Die Bändigung der bösen Triebe

Ernste Worte an Eltern und Erzieher: betende Kinder vor dem Schlafengehen oder am Morgen

Zweitwichtigstes Hauptmittel der Erziehung ist die Bändigung der bösen Triebe.

Beiträge von Pater Franz Seraph Hattler SJ: Porträt

von P. Franz Seraph Hattler SJ

Zweites Hauptstück. Ein Spaziergang zu dreien.

§ 3. Ins Birkenwäldchen.

Das zweitwichtigste Hauptmittel der Erziehung ist die Bändigung der bösen Triebe.

Da fährt die Straße daher ein prächtiger Wagen. Ein vornehmes Kind von fürstlichem Geblüt sitzt allein darin. Zwei Rosse voran gespannt fliegen mehr, als sie laufen, sind aber ganz verschiedener Art. Das eine rechts von der Deichsel ist Edelblut, gerade gewachsen mit schlanken Füßen, hohem Hals, sanft gebogenem Kopf, weiß an Haaren, mit schwarzen Augen, unerschrocken und leicht zu lenken.

Das andere ist schwarz von Farbe, die Augen blutunterlaufen, der Hals dick, der Nacken kurz, die Ohren zottig, bald faul, dass kein Peitschenhieb es vom Fleck bringt, bald wild und unbändig, dass kaum ein Zügel es halten mag; dabei immer gefräßig. Zum Glück für das Fürstenkind sitzt ein Kutscher auf dem Bock, der, wenn er will, Kraft genug hat, das Gespann sicher zu leiten.

Das ist jetzt ein Bild, das schon vor 2000 Jahren ein gescheiter Mann gebraucht hat, um den Menschen darzustellen, und es passt zur Kinderzucht ganz ausgezeichnet. Ich will dir die Auslegung davon machen.

Der Wagen ist dein Kind; das, was im Wagen sitzt, ist seine Seele, und in der Seele die Gnade Gottes und die Unschuld. Das weiße, edle Pferd ist der gute Wille und Trieb des Kindes. Es ist nämlich die junge Seele teils von Geburt aus, teils von der Taufe her durch den Heiligen Geist wie ein Samenkörnlein, in dem Kraft und Trieb liegt, eine schöne Blume mit süßem Duft oder ein stämmiger Baum mit reichen Früchten zu werden. Denn Gott hat die Seele für sich geschaffen und ihr darum auch die Richtung nach aufwärts zum Guten und Wahren, zu Gott selber gegeben.

Der Keim zum Guten im Kind

Man sieht das leicht bei Kindern, die nicht in den ersten Jahren schon durch die Umgebung verdorben sind. Oder sag, was ist es denn, das deinem Kind die Schamröte auf die Wangen malt und die Augen zu Boden drückt, wenn es das erste Mal über einer Lüge oder über was Unsittlichem ertappt worden? Und woher kommt es, dass gemeinweg das Kind von selbst fast gar kein Verständnis und Verlangen hat nach Geld und Lob und Ehre und Rache; dagegen aber so gerne vom lieben Vater im Himmel reden hört, mitleidig sein Brot den Armen schenkt, und bald wieder gut ist, wenn man ihm weh getan?

Sieh, das ist der Keim zum Guten im Kindesherzen, und die Gnade ist die Triebkraft. Das ist das schöne weiße Ross.

Der böse Trieb und Wille im Kind

Aber neben ihm steht das wilde, schwarzhaarige, der böse Trieb und Wille. Das ist nicht von Gott; das rührt noch vom bösen Wurm her, der beim verbotenen Apfelbiss der Eva in die Menschheit gekrochen ist und noch mit den letzten Zähnen beißt.

Wenn das Kind lieber spielt als lernt, lieber schläft als betet; wenn es gerne nascht und wie verpicht ist auf Schleckereien; wenn es scheele Augen macht, so du andern was Gutes tust: wenn es gleich aufsiedet vor Zorn und rot wird wie ein gesottener Krebs; wenn es mürrisch ist, so du ihm seinen Willen nicht tust; sieh, das ist das wilde Ross, der wilde Trieb zur Unordnung, zur Sünde, und es wird von Tag zu Tag unbändiger werden und ausschlagen nach allen Seiten und das vornehme Kind aus dem Wagen werfen und ihm tödliche Wunden schlagen, wenn es nicht rechtzeitig gebändigt und scharf am Zügel gehalten wird.

Der Wille des Kindes mag gut sein, aber schwach und unerfahren ist er; wie wird es vermögen, seine zwei Pferde zum Heile zu lenken?

Christliche Selbstverleugnung und Entsagung

Dafür hat nun Gott gesorgt; er hat ihm einen Fuhrmann gegeben, und das bist du, Vater und Mutter; in eure Hände hat er die Zügel gelegt, ihr müsst als Erzieher dieselben so lange führen, bis euer Kind das Kutschieren selber gelernt hat, die Rosse dem Himmel zuzulenken.

Dem gutenTrieb und Willen sollt ihr durch Christentum Gebet und Sakrament, durch eigenes Beispiel aufhelfen und zu Kraft bringen, wie ich schon gesagt. Wie ist aber das schwarze Pferd zu bändigen? – Ich sage: Dafür gibt es nur ein Mittel, das ist ein geweihtes Birkenreis, ein Zauberstäblein.

Du denkst wahrscheinlich, ich meine die Rute. Nicht ganz erraten, mein Freund! Das Birkenreis, das ich meine, ist so wunderbarer Kraft, dass es die Rute fast gänzlich unnötig macht, wenn es nach Gebrauchsanweisung gehandhabt wird. Das Reis, das ich meine, ist ernste, christliche Selbstverleugnung an Entsagung; und das Birkenwäldchen, wo es wächst, ist Christi Beispiel und Christi Wort und Lehre, ist die oft wiederholte Mahnung an alle, den alten Adam auszuziehen und den neuen anzulegen, Gewalt zu brauchen, um das Himmelreich zu erobern, arm zu werden im Geiste, das Kreuz täglich zu tragen, sich lieber das Auge auszureißen, als durch dasselbe Ärgernis zu dulden.

Vernünftige christliche Eltern leben nach Christi Beispiel

Eine betende Familie vor einem Hausaltärchen

Ach! du bester Gott, wo sind denn heutzutage noch die katholischen Familien, wo diese Grundsätze als das ABC der Kinderzucht gelten? Ich muss fast fürchten, man lacht mich aus mit diesem Artikel, als wie einen, der ein altväterisches Gewand anhat.

Aber lacht nur, ihr hochweisen Fortschrittler und Verächter der Zuchtrute christlicher Entsagung; wenn ihr und durch euch die Kinder werden so weit fortgeschritten sein, dass sie euch die blutigen Tränen des Kummers aus dem Herzen ins Auge treiben, wie ich es schon sehen musste, dann wird dieser mittelalterliche Artikel schon zu Ehren kommen.

Ihr aber, vernünftige Eltern, geht oft mit euren Kindern hinaus und hinein in das Birkenwäldchen und brecht dort jedesmal ein Birkenreis für euch und für euer Kind. Ich meine: machet den ernsten, kräftigen Vorsatz, nach Christi Wort und Beispiel das wilde Ross bei euch selbst Tag für Tag zu zügeln; lasst euren Leib nur fühlen, dass ihr Meister seid über sein böses Gelüst und Begehren; kreuziget ihn nur ganz rechtschaffen, bis er hübsch lenksam wird. An eurem Leibe und bösen Triebe scharf appliziert, bekommt das Birkenreis erst die rechte Weihe und Zauberkraft für euer Kind; sonst aber bleibt es unnütz, ja wird sogar giftig für das Kind, dass es zurückschlägt auf euch.

Da fällt mir gerade ein solcher Fall ein.

Ein Vater, der das Maß im Trinken zu überschreiten gewohnt war, hörte seinen Sohn gottlos lästern. Er macht sich über ihn, sogar mit Christentum: er soll doch bedenken, dass Gott alles höre. Darauf der Knabe: „Vater, sieht denn Gott auch alles?“ Die Antwort war: „Freilich ja und ganz gewiss.“ „Das tut mir leid für Euch, Vater! dann hat er ja auch Euch gestern betrunken gesehen.“ — Bauer, merk’s !

Gebrauchsanweisung für die christliche Abtötung

Ich sollte jetzt noch die Gebrauchsanweisung des Birkenreises, der christlichen Abtötung, geben, aber ich muss es kurz machen. Das erste und wichtigste habe ich schon gesagt: „Brauch es so lange nicht am Kinde, ehe du es nicht an deinem eigenen wilden Treibe weich und lind geschlagen.“ Im Übrigen will ich nur andeuten, an welchen Stellen dasselbe in unsern Zeiten zu applizieren sei, damit es recht heilsam werde. Es sind besonders drei kranke Teile an Eltern und dann an den Kindern.

Die erste kranke Stelle ist die unbändige Freiheitslust.

Jeder will nach seinem eigenen Willen und Wege gehen; man will nicht mehr von Gesetz und Gebot und Autorität was wissen, und beschwert sich und schreit und arbeitet gegen jede Obrigkeit. Darüber muss natürlich das ganze gesellschaftliche Leben in die Brüche gehen; der Staat gärt von Revolutionen; die Kirche wird durch die Altkatholiken zerrissen; in der Familie achten die Eltern kein Kirchengebot mehr; und da ist es denn kein Wunder, dass auch hierin die Jungen zwitschern wie die Alten singen, und daher voll Trotz und Frechheit gegen die Eltern sind.

Da täte nun das katholische Birkenreis not und würde Wunder wirken, wenn es recht gebraucht würde. Wer Sünde tut, sagt der Geist Gottes, ist ein Sklave der Sünde; von der Sünde also befreit sein, ist die rechte und echte Freiheit, aber nicht unbändig und gesetzlos dahin sprengen.

Von der Sünde aber frei macht nebst anderem ganz besonders das Entsagen, das Selbstbändigen. Darum beug du selbst erst deinen Nacken unter das Joch des Gesetzes, des Gehorsams gegen Gott und seine Stellvertreter, die Kirche und die weltliche Obrigkeit; dann magst und sollst du auch dein Kind, aber von klein auf schon, gewöhnen, seinen Eigenwillen zu brechen. Schreit darüber auch bei dir oder dem Kinde das wilde Ross, und stampft es und schlägt es aus, lass dich nicht schrecken, nur das Birkenreis fest zur Hand nehmen; nach und nach wird es schon lenksamer werden.

Die zweite kranke Stelle ist die Verzärtelung und Weichlichkeit

Die zweite kranke Stelle ist die Verzärtelung und Weichlichkeit, dass Eltern dem wilden Rosse der sinnlichen Begierde bei sich und beim Kinde alles geben und gestatten, was es will; viel Unterhaltung, wenig ausgiebige Arbeit; viel lustigen Zeitvertreib, wenig ernste Beschäftigung; viel und gut Essen und Trinken, wenig verdienen; viel Großreden und Großtun und Schuldenmachen, viel Theater und Bälle, wenig Beten und Predigt hören; hineinleben in den Tag nach der Laune, und kein geordnetes beharrliches Geschäft — das ist der kürzeste Weg zum Verderben. Müßiggang ist aller Laster Anfang.

Da tut das Birkenreis not. Was ihr Eltern und was euer Kind braucht, um christlich vernünftig zu leben, ist ein sittlich starker Wille, der sich mit Leichtigkeit Unerlaubtes zu versagen weiß und durch das Schwierige sich nicht schrecken lässt. Diese Willensstärke gewinnt man aber nicht, wenn man nicht lernt, sich auch manches Erlaubte zu versagen. Gibst du also dir und dem Kinde in allem nach, was euch in den Sinn kommt, so bleibt der Wille schwach und kraftlos und ist nicht imstande, sich das Unerlaubte zu versagen.

Keine Kraft für die Entsagung

Ich habe ein Kind gekannt, das auf schlechten Wegen war, aber guten Willen hatte, besser zu werden; aber es ging nicht. Ich ermahne es und bitte und ermuntere es, sich ein wenig Gewalt anzutun und Kraft zu brauchen, dann werde es besser werden. Traurig antwortete das Kind mit gesenktem Haupte und mutlos (ich sehe es noch immer): „Ja, wo soll ich die Kraft hernehmen? Zu Hause hat man mir nie was versagt, was ich gewollt, ich bin es nicht gewöhnt.“ — Ach Gott! wie mag es dem armen Kinde wohl gehen; sei du, o Erbarmer, seine Kraft und rette es. Grausame Eltern! —

Ihr aber, liebe Eltern, die ihr das lest, macht es nicht so; sinnt nicht eigens tagelang nach, wie und wo ihr eurem Kinde wieder eine Unterhaltung machen könntet; so hat es der Vater des genannten Kindes getan. Ihr dagegen denket vielmehr nach, was euer Kind nicht braucht und was ihr ihm versagen könnt. Nichts geben kostet ja nichts, und euer Kind lernt dabei die große, beseligende, notwendige Kunst, sich selbst zu beherrschen. Nach dem, was man nie verkostet, hat man nie viel Appetit; darum bleibt das Sprichwort so wahr: Der Vielfraß wird nicht geboren, sondern erzogen.

Aber auch das bleibt wahr: wenn du selber die Kunst der Selbstbeherrschung nicht verstehst, kannst du sie dem Kinde nicht lehren.

Der Vater des oben erwähnten Kindes hat mir einmal geklagt, der Bursch habe keinen Funken Dankbarkeit für alle die Geschenke gezeigt, die er ihm letzthin zum Namenstag ausgesucht habe. Ich erteilte ihm den einfachen Rat, er solle ihm nur einmal keine Geschenke mehr geben, bis er zu bitten komme, dann werde er das Danken schon lernen. „Sie haben recht,“ meinte der Vater, „aber dem Vaterherzen käme ein solches Opfer zu schwer.“ — O wie pfiffig! also lieber den schwarzen Undank des Kindes einstecken! Wohl bekomm’s! mich geht es nichts an!

Die dritte kranke Stelle ist der Geist der Unlauterkeit

Die dritte kranke Stelle bei Kindern mit Eltern deute ich nur an, weil sie gar so heiklich ist. Es ist das Kind der Weichlichkeit — der Geist der Unlauterkeit, der wie ein frecher Geißbock in wildem Gelüste das schöne Edelweiß der Unschuld und Reinigkeit am Leibe und an der Seele abfrisst. Ich sage hier weiter sonst nichts, weil ich darüber im vierten Hauptstück mich des Weiteren auslassen will. Für jetzt aber sei es genug.

Der Gang zum Grabstein mit deinem Kind

Es fängt im Birkenwäldchen an düster und ernst zu werden; gehen wir also weiter. Ich habe noch einen Gang mit euch vor. Es geht zu guter Letzt mit uns allen auf den Gottesacker. Dorthin wollen auch wir zu guter Letzt wandeln, und zwar zum Grabstein.

Nimm einmal deine Kinder mit auf den Friedhof hinaus und führe sie dorthin, wo man vor Jahren deine Eltern ins Grab gelegt hat. Dort verrichte zuerst ein frommes Gebet für sie, dann steh auf und gib mir Antwort auf die Frage:

Wenn du jetzt zurückdenkst an Vater und Mutter, für was dankst du ihnen jetzt am allermeisten?

Ich sage: jetzt; als kleines Kind hättest du freilich gerne gehabt, wenn dich die Eltern hätten tun lassen, was du gewollt, wenn sie dir nur süße Worte und Sachen zugesteckt hätten; aber dazumal warst du eben ein Kind und hast auch gedacht wie ein Kind. Jetzt aber bist du erwachsen und denkst hoffentlich nicht mehr kindisch, sondern siehst ein, dass die kostbarste Erbschaft von deinen Eltern her der christliche Glaube, die christliche Zucht sei; du dankst jetzt für jedes ernste Wort, für jeden gesunden Schlag, der dir damals weh, aber nachgehends fürs Leben so wohlgetan.

Dagegen für die Nachgiebigkeit gegen deine Kinderlaunen, für die Verzärtelung, die dich weichlich und kraftlos gelassen, für die Straflosigkeit deiner jugendlichen Streiche, die deine Ehre und dein Gewissen angeschwärzt haben, dafür weißt du ihnen keinen Dank. Ist es so oder nicht?

Ist es so und rede ich klar, nun, so rede auch du dort am Grabe deiner Eltern zu deinem Kinde eben dasselbe. Bessere Kanzel für Kinderlehre kannst du nicht finden als diesen geweihten Boden, worin deine Eltern ruhen. — Mache diesen Besuch nur öfter, verstehst du; es ist auch darum, dass deine Kinder an deinem Beispiel Dankbarkeit lernen.

Bist du mit dieser Lehre fertig, so schweig und denk still weiter wie folgt.

Wenn die Eltern im Grabe liegen

Die Bändigung der bösen Triebe: Kinder weinen am Grab der ElternEs kommt einmal die Zeit, da graben sie neben dem Grabe deiner Eltern ein neues Grab, und da legen sie dann dich hinein, du Vater und Mutter, und werfen Erde über dich und stellen ein Kreuz auf den Hügel. Und dann stehen oder knien deine Kinder am Grabe; du aber mit deiner Seele bist bereits lange schon im Gerichte vor Gott gestanden und hast Rechenschaft über deine Kinderzucht abgegeben und weißt somit, wie Gott, die untrügliche Wahrheit, es strenge nimmt.

Sage mir nun: Wenn du jetzt schon drunten lägest und aus dem Grabe heraus zu dem Kinde, das oben steht, reden könntest, was würdest du ihm wohl zupredigen? Hättest du nicht vielleicht manch schlechtes Beispiel abzubitten und abzumahnen? Hättest du nicht zu sagen, es sollte öfter zur Predigt und zu den Sakramenten, sollte jene Person und jenes Buch meiden, sollte sich streng halten; Gott lasse nicht scherzen mit seinen Geboten, und es sei schrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen?

Sieh, du Vater oder Mutter, dort im Grabe, wo deine Lippe und deine Zunge modert und die Zähne zu Staub zerfallen, kannst du nichts mehr sagen. Aber jetzt stehen deine Kinder noch lebend dir zur Seite. Rede ihnen zu, so warm, so wahr, so innig und tiefergreifend, als du es nach dem Tode und nach dem Gerichte tun möchtest. Ich meine, kein Kirchenvater könnte eine bessere und eindringlichere Predigt halten als du dort an der Stelle deines vielleicht baldigen Grabes.

Aber es kann auch anders kommen; auf jeden Fall kannst du denken, es käme so.

Wenn dein Kind im Grabe liegt

Vielleicht nämlich, ich weiß es nicht, Gott weiß es, vielleicht gehst du bald einmal heraus auf den Gottesacker und findest hier ein Gräblein gegraben neben deinen Eltern, und hinein legen sie dein Kind, das jetzt noch frisch und gesund neben dir steht. Du hörst, wie Erde und Steine über seinen Sarg hinab kollern, und es ist dir, als läge dein eigenes Herz darunter und würde mit begraben.

Wo ist jetzt die Seele deines Kindes? Sag an, du armes Herz, wo ist sie denn? — Wo hast du es denn hingeführt, seitdem es dir Gott an deine Hand gegeben, und es deinem Beispiele, deinem Worte, deinem Geiste gefolgt ist — aufwärts oder abwärts?

Bücke dich ein wenig über das Grab und höre denkend auf; hörst du nicht vielleicht an dein Herz eine Predigt dringen von deinem Kinde? Was sagt es denn? Darfst du hoffen, es sage: „Vergelt’s Gott, lieber Vater und Mutter!“ Darfst du hoffen, es breite vom Himmel aus seine Hände über dich zum Segen und Gebet, weil du es ernst und fromm und züchtig erzogen hast?

Oder ist es wie ein schauerlicher Fluch, ein Rachegebet aus deines Kindes Mund zu Gott gegen dich, weil du das arme Ding durch dein Beispiel und Wort, durch deine Gleichgültigkeit für Christentum und Gebet und Sakrament, durch schlechte Zeitungen und Bücher, durch Theater und Unterhaltung, durch Spott gegen Priestertum und Kirche ins ewige Feuer geworfen hast?

Was wirst du bleich und was zittert in deiner Hand diese Schrift?

Sieh! noch ist dein Kind nicht gestorben, noch ist es lebend um dich. Aber auch so predigt es an dein Herz. Schau es an; es ist Fleisch von deinem Fleisch, Bein von deinem Bein, Blut von deinem Blut. Rührt sich nicht das innerste Mitleid in deinem Herzen für dasselbe? Wär’s nicht schade, wenn’s durch deine Schuld dem Teufel zur Beute würde — und dann — ach, was dann?

Ich sehe, du bist ins Denken versunken, ich will dich nicht stören und gehe jetzt und lass’ dich allein beim Grabe deines Kindes.

Ich bin unsichtbar wie dein Engel oder wie der Engel deines Kindes dir zur Seite gestanden, während du diesen Absatz gelesen.

O, ich möchte jetzt niederknien vor dir, du lieber Vater, du gute Mutter, und meine Hände falten, und ein inniges Gebet an dich richten für dein liebes, armes Kind. Aber ich bin dir fern und kenne dich nicht, nur diese Zeilen schicke ich dir in Liebe für dein Kind. Folge dem, was du da gelesen, als wären es die Worte deines besten Freundes, des Schutzgeistes; dann wird dir einst beim Sterben viel leichter werden; denn du hast dir ein lindes, warmes Grab gegraben.

Weißt du, was ich meine?

Ein gut erzogenes Kind hat einst in dankbarer Liebe an seine Mutter den Nachruf getan:

Ein Grab, o Mutter, ist gegraben dir
An einer stillen, dir bekannten Stelle;
Ein heimatlicher Schatten wehet hier,
Auch fehlen Blumen nicht an seiner Schwelle.
Drin liegst du, wie du starbest, unversehrt,
Mit jedem Zug der Freuden und der Schmerzen;
Auch aufzuleben ist dir nicht verwehrt. —
Ich grub dir dieses Grab — in meinem Herzen!

aus: Franz Hattler SJ, Ernste Worte an Eltern, Lehrer und alle Kinderfreunde, 1901, S. 71 – S. 80

Überschriften hinzugefügt.

Teil 1 der Beitragsreihe: Ernste Worte an Eltern und Erzieher

Teil 2 der Beitragsreihe: Das unerlässlichste Erziehungsmittel

Zur Biographie siehe: Wikipedia Stichwort Franz Seraph Hattler

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Tags: Katholik

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