie sterben in einem eisigen Winter, der wahren Liebe gänzlich beraubt. „Ihr Ende wird sein nach ihren Werken“, sagt der Apostel (II. Cor. XI. 15): ihr Tod wird sein wie ihr Leben; beide werden sich in ihrer Beschaffenheit und in ihrem Gang vollkommen gleichen, wie die Wirkung ihrer Ursache ähnlich zu sein pflegt: „Wie der Mensch lebt, so stirbt er.“

III.

Die Mehrzahl der Christen sind unwissend in den Wahrheiten des Glaubens

25. Wenn daher die Unschuld so selten unter den Christen sich findet, und wenn auch die wahre Buße keineswegs sehr häufig ist; so muss man (um wieder auf unseren Hauptgedanken zurückzukommen), man muss, sage ich, auch durch Gründe des eigenen Nachdenkens überführt, gestehen, dass von den Christen, die schon erwachsen sind, nur der kleinere Teil selig wird.

Man darf darüber sich nicht wundern, sagt der heilige Johannes Chrysostomus. Denn wie wollt ihr, dass der größere Teil in den Himmel eingehe, wenn diejenigen, welche den Weg beschreiten, der zum Himmel führt, der kleinere Teil sind? „Niemand kann zur Türe kommen, wenn er nicht auf dem Weg dazu geht.“ (S. Joh. Chrys.)

Wer bedenkt, wie die Mehrzahl der Christen so unwissend ist in den Wahrheiten des Glaubens, so nachlässig in der Sorge für das Heil der Seele, einem Leben sich ergehend, das dem Leben Jesu Christi ganz entgegengesetzt ist:

Grundsätzen huldigend, die mit dem Evangelium so sehr im Widerspruch stehen: Gesinnungen in sich tragend, die dem Kreuz so feindlich sind: immer im Haschen nach Vergnügen, Genuss, Ehre, Größe, Besitz: fortwährend geneigt und bereit, die Begierlichkeit der Vernunft, die Leidenschaft der Sittlichkeit, den eigenen Willen dem Willen Gottes vorzuziehen; – wer, sage ich, dieses alles bedenkt, der wird sich über das, was wir bisher sagten, nicht im Geringsten wundern. Wundern werden sich darüber bloß jene, welche die Dinge sich nach ihrem eigenen Wunsch zurechtsetzen, und um jeden Preis sich selber täuschen wollen, um nach ihren Gelüsten leben zu können.

Ein Mann von sehr heiterem Gemüt, den die Sterndeuter auf ein großes Unglück aufmerksam gemacht hatten, das nach ihrer Angabe ihm von den Sternen drohte, ließ sich in seinem Zimmer einen Himmel von Gipsarbeit machen, an welchem er die Sterne nach seinem Gefallen rückte, und die Stellungen, die gegenseitigen Annäherungen und Verbindungen der Sternbilder u.s.w. n der günstigsten Lage vor sich gehen ließ, die er sich nur wünschen konnte. (Nach des Marsil. Fic. Erzählung)

Man mag diesem Mann sein Spiel verzeihen, ja ihn deshalb loben, weil er auf solche Weise vielleicht die eitlen Wahrsagereien von Leuten lächerlich machen wollte, welche ihm die Zukunft, die Gott allein bekannt ist, zu deuten gewagt hatten.

Aber wie soll man so viele Christen entschuldigen, welche ohne irgendeine Kenntnis der heiligen Schrift zu besitzen, ohne irgendwie in den übernatürlichen Wissenschaften bewandert zu sein, vielmehr von den Lehrern der Kirche, ja durch den Mund des Erlösers selbst auf die ihnen drohende große Gefahr der ewigen Verdammnis aufmerksam gemacht, – sich den Himmel gerade so vorstellen, wie sie sich ihn am liebsten wünschen möchten: sie träumen sich an demselben alle Zeichen und Stellungen stets in der ihnen günstigsten Weise, und wähnen, dass alle Sphären und alle Sterne nur die wohltätigsten Einflüsse auf sie herabzuströmen hätten, – gleich als lebten sie noch immer im Stande vollkommener Unschuld?

Heißt dies nicht, sich selbst mit Gewalt betrügen?

Viele sterben durch traurige Unglücksfälle ohne wahre Buße

Und doch habe ich hier kein Wort von den zahllos vielen gesagt, welche, nachdem sie lange in Sünden gelebt, nicht bloß niemals wahre Buße tun, sondern nicht einmal Zeit haben, sie zu üben, weil sie plötzlich durch traurige Unglücksfälle hinweggerafft werden. Den einen trifft ein Schlagfluss, den anderen frisst das Schwert oder das Feuer: Dieser stirbt an Gift, jenen tötet ein Sturm oder der Blitz: Dieser geht durch Erdbeben, jener durch einen tödlichen Sturz zu Grunde: und so stirbt eine Unzahl durch hundert andere gewaltsame Todesarten, die alle um so schrecklicher sind, je unerwarteter sie eintreten.

Rechnet diese alle zu jenen hinzu, welche unbußfertig sterben, obgleich der Tod auf ihrem Bett ihnen naht; und urteilt dann selbst, wer es wohl aussprechen könnte, wie sehr dadurch die Zahl der Verworfenen, selbst unter den Christen, über die Zahl der Auserwählten erhöht wird!

26. Lasset daher, Geliebteste! Niemals mehr die eitlen Sprüche mich hören, welche die Sünder immer im Munde zu haben pflegen, – Sprüche, die wahrhaft von großer Blindheit zeugen: „Gottes Barmherzigkeit ist groß: das Blut Jesu Christi kann nicht umsonst vergossen sein: Gott hat die Christen nicht geschaffen, um sie zu verdammen.“

Dies sind Wahrheiten, – alle schön und gut, aber von den bedauernswürdigen Sündern schlecht zu ihren Gunsten angewendet.

Gott hat auch die Türken nicht geschaffen, um sie zu verdammen; und doch werden sie verdammt. Dasselbe muss auch von den schlechten Christen gelten. Sie leben wie Ungläubige, und werden darum auch wie Ungläubige behandelt werden. „Weichet von mir, all ihr Übeltäter!“ wird der Herr zu ihnen sagen. (Luk. XIII. 27)

Der Bildhauer holt aus dem Wald die dort stehenden Stämme nicht, um sie ins Feuer zu werfen; er holt sie, um daraus Werke zu bilden, die seiner geschickten Hand würdig sind. Nichtsdestoweniger, wenn er dann sieht, dass einer oder der andere dieser Stämme hartnäckig seinen Werkzeugen widersteht, – verdammt er ihn zum Feuer; nicht aus Zorn gegen die Natur des Holzes, die an und für sich nicht schlecht ist, sondern aus Hass gegen die unbearbeitbaren Knorren, auf die er im Stamm stößt.

So zieht auch die göttliche Güte die Menschen nicht aus dem Abgrund des Nichts hervor – in der Absicht, sie dann einst zu Höllenbränden zu machen. Und doch geschieht es täglich, dass viele und viele dies werden. Daran trägt aber die göttliche Güte, die ganz gewillt ist, sie zu retten, fürwahr keine Schuld; die Schuld liegt ganz an der unbeugsamen Verstocktheit jener Sünder, die sich den liebreichen Absichten des Herrn hartnäckigen Sinnes widersetzt, und die zum Heil dienlichen Mittel nicht anwenden will, welche in der Beobachtung des göttlichen Gesetzes und in der wahren Buße nach dessen Übertretung bestehen. „Das Verderben ist aus dir, Israel!“ spricht der Herr. (Os. XIII. 9)

Was „Das Blut Jesu Christi kann nicht umsonst vergossen sein“ bedeutet

27. Das Blut Jesu Christi kann nicht umsonst vergossen sein.

Ganz gewiss. Aber ihr müsst auch wissen: der erste und vorzüglichste Zweck Jesu Christi bei seinem heiligen Leiden war, der göttlichen Gerechtigkeit für die Beleidigungen genugzutun, welche ihr von den Menschen zugefügt wurden; damit auf der Welt nicht mehr die große Ungebühr sich fände, dass Gott von Unzähligen Unbilden ohne Ende empfing, von niemand aber eine vollständige und seiner Würde angemessene Genugtuung ihm geleistet wurde.

Dieser Hauptzweck nun, die Ehre Gottes, die von den empörerischen Geschöpfen verletzt war, wieder herzustellen, ist von dem Erlöser wirklich im vollsten Maße erreicht worden. Würden daher auch alle Menschen der ewigen Verdammnis anheimfallen, so wäre jenes kostbarste Blut doch nicht umsonst geflossen, sondern hätte reichen Nutzen gebracht.

Überdies, obwohl es wahr bleibt, dass der größte Teil der Erwachsenen, auch sogar unter den Gläubigen, verdammt wird; so werden nichtsdestoweniger die Scharen von Kindern, welche nach der Taufe gestorben sind, verbunden mit der immerhin großen Zahl von heiligen Seelen, welche das Kleid ihrer Unschuld unbefleckt bewahrt, oder, wenn sie es beschmutzt hatten, wieder rein gewaschen haben, eine so unermessliche und unüberschaubare Menge bilden, dass der heilige Apostel Johannes, als er dieselbe sah, sie unzählbar nannte: „Ich sah eine große Schar, welche niemand zählen konnte.“ (Apoc. VII. 9)

Obgleich also so viele in die ewige Verdammnis stürzen, wird doch der Himmel keineswegs eine Einöde sein, sondern vielmehr ein äußerst bevölkertes Reich: und wenn die Verdammten so zahlreich sein werden, wie der Sand am Meer; so werden die Auserwählten dagegen so zahlreich sein, wie die Sterne am Himmel; das heißt, die Scharen beider werden unzählbar, das Verhältnis jedoch ein sehr verschiedenes sein.

Die Barmherzigkeit Gottes ist unendlich – aber nicht für die Unbekehrbaren

28. Die Barmherzigkeit Gottes ist unendlich, – aber nicht für die, welche ihn immer beleidigen, ohne je sich zu bekehren; sondern für diejenigen, welche ihn fürchten: „Die Barmherzigkeit des Herrn waltet über die, so ihn fürchten“, sagt der königliche Prophet. (Ps. CII. 17)

Ferner: obwohl alle an der Barmherzigkeit Gottes Teil haben, nach den Worten des Psalmisten: „Seine Erbarmungen sind über alle seine Werke“ (Ps. CXLIV. 9); so haben doch nicht alle in gleicher Weise daran Teil.

Die Barmherzigkeit Gottes kann sich auf dreifache Art an den Sündern äußern: sie kann dieselben erwarten, sie kann dieselben rufen, und sie kann dieselben zur Buße aufnehmen.

An den zwei ersten Wirkungen der Barmherzigkeit pflegen die Sünder gewöhnlich alle Teile zu haben, da sie immer zur Buße erwartet, und mehr als einmal dazu gerufen werden: und wenn sie nicht alle auch an der dritten Wirkung Teil haben, das heißt, wenn nicht alle auch zur Buße aufgenommen werden; so kommt dies daher, weil sie undankbar von den beiden ersten keinen Gebrauch machen.

Der Ölbaum stand nach der Sündflut nicht bloß für die Taube, sondern auch für den Raben; aber der Rabe, an das Aas gewöhnt, achtete seiner nicht.

Dazu bemerkt noch, dass Gott selbst bei der Verdammung der Bösen seine Barmherzigkeit übt, indem er sie nie so sehr straft, als sie es verdienen würden, sondern ihnen stets eine geringere Strafe auferlegt, als die Größe ihrer Schuld forderte, – sofern man, wenn auch nicht die Dauer, so doch wenigstens die wesentliche Stärke der Qual mit derselben vergleicht. Ohne dass daher der Barmherzigkeit Gottes und dem überreichen Ausströmen derselben über alle Menschen Eintrag geschähe, wird es wahr bleiben, dass der größte Teil der Christen in die ewige Verdammnis fällt.

An die göttliche Eigenschaft der Gerechtigkeit wollen die Sünder nicht glauben

29. Was uns indessen hindert, diese Wahrheit recht zu verstehen, ist der trübe Schleier, welchen unsere Eigenliebe uns vor die Augen hängt, indem sie uns eine große Meinung von uns selbst hegen, den überhohen Begriff aber verkennen lässt, den wir uns von Gott und von der Größe der ihm durch die Sünde zugefügten Beleidigungen bilden müssen.

Daher kommt es, dass, obgleich unter allen göttlichen Eigenschaften keine in ihren Wirkungen fühlbarer und größer ist, als die Gerechtigkeit, dessen ungeachtet keine weniger gekannt scheint. „Gerechter Vater!“ sagt Jesus Christus, „die Welt hat Dich nicht erkannt.“ (Joh. XVII. 25) Er sagte nicht: „Allmächtiger Vater! Bester Vater! Barmherziger Vater!“, sondern: „Gerechter Vater!“, um anzudeuten, dass Gott in keiner seiner Vollkommenheiten dem Menschen mehr unbekannt ist, als in seiner Gerechtigkeit. Denn die Menschen wollen das nicht glauben, was sie nicht gerne erfahren.

Von dem Elefanten sagt man (Plin. Lib. II, c. LXXXIII), wenn er einen sehr schmalen Steig zu beschreiten habe, so kehre er ihm den Rücken zu, um ihn nicht zu sehen, und gehe dann rücklings darüber, damit ihm ja die große Gefahr nicht vor Augen schwebe, in welcher er sich befindet. Nicht anders handeln die Sünder. Sie meiden es sorgfältig, die Gefahr kennen zu lernen, welche doch unmittelbar vor ihnen steht, um dieselbe nicht fürchten zu müssen.

Wir müssen an unserem Heil tätig mitwirken

30. Das wahrhaft Heilsame ist übrigens, dass man sich wohl der Betrachtung der göttlichen Barmherzigkeit bediene; jedoch so, wie die Frauen in gesegneten Umständen sich des sogenannten Adlersteines bedienen, der die Kraft hat, die Geburt zu erleichtern, – aber wenn man ihn mäßig gebraucht; denn wenn man ihn zu lange trägt, bewirkt er eine vorzeitige Geburt. (Plin. Lib. XXXVI, c. XXI)

Seelen, die über die Maßen furchtsam sind, und die, obwohl sie sorgfältig vor der Sünde sich hüten, doch in einem fortwährenden ängstlichen Zweifel in Betreff ihres Heiles sich befinden, – diese Seelen, sage ich, sollen oft an die erbarmende Liebe ihres Gottes denken, um dadurch zur Geburt guter Werke sich Kraft und Mut zu sammeln. Aber jene vermessenen Seelen, welche immer einen schlechten Wandel führen, müssen sich gewöhnlich die göttliche Gerechtigkeit recht lebhaft vor die Augen stellen, und dabei bedenken, dass der Mensch am Ende das ernten wird, was er in seinem Leben gesät hat: „Was der Mensch gesät hat, das wird er auch ernten.“ (Gal. VI. 7)

Diese sollen ja nicht auf jene eitle Hoffnung bauen, die in Wahrheit keine Hoffnung, sondern freventliche Vermessenheit ist, da sie will, dass Gott alles tue, und sich nicht damit begnügt, dass Gott uns bloße Hilfe bietet.

Dies aber ist unsere Pflicht: wir dürfen nicht erwarten, dass Gott allein unser Heil wirke; sondern wir müssen tätig mitwirken mit der Gnade, welche er uns „in rechter Hilfe“ verleiht (Hebr. IV. 16): und wir müssen bedenken, dass aller günstige Wind nicht hinreicht, um den Seefahrer in den schützenden Hafen zu bringen, wenn derselbe auf hohem Meer sich festsetzt und die Anker zu lichten sich weigert.

Kämpfe den guten Kampf des Glaubens und ergreife das ewige Leben

31. Schließen wir also mit den Worten des heiligen Apostels Paulus und stellen wir uns vor, als spreche er zu einem jeden von uns insbesondere: „Kämpfe den guten Kampf des Glaubens, ergreife das ewige Leben!“ (1. Tim. VI. 12)

Das gegenwärtige Leben ist die Zeit des Kampfes, das zukünftige wird die Zeit der Siegesfreude sein. Jetzt müssen wir Krieg führen wider unsere Begierlichkeiten, und dabei auf dem engen Weg der göttlichen Gebote wandeln, ohne den Mut zu verlieren, wenn wir irgendeinmal überwunden werden und fallen.

„Kämpfe den guten Kampf!“ Nehmen wir die Waffen mit stets neuer Kraft zur Hand, kehren wir uns wieder mit frischer Stärke gegen unsere Leidenschaften, stellen wir die Schlacht wieder her! Erinnern wir uns, mit einem Wort, dass unser Heil kein leichtes, müheloses Geschäft ist; es ist eine harte, gefahrvolle Arbeit, welche ihrer Natur nach eine große Anstrengung fordert.

„Ergreife das ewige Leben!“ Scheint es uns, dass dasselbe uns entfliehe, so eilen wir ihm nach, fassen wir es, halten wir es fest, und machen um jeden Preis es uns zu eigen! Wenn es sich um das ewige Leben handelt, so handelt es sich nicht um etwas so Geringes, dass wir uns von den Schwierigkeiten abschrecken lassen sollten, welche uns aufstoßen, indem wir den Weg zu demselben verfolgen: und es handelt sich nicht um etwas so Geringes, dass wir es um ein Vielleicht aufs Spiel setzen dürften.

Es handelt sich um eine unsterbliche Seele, welche, wenn der große Kampf missglückt, ewig in einem Übermaß aller Übel leben muss. „Ergreife das ewige Leben!“

Eine falsche Sicherheit führt zu Trägheit und Nachlässigkeit im Kampf

Seien es viele oder wenige, die zum Heil gelangen, – was verliert man, wenn man sich dasselbe sichert? Ist der Weg breit und leben wir gut, so werden wir mit desto größerem Verdienst zum Leben eingehen; ist der Weg aber eng und leben wir gut, so werden wir mit den wenigen unsere Seele retten, – dem weisen Rat des heiligen Johannes Klimakus gemäß, der da sagt: „Lebe mit den wenigen, wenn du mit den wenigen herrschen willst.“

Stellt sich ein Wanderer eine Brücke, über die er gehen soll, enger vor, als sie in Wirklichkeit ist, so wird er nie ins Wasser fallen; wohl aber kann er in dasselbe stürzen, wenn er sich die Brücke breiter denkt, als er sie dann trifft.

„Ein schlimmes Versprechen hat schon viele zu Grunde gerichtet“ (Eccli. XXIX.24). Diese übergroße Dreistigkeit, – o wie viele hat sie schon in die Verdammnis gestürzt! Denn eine solche falsche Sicherheit ist, wenn wir dem heiligen Thomas glauben (S. Thom. I. II, q. XL, a. 8), die Mutter der Trägheit und Nachlässigkeit, indem sie in uns die Meinung von der Größe der Schwierigkeit vermindert, welche wir zu überwinden haben.

„Ergreife das ewige Leben!“ nicht bloß: greife, fasse, sondern ergreife, erfasse es, weil man zu dem Besitz desselben ohne Anstrengung nie gelangen kann. –
aus: P. Paul Segneri, Der Christ in seinem Gesetz unterrichtet oder christliche Sittenreden, Erster Band, 1854, Fünfte Rede, S. 135 – S. 159

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Bildquellen

  • Der_breite_und_der_schmale_Weg_2008: Wikipedia

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