Die Menschenfurcht ist der Tod aller Religion
Die Menschenfurcht ist der Tod aller Religion; sie nimmt im Leben desjenigen, welcher sich ihrem harten Joch unterwirft, die Stelle Gottes ein; sie macht die Religion, welche sein Glück und sein Friede sein sollte, zur fortwährenden Qual. Oder war die natürliche Religion, welche Pilatus noch besaß, ihm nicht zur Qual, da er sich zum Sklaven der Menschenfurcht erniedrigte. Er hat die Unschuld Jesu bekannt, die Gerechtigkeit seiner Sache verteidigt, die Verleumdung der Pharisäer durchschaut, den Priestern mit seinen Gesetzen und dem Volk in seinem Wahn widerstanden; als er aber den Zuruf hörte: „du bist nicht des Kaisers Freund, wenn du diesen los läßt“ (Joh. 19), da schämte er sich seiner Grundsätze und Pflichten, da befleckte er sich selbst durch den Widerruf seines eben gefällten Urteils, da beteuerte er durch sein heuchlerisches Händewaschen: „Es schweige mein Gewissen, fort mit der Gerechtigkeit, es sterbe Christus, ans Kreuz mit der verfolgten Unschuld, wenn ich um diese Opfer nur ein Freund des Kaisers bleibe!“ Was sagt dir die eigene Erfahrung? …
Hat nicht schon der bloße Gedanke: „was werden die Leute sagen, wenn ich einen Spötter über Gott, über die Priester, über die heiligen Sakramente schweigen heiße, wenn ich den verleumdeten Mitbruder verteidige, wenn ich dem Beleidiger verzeihe und keinen Prozeß anfange“, dich zu großen und schweren Sünden verführt? Diese so gefährliche Menschenfurcht hat Juliana besiegt durch den entgegen gesetzten Gedanken: „Was wird mein Jesus, mein Erlöser und Richter sagen, wenn ich meinen Glauben verleugne, meinen Taufeid breche, eine verbotene Ehe eingehe?“
Wie töricht die Menschenfurcht ist.
Du hast es wohl schon oft erfahren, daß die Welt tadelt und verachtet, was vor deinem Gewissen und vor Gott schön, lobenswert und verdienstlich ist: daß die Welt mit Beifall lobt und belohnt, was vor deinem Gewissen schändlich und strafbar ist. Es wäre also doch sehr töricht, dich von der Menschenfurcht tyrannisieren und in so große Gefahren stürzen zu lassen, da sie ein so ungerechter Richter ist, und den allwissenden Gott zu beleidigen, der der allein gerechteste, unfehlbare Richter ist. Vergegenwärtige dir nur die ernste Stunde, welche zwar unerwartet aber gewiß kommt, die Stunde deines Todes: wo sind dann die Leute, deren Lob du gesucht, deren Tadel du gefürchtet, deren Meinung du befolgt hast? Ach, wo ist jetzt der Kaiser, dessen Freundschaft zu erwerben du Gottes Feindschaft nicht gefürchtet hast? O du Tor! Diese Leute kommen nicht an dein Sterbebett, sie wollen deinen letzten, kalten Schweiß nicht mehr sehen, geschweige denn, daß sie für dich in den Tod gehen, für dich Rechnung ablegen beim letzten Gericht, oder dein Los auf sich nehmen in der Ewigkeit. Sei also klug und handle wie die hl. Juliana! –
aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 121 – S. 122