Sind die Märtyrerlegenden glaubwürdig?
1. Die heiligen Märtyrer, deren Leben du heute betrachtest, haben so viele und entsetzliche Martern gelitten, daß dir vielleicht die Erzählung derselben verdächtig vorkommt. Allein uralte glaubwürdige Zeugnisse der Kirchen-Geschichtsschreiber lassen nicht zu, daß ein vernünftiger Mensch an dem, was hier erzählt ward, zweifle. Scheint dir solches dennoch verdächtig, so sage mir, warum? Nicht wahr, weil du nicht fassen kannst, wie schwache Menschen so viele und so entsetzliche Peinen sogar mit Freuden haben ertragen können? Weißt du aber nicht, daß Gott in seinen Heiligen wunderbar ist? Glaubst du nicht, daß Gott allmächtig ist? So glaube denn auch, daß er ein schwaches Geschöpf stärken könne, mehr zu leiden, als die natürlichen Kräfte ausstehen können. Glaube, daß er seinen getreuen Bekennern die Empfindung der Schmerzen vermindern, oder ganz wegnehmen könne. Hüte dich aber auch, zu denken, die Märtyrer konnten ihre leiden leicht erdulden, weil Gott mit übernatürlicher Kraft sie stärkte. Wie Jesus Schmerzlicheres litt, was unsere Erlösung erforderte, weil die Gottheit seine menschliche Natur stärkte, so konnten auch die Märtyrer größere Peinen erdulden. Ihr Wille war ja aus Liebe zu Jesus zu allem bereit. Sei du wenigstens zu jedem Kampf gegen die Sünde entschlossen, wozu auch dir Gottes Beistand nicht mangeln wird.
2. Gott hat den heiligen Märtyrern bisweilen einen Engel geschickt, der sie tröstete, oder aus den Händen der Tyrannen errettete. Ebenso hat er mit vielen andern im alten und neuen Testament gehandelt, wie nebst anderm aus dem Leben der heiligen Apostel Petrus und Paulus bekannt ist, die er zu einer Zeit aus dem Kerker errettete, ein andermal aber nicht. Er hat auch einige seiner Diener von Verfolgungen und Widerwärtigkeiten gänzlich befreit, wie den heiligen Propheten Daniel aus der Löwengrube und dessen drei Gefährten, die drei Jünglinge aus dem Feuerofen. Andere aber hat er in Armut und Krankheit sterben, oder unschuldiger Weise leiden und töten lassen. Der arme in seiner Krankheit verschmachtende Lazarus ist ein Beweis für das Erste, der heilige Johannes der Täufer, die heiligen Propheten und Apostel aber für das Zweite.
Heutzutage macht es Gott noch ebenso. Bisweilen nimmt er ein Kreuz, eine Krankheit oder Verfolgung ab, wenn man ihn darum bittet; bisweilen nicht. Bei dem einen Menschen zeigt er seine Allmacht und errettet ihn, einen andern läßt er am Kreuz hangen und daran sterben. Alles das aber tut er zu unserem Heil. Demnach, wenn du zu Gott rufest und von ihm erhört wirst, so danke ihm. Erhört er dich nicht, nimmt er dir dein Kreuz nicht ab, läßt er dich in deiner Armut, Krankheit oder Verfolgung verschmachten und sterben, so unterwirf dich seinem heiligsten Willen. Bedenke, daß er so mit den Heiligen verfahren wollte, und daß er dein Heil dadurch bewirkt. „Wenn ich Gnade finden werde in den Augen des Herrn, so wird er mich wieder zurück führen. … Wird er aber zu mir sprechen: „Ich habe kein Wohlgefallen an dir, so bin ich bereit; er tue, war vor ihm gut ist.“ (2. Kön. 15, 25. 26.) Also sprach einst der heilige König David, da er aus Jerusalem sich vor der Verfolgung seines Sohnes Absalon flüchtete. Er unterwarf sich dem göttlichen Willen vollkommen und zeigte sich zu allem bereit, was Gott über ihn verhängen oder zulassen würde. Dies wollen auch wir tun. –
aus: Wilhelm Auer, Kapuzinerordenspriester, Goldene Legende Leben der lieben Heiligen Gottes auf alle Tage des Jahres, 1902, S. 411-412