Die Beweisquellen der Tradition
Unter den Beweisquellen, woraus sowohl die Kirche selbst, als die theologische Wissenschaft die katholische Tradition zu schöpfen und zu beweisen vermag, nehmen selbstverständlich die erste Stelle ein
I. die amtlichen Zeugnisse des kirchlichen Lehramtes selbst, also vor Allem:
1. Die definitiven Lehrentscheidungen (1) der allgemeinen Konzilien, diese feierlichste und vollkommenste Form, in welcher der Papst und der mit ihm vereinigten Episkopat die Lehre Christi und der Apostel und den Glauben der Kirche, im Namen Christi und in der Kraft des heiligen Geistes, bezeugt und erklärt.
Durch die Anerkennung und Annahme des Apostolischen Stuhles und der gesamten Kirche haben jedoch auch die Entscheidungen ursprünglich partikularer Konzilien ökumenische Autorität erlangt (2.1), so daß sie für sich allein schon einen vollen Beweis der katholischen Überlieferung begründen.
Die Entscheidungen nicht ökumenischer Konzilien haben zwar nicht diese absolute Garantie der Unfehlbarkeit. Allein je nach der Zahl dem Ansehen ihrer Teilhaber sind sie, zumal wenn sie von dem apostolischen Stuhl bestätigt sind, geeignet, mehr oder weniger vollkommen die katholische Überlieferung festzustellen. Wenn aber eine Reihe von Partikular-Konzilien vom ganzen katholischen Erdkreis oder aus verschiedenen Zeiten unter Billigung des apostolischen Stuhles in Bezeugung einer Wahrheit zusammen stimmen, so wird dadurch, weil die Übereinstimmung des gesamten ordentlichen Lehramtes, die katholische Tradition in sehr vollkommener Weise konstatiert. (2.2)
2. Nicht minder unfehlbar in Sachen des Glaubens und der Moral, als die Dekrete der allgemeinen Konzilien, sind die Kathedral-Entscheidungen des Papstes, welche zugleich den Konsens der ganzen Kirche, die notwendig mit den Entscheidungen ihres sichtbaren Hauptes übereinstimmt, beweisen und bewirken. Es genügt also eine päpstliche Kathedral-Entscheidung zum vollen Beweis der katholischen Tradition. (2.3)
Päpstliche Erlasse, welche nicht Kathedral-Entscheidungen sind, besitzen zwar nicht den Charakter definitiver und unfehlbarer Glaubensurteile, wohl aber, nach Maßgabe ihres Zweckes und der Umstände ihrer Erlassung, eine überaus hohe Autorität zur Konstatierung der echten Tradition und ihres richtigen Verständnisses. Die konstante Lehre des apostolischen Stuhles, wie sie durch eine Reihe päpstlicher Zeugnisse sicher gestellt wird, bildet einen vollen Beweis der römischen und damit eo ipso der katholischen Tradition.
3. An die förmlichen Lehrentscheidungen reihen sich die kirchlichen Glaubensbekenntnisse (Symbola). So weit dieselben von der höchsten kirchlichen Autorität als förmliche Lehrentscheidungen emaniert sind, fallen sie unter die Kategorie der letzteren. Aber auch dann, wenn dieses nicht der Fall ist und sie zunächst von einem Privatverfasser herrühren, erlangen sie durch die Aufnahme in den öffentlichen Gebrauch und in die Liturgie der Kirche eine unanfechtbare Autorität. (3)
Dann sind jene Glaubens-Bekenntnisse oder Glaubens-Regeln zu unterscheiden, wie sie sich bei Kirchenvätern oder Kirchenschriftstellern finden. (4) Dieselben haben keinen offiziellen kirchlichen Charakter, sind aber Zeugnisse für den öffentlichen Glauben der Kirche zur zeit ihrer Verfasser, deren treue und Vollkommenheit sich nach dem Wert der betreffenden Schriftsteller und dem Ansehen richtet, das sie in der Kirche genießen.
4. Zu den symbolischen Schriften sind auch die offiziellen Katechismen zu rechnen, deren Autorität sich nach der Autorität richtet, von der sie ausgegangen sind. Also haben Diözesan-Katechismen, oder solche für einzelne Kirchenprovinzen oder Länder nur eine untergeordnete und partikulare Autorität. Wenn jedoch ein Katechismus, wie z.B. der Bellarmin`s oder des sel. Petrus Canisius, weit verbreitet und unter kirchlicher Billigung lange Zeit im Gebrauch ist, so liegt schon in ihm allein ein starkes Argument für den kirchlichen Konsens. Unter allen Katechismen besitzt die höchste Autorität der Catechismus Romanus (5), jedoch hat er nicht die Autorität einer förmlichen Lehrentscheidung oder eines eigentlichen Glaubenssymbols, da er nie als solches von dem apostolischen Stuhl erklärt und vorgeschrieben wurde. (6)
5. Die größte Autorität nächst den Lehrentscheidungen und Glaubens-Bekenntnissen der Kirche besitzen die von der Kirche anerkannten, zum Teil ins höchste Altertum hinauf reichenden Liturgien, Ritualien, Sakramentarien. In ihnen spricht sich der Glaube der Kirche aus und kann daher aus ihnen erkannt werden. (7) Die Wachsamkeit des kirchlichen Lehramtes und der Beistand des heiligen Geistes bürgen dafür (8), daß zumal die für die gesamte Kirche von der höchsten kirchlichen Autorität vorgeschriebene Liturgie nichts enthält, was nicht mit dem wahren Glauben in Einklang steht.
Die Liturgien einzelner Teile der Kirche haben selbstverständlich eine unvollkommenere Autorität und können nur in ihrer Übereinstimmung resp. In Verbindung mit anderen Argumenten einen vollen Beweis liefern.
6. Die alten Liturgien der Schismatiker und Häretiker haben selbstverständlich keine kirchliche Autorität, wohl aber sind sie ein kräftiges historisches Argument für das Altertum und die Ursprünglichkeit alles dessen, worin sie mit der katholischen Kirche und ihrem Glauben übereinstimmen.
7. Nicht bloß die heiligen Gebete und Gebräuche, wie sie in den Messliturgien und Sakramentarien verzeichnet sind, sondern auch der gesamte Kultus und alle von der Kirche geübten und empfohlenen Übungen und Gebräuche des religiösen Lebens sind, in so weit sie den Glauben der Kirche an die denselben zu Grunde liegenden Wahrheiten manifestieren, beweiskräftige Zeugnisse der echten kirchlichen Überlieferung. (9) Dasselbe gilt auch von der Disziplin (10) und den Gesetzen der Kirche (11), insofern sich darin die Dogmen, auf welche sie sich gründen, als von der Kirche gelehrte, bekannte und geglaubte manifestieren.
Anmerkungen:
(1) Eine dem Kandidaten der Theologie unentbehrliche, aber auch genügende Sammlung der wichtigsten kirchlichen Lehrentscheidungen ist Denzinger`s Enchiridion Symbolorum et definitionum.
(2) siehe die drei Textausschnitte
(3) Der Kern der Glaubensbekenntnisse ist die Taufformel.
(4) Solche aus ältester Zeit finden sich namentlich bei Irenäus, Adv. haeres. 1, c. 10, nr. 1 u.a.
(5) Catechismus ex decreto Concilii Tridentini ad Parochos Pii V. P. M. jussu editus.
(6) Man darf auch bei Katechismen nicht vergessen, daß sie eben nur die für den Unterricht des Volkes notwendigen Grundlehren enthalten, die Behandlung schwierigerer oder irgend wie bestrittener Fragen aber mit Recht vermeiden; daher das Schweigen von Katechismen bezüglich solcher Lehrpunkte nicht ein Argument gegen dieselben abzugeben vermag.
(7) Es dürfte kaum eine katholische Wahrheit sein, die nicht in den Liturgien bezeugt ist. Zu allen Zeiten haben sich die Väter auf diese Zeugnisse berufen, so namentlich Augustin gegen die Pelagianer und Semipelagianer. Das Wort Augustin`s, daß die lex credendi aus der lex orandi erkannt werden kann, ist als Axiom in der Kirche anerkannt. Es bedarf kaum einer Bemerkung, daß wir hier von den Liturgien nur in so weit reden, als sie sich auf res fidei et morum beziehen.
(8) Ist ja die Feier der heiligen Geheimnisse das innerste Heiligtum der Kirche; wenn irgend wo, manifestiert sich daher in der Liturgie, daß die Kirche, wie der heilige Bernhard sagt, den Geist ihres göttlichen Bräutigams besitzt.
(9) Aus der kirchlichen Übung beweisen z. B. die Väter die Gültigkeit der Taufe der Häretiker. Man denke ferner an die seit den ältesten Zeiten allgemeine Verehrung der Heiligen.
(10) Man denke an die Bußdisziplin.
(11) Alle Gesetze der Kirche beruhen auf ihrer göttlichen Verfassung und auf Wahrheiten der christlichen Glaubens- und Sittenlehre; daher können auch diese Wahrheiten aus den Gesetzen, wie nicht minder aus dem Gewohnheits-Recht der Kirche erkannt werden. So wie also die Kanonisten die in Schrift und Tradition enthaltene göttliche Offenbarungs-Wahrheit, die sie im Gegensatz zu der von Zeitverhältnissen abhängigen lex humana als lex divina oder auch lex aeterna bezeichnen, als die erste Quelle des Kirchenrechtes anführen, so können auch die Theologen die Canones der Kirche, so wie die einmütige Interpretation der Kanonisten zu den Quellen dogmatischer Tradition rechnen; obwohl dieses seltener geschieht, wie denn auch das Kirchenrecht der Dogmatik und Moral untergeordnet ist und die Theologen aus mehr primären Quellen, als die Canones sind, die Dogmen beweisen können und mit Recht zu beweisen pflegen.-
aus: J. B. Heinrich, Dogmatische Theologie, Bd. 2, 1876, S. 73 – S. 81