Der heilige Pambo über das Richten und Urteilen
Es waren zwei Brüder, deren Vater ein Kaufmann gewesen und nun mit Tod abging. Die beiden Erben verteilten mit einander, was ihnen der Vater an Geld, Gewändern und Sklaven hinterlassen hatte; hernach aber berieten sie sich wechselseitig, was sie für einen Lebenslauf ergreifen wollten. Sie sagten: Wenn wir Handel treiben, wie unser Vater getrieben hat, so werden wir Andern die Früchte unserer Arbeit hinterlassen, und geraten vielleicht in Gefahr, den Räubern in die Hände zu fallen oder auf dem Meer zu Grund zu gehen. Wir wollen lieber das Mönchsleben ergreifen und die Hinterlassenschaften unseres Vaters so verwenden, daß wir unsere Seele retten.“ Dieser Entschluss, im Einsiedlerleben Gott zu dienen, war Beiden gemein, aber in der Ausführung zeigten sie sich verschieden. Als sie nämlich das Geld und Alles geteilt hatten, so schenkte der Eine Alles weg, besonders an Klöster und Kirchen, und als er eine Handarbeit erlernt hatte, um sich das tägliche Brot zu erwerben, so ergab er sich ganz der Arbeit und dem Gebet. Der Andere hingegen schenkte nichts hinweg, sondern baute ein kleines Kloster, gesellte sich einige Brüder bei, und nahm dann Jedermann als Gast auf, verpflegte jeden Kranken, behielt jeden Greis und gab jedem Armen. Samstags und Sonntags richtete er drei oder vier Tische her und lud die Dürftigen ein. Auf diese Weise brachte er sein Leben zu.
Da endlich beide gestorben waren, wurde jeder von den Eremiten wegen ihrer vollkommenen Tugend für selig gepriesen. Dem Einen gefiel vorzüglich das Leben desjenigen, welcher Allem entsagt hatte, dem Andern mehr das Leben dessen, der alle Hilfsbedürftige unterstützt hatte. Da sich nun ein Streit darüber erhob, welcher der beiden Brüder dem andern vorzuziehen sei und mehr gepriesen zu werden verdiene, so gingen sie zu dem Altvater Pambo, damit er den Streit entscheide und sich ausspreche, welche Lebensart die bessere sei. Pambo sagte: „Beide sind vollkommen bei Gott; der Eine hat den Abraham nachgeahmt, welcher alle gastfreundlich aufnahm, der Andere aber hat den entschlossenen standhaften Eifer des Propheten Elias Gott zu Gefallen nachgeahmt.“ Darauf erwiderten Einige: „Aber sage uns, wie ist es möglich, daß diese einander gleich sind? Der letztere hat doch das evangelische Gebot erfüllt, daß er Alles verkauft und den Armen gegeben, daß er Tag und Nacht im Gebet ausgeharrt, sein Kreuz getragen und dem Heiland nachgefolgt ist?“ Dagegen nahmen sich Andere des ersteren an und sprachen: „Aber wir bitten dich, dieser hat so viele Barmherzigkeit gegen die Armen gezeigt, daß er ausging und an die Landstraßen sich setzte, um die Notleidenden zu suchen und ihnen Hilfe zu erweisen; er hat nicht bloß für seine eigene Seele gesorgt, sondern auch für andere, indem er sich um Arme und Kranke angenommen hat.“ –
Der hl. Pambo erwiderte: „Ich sage euch noch einmal, beide sind gleich vor dem Herrn; wenn dieser nicht eine so strenge Frömmigkeit geübt hätte, so wäre er nicht würdig gewesen, daß ich ihn der Guttätigkeit des Andern zur Seite stellte; denn der die Fremden beherbergt und verpflegt und den Armen gedient hat, erwies sich als Nachfolger des Herrn, welcher gesagt hat: „Ich bin nicht gekommen um bedient zu werden, sondern selbst zu dienen. Aber wartet ein wenig, ob ich hierüber eine Offenbarung von Gott bekomme; wenn ihr dann wieder kommt, werdet ihr es erfahren.“ –
Nach einigen Tagen kamen sie nun wieder und fragten den Heiligen. Der Altvater aber gab ihnen zur Antwort: „Vor Gott bezeuge ich euch, ich habe beide bei einander im Paradies stehen sehen.“
Das Richten und Urteilen ist eine so allgemeine Seelenkrankheit, daß die Leute nicht nur im Schlimmen alltäglich Andere verurteilen, sondern sie steigen selbst bis in den Himmel hinauf und wollen dort die Plätze verteilen, d. h. urteilen, wer ein größerer Heiliger sei als der Andere. Dies ist aber Frechheit, wenn ein armer Sünder, der vielleicht nicht einmal den letzten Platz im Himmel erlangen wird, dort den Heiligen ihren Rang bestimmen will. Was ist schöner, die Rose oder die Lilie, oder eine schlanke Birke oder ein prächtiger Eichbaum? Jedes ist von Gott erschaffen und ist schön in seiner Art und läßt sich nicht mit dem Andern vergleichen. Desgleichen sollst du auch nicht absprechen über Lebensarten, welche die bessere ist, z. B. ob der Stand einer barmherzigen Schwester vollkommener sei, oder der Stand der Lehrfrau. Denn Gott will verschiedene Stände, und es kommt nur darauf an, daß jedes den Stand ergreift, wozu es berufen ist, und daß jedes ins einem Beruf möglichst vollkommen seine Pflicht tut. –
aus: Alban Stolz, Legende oder der christliche Sternhimmel, Bd. 3 Juli bis September 1872, S. 4 – S. 6