Sündhafte Versuchung und der Schutz Gottes
1. Der heilige Chrysantus schloß seine Augen und verhielt mit beiden Händen die Ohren, um die zu seiner Verführung gesandten Weibspersonen nicht zu sehen und zu hören. O, wie vernünftig hat er hierin gehandelt! Unzählbare Menschen sind in die schwersten Laster gefallen und nachher in die Hölle gestürzt worden, weil sie zu vorwitzig ihre Augen auf unkeusche Bilder, Personen, unreine Vorstellungen geworfen haben, oder Schmeicheleien und unzüchtige Reden anhörten. Durch die Augen und Ohren ist der Tod, wie ein Dieb durch die Fenster bei ihnen eingestiegen. Hätten sie ihre Augen verschlossen oder abgewendet; hätten sie ihre Ohren verstopft, und wären sie von jenen hinweg gegangen, welche freche und unverschämte Reden oder Gesänge geführt haben: so wären sie nie in so schwere Sünden gefallen, nie in den Abgrund der Hölle gestürzt worden. Niemals hätte der sonst so fromme König David ein so abscheuliches Laster begangen, wenn er seine Augen nicht so vorwitzig auf das Weib des Urias geworfen hätte. Und wo wäre er, wenn er nicht strenge und wahre Buße gewirkt hätte? Es steht geschrieben: „Mein Auge hat mir das Leben genommen“ (Klagelied. 3, 51). „Umzäune deine Ohren mit Dornen“, ermahnt der weise Mann, „und höre auf keine gottlose Zunge“ (Ekkli. 28, 28). – „Wer sündhafte Reden freiwillig anhört, der läßt den Tod durch die Fenster hinein steigen“, schreibt der gelehrte Theodoret. – „Die Augen sind die Führer zur Sünde“, sagt der heilige Hieronymus. – „Um die Reinigkeit des Herzens zu bewahren, ist notwendig, daß man seine äußeren Sinne bewahre.“ Also spricht der heilige Gregor.
2. Der heilige Chrysantus und die heilige Daria kamen in die größte Gefahr zu sündigen. Sie wurden äußerlich gereizt und zur Sünde versucht, doch ohne ihre Schuld. Sie widersetzten sich und riefen zu Gott und taten alles, was in ihren Kräften stand, um der Sünde zu entgehen. Gott beschützte und bewahrte sie denn auch vor aller Einwilligung. Wie diese Heiligen äußerlich versucht und gereizt wurden, ebenso erleiden auch viele innerlich die schwersten Versuchungen; einige zwar aus ihrer eigenen Schuld, andere aber ohne die geringste Schuld. Menschen, welche müßig gehen, im Essen und Trinken sich übernehmen, keine Liebhaber des Gebetes und anderer guten Werke sind; welche ohne Not oder ohne vernünftige Ursache bei dem andern Geschlecht sich gern und lange einfinden, frechen Schauspielen beiwohnen, unzüchtige Bücher, Romane lesen, ihre Augen freiwillig auf frech gekleidete oder eitel aufgeputzte Personen oder unkeusche Bilder werfen, unflätige oder zweideutige Reden und Gesänge gern anhören oder selbst führen, unehrbare Spiele treiben, bei Tänzen mit Personen des andern Geschlechts und Belustigungen sich gern aufhalten oder selbst mitmachen, verdächtige Freundschaft und Bekanntschaft machen und unterhalten, lieber bei nächtlichen Zusammenkünften als bei dem öffentlichen Gottesdienst sich einfinden, in ihrem Tun und Lassen, in Mienen und Gebärden die christliche Eingezogenheit beiseite setzen: alle diese, wenn sie unreine oder andere böse Anfechtungen erleiden, sind selbst Schuld daran; sie selbst geben zu denselben Veranlassung und Gelegenheit. Andere aber, ungeachtet sie alles dieses meiden, werden dennoch bisweilen heftig versucht, wie es sogar vielen Heiligen auf dieser Welt widerfuhr. Diese sind an ihren Versuchungen nicht Schuld und geben keine Gelegenheit zu denselben. Bei diesen sind unreine Versuchungen die Folge eines krankhaften Zustandes des Leibes oder eines Höllengeistes, die im Fleisch unreine Gelüste erregen können. Ein Geisteslehrer sagt zum Trost dieser folgendes: Eine so versuchte Jungfrau bat eine fromme Person, für sie die Mutter Gottes zu bitten um Befreiung von ihren Versuchungen. Maria sagte aber: sie bitte ihren Sohn nur, daß sie nicht einwillige und dabei sich nicht freiwillig aufhalte; denn je mehr sie solche Versuchungen, die ihr ein Leiden sind, erdulde, desto größer werde ihre Freude im Himmel.
Vermeide alle genannten Veranlassungen zu unreinen Versuchungen. Wirst du aber dennoch versucht, so vertraue auf Gott, rufe ihn an und streite standhaft. Die ganze Hölle wird nicht imstande sein, dich zu überwinden. Gott wird dein Beschützer sein. „Denn er ist ein Beschützer aller derer, die auf ihn hoffen (Psalm 17, 31), er ist ein Beschützer zur Zeit der Trübsal (der Versuchungen). Der Herr wird ihnen helfen und sie erretten.“ (Psalm 36, 39) –
aus: Wilhelm Auer, Kapuzinerordenspriester, Goldene Legende Leben der lieben Heiligen Gottes auf alle Tage des Jahres, 1902, S. 856 – S. 857