Gnadenlehre: Die Natur der aktuellen Gnade
Die aktuelle Gnade
§ 5. Die Erleuchtungs- und Stärkungsgnade
1. Begriff der aktuellen Gnade
Die aktuelle Gnade ist eine vorübergehende übernatürliche Einwirkung Gottes auf die Seelenkräfte des Menschen zu dem Zweck, ihn zu einem Heilsakt zu bewegen. Als vorübergehende Einwirkung unterscheidet sich die aktuelle Gnade von der habituellen Gnade und den eingegossenen Tugenden, die der Seele als bleibende Qualitäten inhärieren. Durch die Übernatürlichkeit und die Hinordnung auf Heilsakte, d. h. auf Tätigkeiten, die zum übernatürlichen Endziel in innerer Beziehung stehen, unterscheidet sich die aktuelle Gnade von der Mitwirkung Gottes bei den natürlichen Tätigkeiten der Geschöpfe (concursus Dei naturalis). Der Ausdruck „gratia actualis“ kommt in der Spätscholastik auf (Capreolus) und wird erst nach dem Konzil von Trient, das ihn noch nicht gebraucht, allgemein üblich.
2. Nähere Bestimmung der aktuellen Gnade
a) Lehre der Kirche
Die aktuelle Gnade erleuchtet den Verstand und stärkt den Willen innerlich und unmittelbar. Sent. Certa.
Das 2. Konzil von Orange (529) erklärte folgenden Satz als häretisch: Der Mensch könne durch die Kraft der Natur, ohne Erleuchtung und Anregung des Hl. Geistes, etwas Gutes, das sich auf das ewige Heil bezieht, denken, wie es frommt, oder wählen bzw. der Predigt des Evangeliums zustimmen (D 180). Vgl. D 1791, 104, 797. Daraus ergibt sich als kirchliche Lehre, daß der Mensch zur Setzung von Heilsakten eine über sein natürliches Vermögen hinausgehende, also übernatürliche Kraft braucht. Der übernatürliche Beistand Gottes zur Heilstätigkeit erstreckt sich auf die beiden Seelenpolen, die Erkenntnis-Kraft und die Willens-Kraft; er besteht in der unmittelbaren, inneren Erleuchtung des Verstandes und in der unmittelbaren, inneren Stärkung des Willens.
Von der unmittelbaren, inneren Erleuchtung des Verstandes und Stärkung des Willens ist zu unterscheiden die mittelbare Erleuchtung des Verstandes, die durch äußere Mittel (gratiae externae), z.B. Offenbarungslehre, Predigt, Lektüre, natürlicher Weise erfolgt, und die mittelbare Stärkung des Willens, die aus der Erleuchtung des Verstandes naturgemäß folgt. Ein Heilsakt ist nur gegeben, wenn die Seelenpotenzen unmittelbar, innerlich (physisch) von der Gnade ergriffen werden.
b) Beweis aus Schrift und Tradition
Die Tatsächlichkeit und Notwendigkeit einer unmittelbaren, inneren göttlichen Erleuchtung des Verstandes zur Verrichtung von Heilsakten bezeugen folgende Stellen: 2. Kor. 3,5: „Nicht als ob wir von uns aus fähig wären, etwas zu denken wie aus uns selbst, sondern unsere Fähigkeit ist von Gott.“ Paulus lehrt damit, daß wir von Natur aus unfähig sind, etwas zu denken, was zu unserem ewigen Heil in innerer Beziehung steht. Die Fähigkeit dazu erhalten wir von Gott, der unseren Verstand erleuchtet und dadurch zu übernatürlichen Denkakten befähigt. 1. Kor. 3,6f: „Ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen, Gott aber hat das Wachstum gegeben. Darum ist weder der etwas, der pflanzt, noch derjenige, der begießt, sondern nur derjenige, der das Wachstum gibt, Gott.“ Unter einem Bild drückt hier der Apostel den Gedanken aus, daß die apostolische Predigt unfruchtbar bleibt, wenn nicht zur äußeren Erleuchtung durch den Prediger die innere Erleuchtung durch Gott hinzukommt. Vgl. Eph. 1,17f; Apg 16,14; 1. Joh. 2,27.
Die innere Stärkung des Willens bezeugt Phil. 2,13: „Gott ist es nämlich, der in euch das Wollen und das Vollbringen wirkt.“ Joh. 6,44: „Niemand kann zu mir kommen (d. h. an mich glauben), wenn ihn der Vater, der mich gesandt hat, nicht zieht.“
Unter den Vätern hebt besonders Augustinus im Kampf gegen die Pelagianer, die die innere Gnade leugneten, die Notwendigkeit der inneren Verstandes-Gnade und der inneren Willens-Gnade hervor. Vgl. I ep. I. Ioan. tr. 3, 13; De gratia Christi 26,27.
c) Innerer Grund
Die unmittelbare, innere Erleuchtung des Verstandes und Stärkung des Willens ist gefordert durch den inneren Zusammenhang zwischen dem übernatürlichen Endziel und den Heilsakten. Die Mittel müssen derselben Seinsordnung angehören wie das Ziel. Das Ziel ist entitativ übernatürlich, folglich müssen auch die Mittel, die aus der Erkenntnis- und Willens-Kraft hervorgehenden Heilsakte, entitativ übernatürlich sein.
§ 6. Die zuvorkommende und nachfolgende Gnade
1. Die zuvorkommende Gnade
Es gibt eine übernatürliche Einwirkung Gottes auf die Seelenkräfte, die der freien Willensentscheidung vorangeht. De fide.
In diesem Fall wirkt Gott allein „in uns ohne uns“ (in nobis sine nobis, sc. libere ccoperantibus) und bringt spontane, unfreie Erkenntnis- und Willensakte (actus indeliberati) hervor. Diese Gnade wird gratia praeveniens, antecedens, excitans, vocans, operans genannt.
Die Lehre der Kirche von der Existenz der zuvorkommenden Gnade und ihrer Notwendigkeit für die Erlangung der Rechtfertigung wurde auf dem Konzil von Trient definiert. D797: „Der Anfang der Rechtfertigung muss bei den Erwachsenen von der durch Christus Jesus erworbenen zuvorkommenden Gnade Gottes (a Dei per Christum Jesum praeveniente gratia) ausgehen.“ Vgl. D 813.
Die Hl. Schrift deutet das Wirken der zuvorkommenden Gnade an in den Metaphern des Stehens und Klopfens an der Tür (Apk. 3,20), des Ziehens durch den Vater (Joh. 6,44), des Rufens Gottes (Jer. 17,23; Ps. 94,8).
2. Die nachfolgende Gnade
Es gibt eine übernatürliche Einwirkung Gottes auf die Seelenkräfte, die mit der freien Willenstätigkeit des Menschen zeitlich zusammen fällt. De fide.
In diesem Fall sind Gott und der Mensch zugleich tätig. Gott wirkt „in uns mit uns“ (in nobis nobiscum; vgl. D 182), so daß der übernatürliche Heilsakt ein gemeinsames Werk der Gnade Gottes und der freien Willenstätigkeit des Menschen ist. Die Gnade, die die freie Tätigkeit des Willens unterstützt und begleitet, wird gratia subsequens (mit Rücksicht auf eine vorausgehende Gnadenwirkung), adiuvans, concomitans, cooperans genannt.
Die Lehre der Kirche von der Wirklichkeit und Notwendigkeit der nachfolgenden Gnade ist im Rechtfertigungs-Dekret des Konzils von Trient ausgesprochen. D 797: Der Sünder wendet sich seiner Rechtfertigung zu, „indem er der Gnade frei zustimmt und mit ihr mitwirkt“ (gratiae libere assentiendo et cooperando). D 810: „Die Liebe Gottes gegen alle Menschen ist so groß, daß er will, daß ihr Verdienst ist (auf Grund ihrer freien Willenstätigkeit), was sein Geschenk ist (auf Grund seiner Gnade).“ Vgl. D 141.
Der hl. Paulus hebt die Unterstützung der freien Heilstätigkeit des Menschen durch die Gnade Gottes hervor. 1. Kor. 15,10: „Durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin, und seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe mich mehr als sie alle bemüht, doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes mit mir (gratia Dei mecum).“
Augustin beschreibt das Wirken der zuvorkommenden und der nachfolgenden Gnade in folgender Weise: „Gott wirkt im Menschen viel Gutes, was der Mensch nicht wirkt; nichts Gutes aber wirkt der Mensch, von dem Gott nicht bewirkt, daß der Mensch es wirkt“ (Contra duas ep. Pel. II 9,21 = D 193). „Der Herr bereitet den Willen und vollendet durch sein Mitwirken, was er durch sein Wirken beginnt. Denn derselbe wirkt anfangend, daß wir wollen, der mit den Wollenden vollendend mitwirkt… Daß wir also wollen, wirkt er ohne uns; wenn wir aber wollen und so wollen, daß wir es tun, wirkt er mit uns. Ohne ihn jedoch, der wirkt, daß wir wollen, und mitwirkt, wenn wir wollen, vermögen wir nichts bezüglich der guten Werke der Frömmigkeit“ (De gratia et lib. Arb. 17,33).Vgl. Gregor d. Gr., Moral. XVI 25,30 und das Gebet Actiones nostras.
§ 7. Kontroverse über das Wesen der aktuellen Gnade
Die Lehre von Quesnel
Abzulehnen ist die Lehre des Paschasius Quesnel, wonach die aktuelle Gnade mit dem allmächtigen Willen Gottes identisch ist. Vgl. die prop. Damnata 19: Dei gratia nihil aliud est quam eius omnipotens voluntas (D 1369; vgl. 1360f). Der allmächtige Wille Gottes ist identisch mit der göttlichen Wesenheit. Die aktuelle Gnade ist aber eine von Gott verschiedene endliche Wirkung seines Heilswillen (gratia creata). Quesnel wollte mit seiner Bestimmung die angeblich unwiderstehliche Wirksamkeit der Gnade begründen.
Die Molinisten
Nach den Molinisten besteht die aktuelle Gnade formell in einem vitalen (unüberlegten) Akt der Seele, d. h. in einer Verstandes- oder Willenstätigkeit, die Gott unmittelbar durch sich selbst in der Seele hervorbringt. Zur Begründung berufen sie sich auf die in der Hl. Schrift, in der Überlieferung und in kirchlichen Lehräußerungen verwendeten Bezeichnungen der aktuellen Gnade als cogitatio pia, cognitio, scientia, bzw. bona voluntas, sanctum desiderium, cupiditas boni, voluptas, delectatio etc., later Ausdrücke, welche vitale Seelenakte bezeichnen.
Die Thomisten
Die Thomisten bestimmen die aktuelle Gnade als eine den übernatürlichen Erkenntnis- und Willensakten vorangehende übernatürliche Gabe und Kraft, welche die die Verstandes- und Willenspotenz vorübergehend übernatürlich erhebt und dadurch zu übernatürlichen Erkenntnis und Willensakten befähigt. Die von Gott mitgeteilte übernatürliche Kraft verbindet sich mit der Verstandes- und Willenspotenz zu einem einheitlichen Prinzip, aus dem der übernatürliche Akt hervorgeht. Eine positive Begründung suchen die Thomisten in Aussprüchen der Hl. Schrift, der Väter und der Synoden, in denen die zuvorkommende Gnade als ein Rufen, Erleuchten, Klopfen, Aufwecken, Ziehen, Berühren Gottes dargestellt wird. Alle diese Ausdrücke bezeichnen eine Tätigkeit Gottes, die den vitalen Seelenakten vorangeht und sie bewirkt.
Die übernatürliche Kraft, welche die Seelenpotenzen vorübergehend zu übernatürlicher Leistungsfähigkeit erhebt, bezeichnen die Thomisten als vorübergehende oder „fließende“ Beschaffenheit (qualitas fluens), zum Unterschied von der heiligmachenden Gnade, die eine bleibende Beschaffenheit ist. Die Lehre des hl. Thomas (s. th. 1 II 110,2) spricht nicht dagegen, obwohl er von der aktuellen Gnade ausdrücklich sagt, daß sie „keine Qualität, sondern eine Bewegung der Seele ist“ (non est qualitas, sed motus quidam animae); denn unter „Qualtät“ versteht er eine bleibende Beschaffenheit, und unter „Bewegung der Seele“ versteht er nicht einen vitalen Seelenakt, sondern ein Erleiden, das in der Aufnahme der von Gott ausgehenden Bewegung besteht (anima hominis movetur a Deo ad aliquid cognoscendum vel volendum vel agendum).
Gegen die molinistische Auffassung spricht vor allem die Erwägung, daß die übernatürlichen vitalen Akte der Seele von Gott und den Seelenkräften zusammen hervorgebracht werden, während die Gnade von Gott allein verursacht wird.
Die Notwendigkeit der aktuellen Gnade
§ 8. Die Notwendigkeit der Gnade zu den Akten der übernatürlichen Ordnung
1. Notwendigkeit der Gnade zu jedem Heilsakt
Zu jedem Heilsakt ist die innere übernatürliche Gnade Gottes (gratia elevans) absolut notwendig. De fide.
Das 2. Konzil von Orange (529) lehrt in can. 9: quoties bona agimus, Deus in nobis atque nobiscum, ut operemur, operatur (D 182), in can. 20: nulla facit homo bona, quae non Deus praestat, ut faciat homo (D 193; vgl. 180). Das Konzil von Trient bestätigt diese Lehre im rechtfertigungs-Dekret, can. 1-2 (D 811-813). Im Gegensatz zur kirchlichen Lehre steht der Pelagianismus und der moderne Rationalismus.
Christus veranschaulicht in Joh. 15,1ff in dem Bild vom Weinstock und den Reben den von ihm auf die Seelen ausgehenden Gnadeneinfluß, der Früchte des ewigen Lebens, d. h. Heilsakte hervorbringt. V. 5: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt viele Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun“ (sine me nihil potestis facere). Paulus drückt denselben Gedanken unter dem Bild des Zusammenhangs zwischen Haupt und Gliedern aus (Eph. 4, 15f; Kol. 2,19). Zu jedem heilsamen Gedanken (2. Kor. 3,5), zu jedem guten Willensentschluß (Röm. 9,16) und zu jedem guten Werk (Phil. 2,13; 1. Kor. 12,3) fordert der Apostel den Beistand der göttlichen Gnade. 1. Kor. 12,3: „Niemand kann sprechen: Herr Jesus, außer im Hl. Geist.“
Die Väter empfanden die Lehre des Pelagius als eine dem bisherigen Glaubens-Bewußtsein widersprechende Neuerung. Der hl. Augustinus gibt zu Joh. 15,5 folgende Erklärung: „Damit niemand meine, die Rebe könne wenigstens eine kleine Frucht aus sich selbst bringen, sagt er… nicht: Ihr könnt ohne mich wenig tun, sondern: Ihr könnt nichts tun. Sei es also wenig oder viel, es kann nicht ohne den geschehen, ohne welchen nichts geschehen kann“ (In Ioan. tr. 81,3).
Spekulativ ergibt sich die absolute Notwendigkeit der Gnade zu jedem Heilsakt aus der entitativen Übernatürlichkeit des Endziels und der dadurch geforderten entitativen Übernatürlichkeit der Heilsakte als der Mittel zum Ziel. Vgl. S. th. 1 II 109,5.
2. Notwendigkeit der Gnade zum Anfang des Glaubens und des Heiles
Zum Anfang des Glaubens und des Heiles ist die innere übernatürliche Gnade absolut notwendig. De fide.
Das 2. Konzil von Orange (529) erklärt in can. 5 im Gegensatz zur Lehre der Semipelagianer:
In gleicher Weise lehrt das Konzil von Trient, daß der Ausgangspunkt der Rechtfertigung die zuvorkommende Gnade Gottes ist. Vgl. D 797f, 813.
Die Hl. Schrift lehrt, daß der Glaube, der die subjektive Bedingung der Rechtfertigung ist, ein Geschenk Gottes ist. Eph. 2,8f: „Durch Gnade seid ihr gerettet mittels des Glaubens, und das nicht aus euch. Es ist ein Geschenk Gottes, nicht aus Werken, damit keiner sich rühme.“ Joh. 6,44: „Niemand kann zu mit kommen (= an mich glauben), wenn ihn nicht der Vater, der mich gesandt hat, zieht.“ Joh. 6,66: „Niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist.“ Nach Hebr. 12,2 ist Christus „Urheber und Vollender des Glaubens“. Vgl. Phil. 1,6; 1,29; 1. Kor. 4,7.
Die von den Semipelagianern angerufenen Schriftstellen (Zach. 1,3: „Wendet euch zu mir, und ich will mich zu euch wenden“; Spr. 8,17: „Ich liebe diejenigen, die mich lieben“; Mt. 7,7: „Bittet, und es wird euch gegeben werden“; Apg. 16,31: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst gerettet werden“; Eph. 5,14: „Wache auf… und Christus wird dich erleuchten“) sind im Einklang mit der sonstigen Schriftlehre so zu erklären, daß die geforderte Hinwendung des Menschen zu Gott bereits unter dem Einfluß der aktuellen Gnade steht. Die freie Willenstätigkeit schließt die Gnade nicht aus. Die Hinwendung Gottes zum Menschen ist nicht von der Verleihung der ersten Gnade zu verstehen, sondern von der Mitteilung weiterer Gnaden.
Der hl. Augustin führt in der Schrift De dono perseverantiae (19,48-50) bereits einen Traditionsbeweis mit Zeugnissen Cyprians, Ambrosius, und Gregors von Nazianz. Er beruft sich auf das Gebet der Kirche um die Bekehrung der Ungläubigen: „Wenn der Glaube lediglich Sache des freien Willens ist und nicht von Gott gegeben wird, warum beten wir dann für diejenigen, die nicht glauben wollen, daß sie glauben“ (De gratia et lib. Arb. 14,29)? – In früheren Schriften aus der Zeit vor seiner Erhebung zur Bischofswürde (395) hatte Augustin selbst die irrtümliche Meinung vertreten, der Glaube sei nicht ein Geschenk Gottes, sondern das ausschließliche Werk des Menschen. Vor allem die Schriftstelle 1. Kor. 4,7: „Was hast du, das du nicht empfangen hast?“ führte ihn zur Erkenntnis, daß auch der Glaube bereits ein Geschenk Gottes ist. Vgl. De praedest. Sanct. 3,7.
Manche semipelagianisch klingende Äußerungen voraugustinischer Väter erklären sich aus dem Kampf gegen den die Willensfreiheit leugnenden heidnischen Fatalismus und den Manichäismus. Der hl. Johannes Chrysostomus, auf den sich die Semipelagianer hauptsächlich beriefen, bemerkt zu Hebr. 12,2: „Er selbst hat uns den Glauben eingepflanzt, er selbst hat den Anfang gegeben“ (In ep. ad. Hebr. hom. 28,2).
Die Gratuität der Gnade verlangt, daß auch der Anfang des Glaubens und des Heiles das Werk Gottes ist. Beim Zustandekommen des Glaubensaktes ist das erste Werturteil über die Glaubwürdigkeit der Offenbarung (iudicium credibilitatis) und die Glaubens-Bereitschaft (pius credulitatis affectus) dem Einfluß der unmittelbaren Erleuchtungs- und Stärkungs-Gnade zuzuschreiben.
3. Notwendigkeit der aktuellen Gnade zu den Heilsakten des Gerechtfertigten
Auch der Gerechtfertigte bedarf zur Verrichtung von Heilsakten der aktuellen Gnade. Sent. communis.
Da die Seelenkräfte des gerechtfertigten durch die habituelle Gnadenausstattung dauernd übernatürlich erhöht sind, wirkt die aktuelle Gnade im Gerechtfertigten nicht als gratia elevans, sondern als gratia excitans und adiuvans, indem sie die übernatürlich erhobene Seelenpotenz in den Aktüberführt und bei der Ausführung des Aktes unterstützt, und als gratia sanans, indem sie die zurück gebliebenen Sündenwunden heilt.
Eine sichere Entscheidung des kirchlichen Lehramtes über die Notwendigkeit dieser Gnade liegt nicht vor. Die Bestimmungen des 2. Konzils von Orange und des Konzils von Trient sprechen jedoch von einem Gnadeneinfluss Gottes bzw. Christi auf die guten Werke der Gerechten, ohne freilich zwischen der aktuellen und der habituellen Gnade ausdrücklich zu unterscheiden. D 80: Christus Jesus selbst … läßt in die Gerechtfertigten unaufhörlich seine Kraft einströmen. Diese geht stets ihren guten Werken voraus, begleitet sie und folgt ihnen nach.“ Vgl. D 182. Nach der Gebetspraxis der Kirche beten auch die Gerechten um den göttlichen Beistand zu jedem guten Werk (Actiones nostras etc).
Der Ausspruch Christi: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh. 15,5) legt nahe, daß auch der Gerechte zur Setzung von Heilsakten einen aktuellen Gnaden-Beistand nötig hat. Paulus lehrt, daß Gott die Heilswerke der Gerechten anregt und vollendet. Phil. 2,13: „Gott ist es, der in euch das Wollen und Vollbringen wirkt.“ 2. Thess. 2,17: „Er tröste eure Herzen und stärke sie in jedem guten Werk und Wort.“ Hebr. 13,21: „Der Gott des Friedens… möge euch festigen in jeglichem Guten, auf daß ihr seinen Willen erfüllet.“
Der hl. Augustin dehnt die Notwendigkeit der aktuellen Gnade auch auf die Gerechten aus: „Gleichwie das Auge des Körpers, auch wenn es vollkommen gesund ist, nicht sehen kann, wenn es nicht vom Glanz des Lichtes unterstützt wird, so kann auch der Mensch, auch wenn er vollkommen gerechtfertigt ist, nicht recht leben, wenn er nicht durch das Licht der ewigen Gerechtigkeit von Gott unterstützt wird“ (De nat. et grat. 26,29).
Spekulativ ist die Notwendigkeit der aktuellen Gnade für die Werke der Gerechten daraus zu begründen, daß jedes Geschöpf wegen seiner gänzlichen Abhängigkeit vom Schöpfer zur Betätigung der vorhandenen Kräfte eines aktuellen Einflusses von Seiten Gottes bedarf (gratia excitans und adiuvans). Da die Folgen der Erbsünde auch im Gerechtfertigten zurückbleiben, bedarf er auch aus diesem Grunde einer besonderen Gnadenhilfe, die seiner sittlichen Schwäche entgegen wirkt (gratia sanans). Vgl. S. th. 1 II 109,9.
4. Notwendigkeit der Gnade der Beharrlichkeit
Der Gerechtfertigte kann ohne besondere Hilfe Gottes nicht in der empfangenen Gerechtigkeit bis an das Ende verharren. De fide.
Das 2. Konzil von Orange lehrt im Gegensatz zur Auffassung der Semipelagianer, daß auch die Wiedergeborenen immer fort um den Beistand Gottes beten müssen, damit sie zu einem guten Ende gelangen und im guten Werk ausharren können (D 183). Das Konzil von Trient nennt die Beharrlichkeit bis an das Ende „ein großes Geschenk“ (magnum illud usque in finem perseverantiae donum; D 826) und lehrt, daß der Gerechtfertigte ohne besondere Hilfe Gottes nicht in der empfangenen Gerechtigkeit verharren kann: Si quis dixerit, iustificatum vel sine speciali auxilio Dei in accepta iustitia perseverare posse vel cum eo non posse, A.S. D 832. Die zur endlichen Beharrlichkeit notwendige „besondere Hilfe Gottes“ besteht in einer Summe aktueller Gnaden.
Man unterscheidet:
a) perseverantia temporalis oder imperfecta, d.i. die zeitweilige Beharrlichkeit, und perseverantia finalis oder perfecta, d.i. die Beharrlichkeit bis zum Lebensende.
b) perseverantia (fialis) passiva, d.i. das Zusammenfallen des Todes mit dem Gnadenstand, und perseverantia (finalis) activa, d.i. die beständige Mitwirkung des gerechtfertigten mit der Gnade. Die Beharrlichkeit des Unmündigen ist rein passiv, die des Erwachsenen in der Regel passiv und aktiv zugleich. Obiger Satz gilt von letzterer.
c) potentia perseverandi (posse perseverare), d.i. das Ausharren können, und perseverantia actualis (actu perseverare), d.i. das wirkliche Ausharren. Während das Ausharren können auf Grund des allgemeinen Heilswillens Gottes allen Gerechten zuteil wird, wird das wirkliche Ausharren nur den Prädestinierten zuteil.
Die Hl. Schrift schreibt die Vollendung des Heilswerkes Gott zu. Phil. 1,6: „Der in euch das gute Werk begonnen hat, wird es vollenden bis zum Tage Christi Jesu.“ Vgl. Phil. 2,13; 1. Petr. 5,10. Sie betont die Notwendigkeit unablässigen Gebetes, um die Gefahren des Heiles bestehen zu können (Lk. 18,1: „Man muss allezeit beten und darf nicht nachlassen“; 1. Thess. 5,17: „Betet unter Unterlaß“), und zugleich die Notwendigkeit treuer Mitwirkung mit der göttlichen Gnade (Mt. 26,41: „Wachet und bete, damit ihr nicht in Versuchung fallet“; vgl. Lk. 21,36).
Der hl. Augustin hat am Schluss seines Lebens eine Monographie De dono perseverantiae gegen die Semipelagianer geschrieben, worin er sich besonders auf die Gebetspraxis der Kirche stützt: „Warum wird diese Beharrlichkeit von Gott erbeten, wenn sie nicht von Gott gegeben wird? Oder soll diese Bitte ein Spott sein, indem man von ihm etwas erbittet, von dem man weiß, daß nicht er es gibt, sondern daß es vielmehr in der Macht des Menschen gelegen ist“ (2,3)?
Kann die endliche Beharrlichkeit als eine Gnade nicht (de condigno) verdient werden, so kann sie doch durch rechtes (im Stande der Gnade verrichtetes und beharrliches) Gebet mit unfehlbarem Erfolg erfleht werden: Hoc Dei donum suppliciter emereri potest (De dono persev. 6,10). Die Gewißheit der Erhörung ist in der Verheißung Jesu (Joh. 16,23) begründet. Da aber für den Menschen, solange er nicht unwandelbar im Guten befestigt ist, immer die Möglichkeit des Falles besteht, kann niemand ohne spezielle Offenbarung mit unfehlbarer Sicherheit wissen, ob er tatsächlich bis an das Ende ausharren wird. Vgl. D 826. Phil. 2,12; 1. Kor. 10,12.
Der innere Grund für die Notwendigkeit der Beharrlichkeits-Gnade liegt darin, daß der menschliche Wille infolge der beständigen Auflehnung des Fleisches gegen den Geist nicht aus sich die Kraft hat, unwandelbar im Guten fest zu stehen (aktive Beharrlichkeit). Es liegt auch nicht in der Macht des Menschen, den Augenblick des Todes mit dem Gnadenstand zusammenfallen zu lassen (passive Beharrlichkeit). Vgl. S. th. 1 II 109,10.
5. Notwendigkeit eines besonderen Gnaden-Privilegs zur dauernden Meidung aller läßlichen Sünden
Der Gerechtfertigte ist ohne besonderes Gnaden-Privileg Gottes nicht imstande, das ganze Leben hindurch alle Sünden, auch die läßlichen, zu meiden. De fide.
Das Konzil von Trient erklärte im Gegensatz zur Lehre der Pelagianer, wonach der Mensch aus eigener natürlichen Kraft das ganze Leben hindurch alle Sünden meiden kann, da dazu ein besonderes Gnaden-Privileg Gottes erforderlich ist: Si quis hominem semel iustificatum dicerit… posse in tota vita peccata omnia, etiam venialia, vitare, nisi ex speciali Dei privilegio, quemadmodum de beata Virgie tenet Ecclesia, A.A: D 833; vgl. D 107f; 804.
Zum rechten Verständnis des Dogmas ist folgendes zu beachten: Unter „peccata venialia“ sind hauptsächlich die peccata semideliberata zu verstehen. „Omnia“ ist kollektiv, nicht distributiv aufzufassen, d.h. die einzelne läßliche Sünde kann man mit Hilfe der gewöhnlichen Gnade meiden, aber nicht alle zusammen. „Tota vita“ bedeutet einen längeren Zeitraum. Das „non posse“ bezeichnet eine moralische Unmöglichkeit. Das in Frage stehende „speciale privilegium“ umfaßt eine Summe aktueller Gnaden, die eine Ausnahme von der gewöhnlichen Gnaden-Ordnung, und zwar eine sehr seltene (speciale), darstellen.
Nach der Hl. Schrift hält sich niemand von aller Sünde frei. Jak. 3,2: „In vielem fehlen wir alle.“ Der Herr lehrt auch die Gerechten beten: „Vergib uns unsere Schuld“ (Mt. 6,12). Das Konzil von Karthago (418) verwarf die pelagianische Auslegung, wonach die Heiligen nicht für sich selbst, sondern für andere, oder nicht der Wahrheit gemäß, sondern nur aus Demut (humiliter, non veraciter) um Vergebung bitten (D 107f; vgl. 804).
Der hl. Augustinus hält den Pelagianern entgegen: Wenn man alle Heiligen auf Erden versammeln und fragen könnte, ob sie ohne Sünden seien, würden sie einstimmig mit dem Apostel Johannes antworten (1. Joh. 1,8): „Wenn wir sagen, daß wir keine Sünden haben, so betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns“ (De nat. et grat. 36,42).
Der innere Grund liegt in der Schwäche des gefallenen Willens gegenüber der Gesamtheit der ungeordneten Regungen und in der weisen Anordnung der göttlichen Vorsehung, die kleinere Fehler zuläßt, um den Gerechten in der Demut und in dem Bewußtsein seiner gänzlichen Abhängigkeit von Gott zu erhalten. Vgl. S. th. 1 II 109,8.
§ 9 Die Leistungsfähigkeit der menschlichen Natur ohne die Gnade und ihre Grenzen
Die katholische Gnadenlehre steht in der Mitte zwischen zwei Extremen. Gegenüber dem Naturalismus der Pelagianer und der modernen Rationalisten verteidigt sie die absolute Notwendigkeit der gratia elevans und die moralische Notwendigkeit der gratia sanans. Gegenüber dem übertriebenen SupraNaturalismus der Reformatoren, Bajaner und Jansenisten verteidigt sie die Leistungsfähigkeit der sich selbst überlassenen menschlichen Natur auf religiös-sittlichem Gebiet. Im Gegensatz zu beiden Extremen unterscheidet die katholische Theologie scharf zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Ordnung, zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Religion und Sittlichkeit.
1. Leistungsfähigkeit der bloßen Natur
Der Mensch kann auch im gefallenen Zustand mit seiner natürlichen Erkenntniskraft religiöse und sittliche Wahrheiten erkennen. De fide.
Diese Möglichkeit ist darin begründet, daß die natürlichen Kräfte des Menschen durch den Sündenfall nicht verloren gingen (naturalia permanserunt integra), wenn sie auch durch den Verlust der präternaturalen Gaben geschwächt wurden. Vgl. D 788, 793, 815.
Papst Klemens XI. verwarf den jansenistischen Satz, daß wir ohne Glauben, ohne Christus, ohne caritas nur Finsternis, Verirrung und Sünde sind. D 1398; vgl. 1391. Das Vatikanum erhob die in Weish. 13,1ff und Röm. 1,20 klar bezeugte natürliche Erkennbarkeit Gottes zum Dogma. D1785, 1806; vgl. 2145 (Beweisbarkeit des Daseins Gottes). Die natürliche Erkennbarkeit des Sittengesetzes bezeugt Röm. 2,14f. Die zum Teil hoch entwickelte Kultur der Heidenvölker legt Zeugnis ab für die Leistungsfähigkeit der natürlichen menschlichen Vernunft. Siehe Gotteslehre § 1-23.
Zur Verrichtung einer sittlich guten Handlung ist die heiligmachende Gnade nicht erforderlich. De fide.
Der Sünder kann, obwohl er die Rechtfertigungs-Gnade nicht besitzt, dennoch sittlich gute und mit Hilfe der aktuellen Gnade auch übernatürlich gute (wenn auch nicht verdienstliche) Werke verrichten und sich dadurch auf die Rechtfertigung vorbereiten. Es sind darum nicht alle Werke der Todsünder Sünde. Das Konzil von Trient erklärte: Si quis dixerit, opera omnia, quae ante iustificationem fiunt, quacunque ratione facta sint, vere esse peccata vel odium Dei mereri, … A.S. D 817; vgl. 1035, 1040, 1399. (*)
Die Hl. Schrift mahnt die Sünder, sich durch Bußwerke auf die Rechtfertigung vorzubereiten. Ez. 18,30: „Bekehret euch und wendet euch ab von allen euren Sünden!“ Vgl. Zach. 1,3; Ps. 50,19; Mt. 3,2. Es ist undenkbar, daß Handlungen, zu denen Gott auffordert und die auf die Rechtfertigung vorbereiten sollen, sündhaft sind. Die kirchliche Buß- und Katechumenats-Praxis bliebe unverständlich, wenn alle ohne die Rechtfertigungs-Gnade verrichteten Werke Sünde wären. – Das Wort Mt. 7,18: „Ein schlechter Baum kann keine guten Früchte bringen“, spricht dem Sünder ebenso wenig die Möglichkeit eines sittlich guten Werkes ab, wie das parallel stehende Wort: „Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen“, dem Gerechten die Möglichkeit der Sünde abspricht.
Der hl. Augustin lehrt, auch das Leben der schlechtesten Menschen sei schwerlich ohne irgendwelche gute Werke (De spiritu et litt. 28,48). Der von den Jansenisten angerufene Ausspruch des hl. Augustin: Regnat carnalis cupiditas, ubi non est Dei caritas (Enchir. 117), beweist nicht, daß jede einzelne Handlung des Sünders sündhaft ist, sondern will zum Ausdruck bringen, daß es im sittlichen Leben zwei Richtungen gibt, von denen die eine von dem Streben nach dem Guten (Gottesliebe im weiteren Sinn), die andere von der ungeordneten Begierlichkeit (Welt- und Selbstliebe) beherrscht ist. Vgl. Mt. 6,24: „Niemand kann zwei Herren dienen.“ Lk. 11,13: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich.“ Zur Bedeutung des Begriffes caritas bei Augustin vgl. De Trin. VIII 10,14: caritas = amor boni; De gratia Christi 21,22: caritas = bona voluntas; Contra duas ep. Pel. II 9,21: caritas = boni cupiditas.
Zur Verrichtung einer sittlichen guten Handlung ist die Glaubens-Gnade nicht erforderlich. Sent. certa.
Auch der Ungläubige kann sittlich Gutes tun. Es sind darum nicht alle Werke der Ungläubigen Sünde. Pius V. verurteilte folgenden Satz des Bajus: Omnia opera infidelium sunt peccata et philosophorum virtutes sund vitia. D 1025; vgl. 1298.
Die Hl. Schrift erkennt auch den Heiden die Fähigkeit zu, sittlich gute Werke zu verrichten. Vgl. Dn. 4,24; Mt. 5,47. Nach Röm. 2,14 sind die Heiden von Natur aus fähig, die Vorschriften des Sittengesetzes zu erfüllen: „Wenn die Heiden, die das (mosaische) Gesetz nicht haben, von Natur aus tun, was das Gesetz vorschreibt, so sind diese, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz.“ Paulus denkt an wirkliche Heiden, nicht an Heidenchristen, wie Bajus fälschlich auslegte (D 1022). Die Stelle Röm. 14,23: Omne autem, quod non est ex fide, peccatum est, bezieht sich nicht auf den christlichen Glauben als solchen, sondern auf das Gewissen.
Die Väter geben die Fähigkeit der Ungläubigen zu sittlich guten Leistungen rückhaltlos zu. Der hl. Augustin lobt die Enthaltsamkeit, Uneigennützigkeit und Unbestechlichkeit seines noch nicht christlichen Freundes Alypius (Conf. VI 7.10) und die bürgerlichen Tugenden der alten Römer (Ep. 138,3,17). Wenn sich bei ihm manche fast wörtlich mit Bajus übereinstimmende Sätze finden, in denen er die guten Werke und die Tugenden der Heiden als Sünden und Laster hinzustellen scheint (vgl. De spiritu et litt. 3,5), so ist das aus seiner polemischen Stellung gegenüber dem pelagianischen Naturalismus zu erklären, in der er nur das als wahrhaft gut und als wahre Tugend gelten läßt, was zum übernatürlichen Ziel des Menschen in Beziehung steht. Vgl. Augustinus, Contra Julianum IV 3,17.21.25.
Zur Verrichtung einer sittlich guten Handlung ist die aktuelle Gnade nicht erforderlich. Sent. certa.
Der gefallene Mensch kann ohne göttliche Gnadenhilfe mit seinen natürlichen Kräften allein sittlich gute Werke verrichten. Es sind darum nicht alle Werke, die ohne aktuelle Gnade geschehen, Sünde. Pius V. verurteilte folgenden Satz des Bajus: Liberum arbitrium, sine gratiae Dei adiutorio, nonnisi ad peccandum valet. D 1027; vgl. 1037, 1389.
Aus der Hl. Schrift läßt sich die Notwendigkeit eines aktuellen Gnaden-Beistandes für alle sittlich guten Werke nicht beweisen, ebenso wenig aus der älteren Überlieferung. Die Gegner beriefen sich zu Unrecht auf den hl. Augustin. Wenn dieser wiederholt erklärt, daß ohne Gnade Gottes kein sündenfreies Werk möglich ist, so ist zu beachten, daß er in einem weiteren Sinn alles Sünde nennt, was keine Beziehung zum übernatürlichen Endziel hat. In diesem Sinn ist wohl auch can. 22 des 2. Konzils von Orange zu verstehen: Nemo habet de suo nisi mendacium et peccatum (D 195 = Augustinus, In Ioan. tr. 5,1).
2. Grenzen der natürlichen Leistungsfähigkeit
Im Zustand der gefallenen Natur ist es dem Menschen moralisch unmöglich, ohne übernatürliche Offenbarung alle natürlichen religiösen und sittlichen Wahrheiten leicht, mit fester Gewissheit und ohne Beimischung von Irrtum zu erkennen. De fide.
Das Vatikanum erklärte im Anschluß an den hl. Thomas (S. th. I 1,1): „Dieser göttlichen Offenbarung ist es zuzuschreiben, daß das, was in den göttlichen Dingen der menschlichen Vernunft an sich nicht unzugänglich ist, auch in dem gegenwärtigen Zustand des Menschengeschlechtes von allen leicht, mit fester Gewissheit und ohne Beimischung von Irrtum erkennt werden kann.“ D 1786.
Der Grund, warum ohne übernatürliche Offenbarung tatsächlich nur wenige Menschen zu einer vollkommenen Erkenntnis Gottes und des natürlichen Sittengesetzes gelangten, liegt in der durch den Sündenfall verursachten „Wunde der Unwissenheit“ (vulnus ignorantiae), d.i. in der Schwächung der Erkenntniskraft.
Im Zustand der gefallenen Natur ist es dem Menschen moralisch unmöglich, ohne heilende Gnade (gratia sanans) auf längere Zeit das ganze Sittengesetz zu erfüllen und alle schweren Versuchungen zu überwinden. Sent. certa.
Da nach der Lehre des Konzils von Trient der Gerechtfertigte „eine besondere Hilfe Gottes“, d.h. einen aktuellen Gnaden-Beistand nötig hat, um dauernd alle schweren Sünden zu meiden und so den Gnadenstand zu bewahren (D 806, 832), so ist um so mehr anzunehmen, daß der Nicht-Gerechtfertigte ohne aktuelle Gnadenhilfe nicht auf längere Zeit alle schweren Sünden meiden kann, wenn er auch auf Grund seiner natürlichen Freiheit die Fähigkeit hat, die einzelne Sünde zu meiden und das einzelne Gebot zu erfüllen.
Der Apostel Paulus schildert in Röm. 7,14-25 die in der bösen Begierlichkeit begründete Schwäche des abgefallenen Menschen gegenüber dem Ansturm der Versuchungen und hebt die Notwendigkeit göttlicher Hilfe zu ihrer Überwindung hervor. –
aus: Ludwig Ott, Grundriss der katholischen Dogmatik, 1954, S. 259 – S. 271
(*) Can. 7: Wenn Jemand sagt: daß alle Werke, welche vor der Rechtfertigung geschehen, auf welche Weise immer sie geschehen sein mögen, wirklich Sünden seien oder den Haß Gottes verdienen: oder daß Jemand desto schwerer sündige, je eifriger er sich bemüht, sich für die Gnade empfänglich zu machen: der sei ausgeschlossen.