Das Leben und Leiden und der Tod Jesu
Die Verurteilung Jesu durch Pontius Pilatus
Joh. 19,13. Als aber Pilatus diese Worte gehört hatte, führte er Jesum hinaus und setzte sich auf den Richterstuhl, an dem Ort, der Lithostroton, auf hebräisch aber Gabbatha genannt wird. – 14. Es war aber der Rüsttag des Osterfestes, ungefähr die sechste Stunde, und er sprach zu den Juden: „Sehet, euer König!“ – 15. Sie aber schrieen: „Hinweg! Hinweg! Kreuzige ihn!“ Pilatus sprach zu ihnen: Euern König soll ich kreuzigen?“ Die Hohenpriester antworteten: „Wir haben keinen König als den Kaiser.“ – 16. Da übergab er ihnen denselben, daß er gekreuzigt würde. Sie übernahmen also Jesum und führten ihn hinaus.
Luk. 23,24.Da sprach Pilatus das Urteil, das nach ihrem Verlangen geschehen sollte. – 25. Und er gab ihnen Barabbas los, der des Todschlages und des Aufruhres wegen in den Kerker gesetzt worden war, den sie auch verlangten; Jesum aber übergab er ihrem Willen.
Mark. 15,15. Da nun Pilatus dem Volk willfahren wollte, gab er ihnen den Barrabas los, Jesum aber übergab er, nachdem er ihn hatte geißeln lassen, zur Kreuzigung.
Matth. 27,26. Alsdann gab Pilatus den Juden den Barrabas los: Jesum aber, nachdem er ihn hatte geißeln lassen, übergab er ihnen, auf daß er gekreuzigt würde.
Die Umstände der Verurteilung
Die Umstände der Verurteilung sind ziemlich genau angegeben:
Was die Zeit betrifft, so war es am Morgen (Joh. 19,14) des Rüsttages vor dem Osterfest. Wenn der hl. Markus sagt, die Kreuzigung habe stattgefunden zur dritten Stunde (Mark. 15,25), so ist damit entweder der dritte Teil des Tages, nämlich unsere Zeit von 9 Uhr bis Mittag, gemeint, oder die Kreuzigung mit allem, was wesentlich mit ihr zusammen hing: Geißelung, Kreuztragung und Annagelung, oder es ist eine allgemeine, ungefähre Bezeichnung. – Der Ort der Verurteilung war eine Erhöhung aus Stein auf dem Marktplatz. Der Boden, auf dem der Richterstuhl stand, war stets mit Mosaik ausgelegt. Der Ort hieß hebräisch Gabbatha, griechisch Lithostroton. Die römischen Statthalter sprachen Recht unter freiem Himmel, auf dem Richterstuhl sitzend mit großer Feierlichkeit.
So ging denn auch Pilatus, mit dem Abzeichen seiner Würde angetan, von Soldaten begleitet, hin und bestieg den Richterstuhl, und der Heiland wurde ihm als Verbrecher vorgestellt. Da gab es noch eine außerordentliche Szene. Pilatus nämlich, sei es, daß er den Juden die Unsinnigkeit und Ungerechtigkeit ihres Tuns derb und ironisch vorwerfen und sie ärgern oder sie öffentlich bezeugen lassen wollte, daß er seine Pflicht gegen den Kaiser getan habe, rief auf dem Richterstuhl laut zu den Juden, auf den Heiland hinweisend: „Seht da, euer König“ (Joh. 19,14). „Fort mit ihm. Fort mit ihm“, war sofort die Antwort der Juden, „kreuzige ihn“. – „Euern König kreuzigen?“ antwortete Pilatus. – „Wir haben keinen andern König als den Kaiser“, erwiderten die Juden. Es war ihr letztes Wort in diesem Handel (ebd. 19,15).
Pilatus fällt das Todesurteil
Auf diesen Zwischenfall hin schickte Pilatus sich an, das Urteil zu fällen. Er tat es und verdammte Jesus zum Kreuzestod. Ibis ad crucem! Lictor, expedi crucem! Waren die gewöhnlichen Worte, mit denen das Urteil zum Kreuzestod schloß, und wahrscheinlich wurden sie auch dem Heiland zugerufen. Das war also das Endurteil des Pilatus. Welch ein Urteil! Vor allem das ungerechteste der Welt; vier- bis fünfmal hatte er die Unschuld Jesu feierlich beteuert, und der Schluß ist Erkennen auf Tod. Es ist zweitens ein höchst grausames Urteil, weil die Strafe, auf die es erkannte, qualvoll und lang dauernd war. Die jüdischen Todesstrafen erfolgten sonst schnell und ohne besondere Grausamkeit. Der Heiland sollte viel und lang leiden. – Endlich ist es ein höchst schimpfliches und entehrendes Urteil. Sklaven und gemeine Verbrecher erlitten bei den Römern den Kreuzestod. Bei den Juden wurde bloß der Leichnam exemplarischer Verbrecher zum abschreckenden Beispiel nach der Hinrichtung noch an den Galgen gehängt. Deshalb hieß es im Gesetz: „Verflucht sei, wer am Galgen hängt“ (Deut. 21,23; Num. 25,4). Aber den Heiland sollte die ganze Pein und der Schrecken des Kreuzestodes treffen! –
Aber auch darin lag ein Zug der göttlichen Vorsehung. Vor allem war diese Todesart von Gott angeordnet und musste beim Heiland in Anwendung kommen. Er selbst hatte dieses Nikodemus (Joh. 3,14; Num. 21,9), später den Juden (Joh. 12,32) und wiederholt den Aposteln vorhergesagt. Durch die Kreuzesstrafe befreite er Israel von der Verpflichtung zum Gesetz und von dessen Fluch (Gal. 3,13). Das Kreuz war auch vorgebildet in dem Holz der Arche, in dem Stab Moses` und in der ehernen Schlange. So grausam und entehrend die Kreuzesstrafe ist, so war sie doch für den Herrn entsprechender als jede jüdische Todesart, die Enthauptung, die Erdrosselung, die Steinigung und Verbrennung. Am Kreuz konnte der Heiland noch seinen setzten Willen vollziehen, Trost spenden, seine Heiligkeit in aller Größe und Herrlichkeit offenbaren und majestätisch, sichtlich aus eigener Machtvollkommenheit sterben. Das Kreuz wurde da sein Opferaltar, der Lehrstuhl seiner letzten und erhabensten Predigt und die Standarte seines Reiches. Ebenso eignete sich auch für für den Zweck des Todes Jesu keine Todesart besser. Es sollte durch den Tod des Heilandes der sündigen Welt eine vollständige Darstellung der Gerechtigkeit Gottes gegenüber der Sünde gegeben werden (Röm. 3,25). Die Schrecklichkeit der Todesart entspricht nun ganz der Abscheulichkeit der Sünde, und deren Anschaulichkeit wirkt auf das Herz, auf die Phantasie und auf das Gewissen des Zuschauers, um dasselbe mit Furcht und Reue zu erfüllen.
Folgen und Wirkungen
Es waren verschiedene Gruppen von Menschen, die dieses Urteil anhörten, und mit sehr verschiedenen Gesinnungen.
Da waren vor allem die Feinde des Heilandes, die Hohenpriester, die Pharisäer, seine grimmigen Hasser. Wie jubelten sie! Alles hatten sie erreicht, und ihr Sieg war vollkommen. Ihr ärgster Feind und Widersacher kam ans Kreuz! Welch eine glänzende Rache für alle Verdemütigungen und Niederlagen, die er ihnen bereitet! Mit ihnen jubelte das betörte Volk. Die Feinde Jesu hatten es zur offenen und feierlichen Lossagung von seinem Messias und statt dessen zur Ergebenheits-Erklärung gegen den Kaiser verleitet. Wie teuer sollte sie ihm zu stehen kommen! Die Theokratie hatte jetzt ihr Ende. Sie sagen sich los vom Messias, vom Engel des Bundes, los von ihrem Gottkönig und überliefern sich dem Kaiser. Der Kaiser wird kommen und sie erdrücken, und es wird kein Messias da sein, der sie rettet. Diese törichten Bäume wollten nicht den Ölbaum des Friedens, den Feigenbaum der Süßigkeit und die Rebe der Freude zum König, und wählten sich statt ihrer den Dornbusch zum Herrscher, und siehe! Feuer fuhr aus dem Dornbusch und verzehrte sie, ihr Haus und ihre Kinder (Richt. 9,15). Die stillen Wasser Siloes gefielen ihnen nicht, und sie setzten ihr Gefallen an den rauschenden Wildbach, und er kam über sie und riß sie fort und zerstreute sie unter die Völker (Is. 8,6). Sie selbst bezeugten es jetzt noch, daß e sich als Sohn Gottes ausgab, und deshalb taten sie ihm den Tod an (Joh. 19,7), und so wurden sie Gottesmörder und verfielen der Strafe ihres schrecklichen Verbrechens.
Und der Richter, konnte er mit seinem Urteil zufrieden sein? Dieses Erscheinen Jesu vor dem höchsten Richterstuhl der Welt war höchst bedeutsam nicht bloß für Pilatus, sondern auch für die Macht, die er in seinem Richteramt vertrat. Es war eine ernste Prüfung der Gerechtigkeitsliebe dieser Macht. Der höchste Richter, die ewige Gerechtigkeit selbst, stellt sich unerkannt vor den höchsten Stellvertreter dieser Weltmacht, um von ihm gerichtet zu werden. Lange wehrte sich der Richter gegen die Ungerechtigkeit, und endlich erlag er ihr, nicht der Heiland, sondern sein Richter, und in ihm ging die staatliche Macht, die er vertrat, gerichtet und verurteilt von dannen. Der Heiland sagt es Pilatus: „Die Juden haben eine größere Sünde“, der Richter hat aber auch eine (ebd. 19,11), weil er gegen Recht und Gerechtigkeit seines Amtes gewaltet. Das konnte nur von Unheil für beide sein.
Aus Herzensgrund müssen wir Jesu danken
Da ist es aber auch billig, daß wir im Geiste niederfallen und den Herrn anbeten an der Stelle, wo ihm unsertwegen ein solch ungerechtes und schimpfliches Urteil traf, das ihm das Leben absprach. Da müssen wir aus Herzensgrund ihm danken, daß er das Urteil über sich ergehen ließ. Es hätte uns treffen können. – Da können wir arme Sünder auch lernen, wenn es sein muss, ungerechtes Urteil mit Geduld leiden und Schnödheit der Behandlung mit Stillschweigen erdulden. Was haben wir denn eigentlich anders verdient, wenn wir eine schwere Sünde begangen, als die Hölle? Und der Heiland, der Reine, der Unschuldige, die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes, schweigt und läßt sich zum Tode verdammen! Muss uns diese Wahrheit nicht bescheiden stimmen in Ansprüchen und Verfolgungen unseres Rechtes? Endlich können wir hier den Heiland selbst um die Gnade eines milden Urteils bitten, wenn wir selbst einmal vor ihm zu Gericht stehen. Durch dieses ungerechte Urteil hat er sich die Gewalt verdient, der Richter aller zu sein. Stellen wir ihm das Mitleid dar, das wir jetzt mit seiner ungerechten Verurteilung gehabt, damit er uns einst auch gnädig sein wolle. –
aus: Moritz Meschler SJ, Das Leben unseres Herrn Jesu Christi des Sohnes Gottes in Betrachtungen Zweiter Band, 1912, S. 374 – S. 378