Verschiedene äußere Formen der Entscheidungen ex cathedra
Formen unfehlbarer Entscheidungen des Papstes
Von allen Dokumenten, welche die Entscheidungen enthalten, gilt aber selbstverständlich, daß nur diejenigen Sätze oder Momente, auf deren peremptorische (= zwingende, endgültige) Feststellung die Intention des Richters gerichtet erscheint, als richterlich festgestellt und mithin unfehlbar wahr anzusehen sind. Mit andern Worten: Nur das, was sichtlich unter die Entscheidung fällt oder zum „Dispositiv“ des Dokumentes gehört, nicht aber auch das, was bei, vor oder nach der Entscheidung zur Empfehlung, zur Begründung – es sei denn eine solche, welche in Form einer dogmatischen Erklärung einer Schriftstelle oder Glaubensregel gegeben wird – oder zur Erklärung – es sei denn eine den Sinn und die Tragweite der Entscheidung bestimmende Erklärung – gesagt wird, ist als unbedingt verbindlich und unfehlbar anzusehen. Praktisch ist es immer möglich, daß in einzelnen Fällen sowohl der formelle Charakter des Dokuments, wie auch der materielle Umfang der Definition nicht unzweifelhaft zu erkennen ist. Aber das hat nur zur Folge, daß man unter solchen Umständen eben nicht unbedingt, sondern bloß durch die Pflicht der Pietät gebunden ist; für alle übrigen bleibt dann doch die allgemeine Regel bestehen. Im Zweifel sind übrigens die päpstlichen Urteile formell und materiell, analog wie die Gesetze, nach Zweck, Umständen und der nachfolgenden kirchlichen Praxis zu erklären.
Die Hauptformen, in welchen namentlich nach dem neueren Stil Entscheidungen ex cathedra gegeben werden, sind folgende:
1. Die feierlichste und ausgeprägteste Form bilden die sogen. dogmatischen Konstitutionen oder Bullen, welche die Urteile ausdrücklich in Form allgemeiner und mit strengen Strafen sanktionierter Kirchengesetze aufstellen und promulgieren, z. B. die Konstitutionen „Unigenitus“ und „Auctorem fidei“ gegen die Jansenisten, und „Ineffabilis Deus“ über die unbefleckte Empfängnis. Bei diesen ist es, da der Text gewöhnlich von selbst klar, gleichgültig, ob dieselben in der Überschrift an die ganze Kirche gerichtet werden (wie die Bulle „Unigenitus“), oder nicht (wie die Bulle „Unam sanctam“ und „Ineffabilis Deus“).
2. Den Konstitutionen zunächst kommen die literae encyclicae ad universam ecclesiam, wofern sie dogmatischer Natur sind, d. h. entschiedenen Ausdrücken es den Bischöfen zur Pflicht machen, gewisse Lehren vorzutragen und geltend zu machen, resp. Zu unterdrücken und auszurotten, und den Gläubigen gebieten, jene Lehren festzuhalten, oder zu verwerfen. Sie kommen mit den Konstitutionen überein in der direkten, allgemeinen Tendenz, und unterscheiden sich in der Regel von ihnen nur durch den Abgang der Strafsanktionen. Sie selbst unterschieden sich wieder in solche, welche (mit Ausnahme der Strafsanktion) sonst, was die Fassung der fraglichen Lehre und die Hervorhebung der Autorität betrifft, in strenge richterliche Formen eingekleidet sind (wie die Enzyklika Quanta cura, welche anfangs auch als förmliche constitutio vorbereitet war) (vgl. die Entscheidungsformel), und solche, welche in freierer, mehr rhetorischer, aber doch peremptorischer (= endgültiger, sicher geltender) Form katholische Lehren einschärfen oder unkatholische Lehren verwerfen (wie die bekannte Enzyklika Gregors XVI. Mirari vos von 1832, von welcher derselbe Papst in der Enzyklika Singulari Nos vom 10. Juli 1833 erklärte:, an einer andern Stelle: definivimus). In letzterem Falle kann es jedoch leicht vorkommen, daß der Spruch ex cathedra bloß mit moralischer Gewissheit erkennbar ist, resp. nur ein demselben an Kraft nahe kommender Akt vorliegt.
3. Andere apostolische Briefe (literae apostolicae), welche nicht mit der Feierlichkeit der constitutiones, sondern bloß in forma brevis erlassen oder nicht direkt an die ganze Kirche gerichtet werden, sind als Sprüche ex cathedra anzusehen, wenn sie entweder a) mit den Konstitutionen darin übereinkommen, daß sie generelle theologische und Straf-Zensuren über die Leugnung bestimmter Lehren verhängen, oder b) wie die dogmatischen Enzykliken, in strengen richterlichen Formen definieren oder verdammen, resp. In gleich bedeutenden freieren Ausdrücken das Festhalten einer bestimmten Lehre als Pflicht jedes Katholiken erklären und einschärfen – indes ist hier oft noch schwerer, als in den Enzykliken, der streng dogmatische Charakter des Schreibens von dem monitorischen oder polizeilichen evident zu unterscheiden. Wo im Erlasse selbst die generelle und definitive Tendenz klar ist, hat die etwaige Spezialadresse des Schreibens keinen restriktiven Einfluss (wie denn auch z. B. Benedikt XIV. in dem Breve Ad eradicandum erklärte, man habe verwegen geleugnet, daß die in den Lit. Apost. Suprema v. 7. Juli 1745 ausgesprochene Verdammung der Praxis, den complex im Beichtstuhl zu erfragen, die vis und auctoritas generalis definitionis et legis habe).
Der etwa weniger sichtbar vorhandene Mangel genereller Tendenz oder definitiver Formen wird aber oft dadurch ausgeglichen, daß solche Schreiben noch eigens auf Befehl des Papstes promulgiert oder zur Enzyklika gemacht werden (wie es z. B. mit der epist. Dogm. Leonis I. ad Flavianum und in neuester Zeit mit Auszügen aus den früheren mannigfaltigen Akten Pius` IX. im Syllabus geschehen ist, nachdem in der gleichzeitigen Enzyklika gesagt worden war: Pluribus in vulgus editis Encyclicis Allocutionibus in Consistorio habitis, aliisque Apostolicis literis errores damnavimus… et universos catholicae ecclesiae filios etiam atque eiam monuimus. *) Daß hier die Allokutionen zwischen den Enzykliken und den apostolischen Briefen genannt oder vielmehr den Enzykliken gleich gestellt werden, weist darauf hin, daß jene ebenfalls als ein Medium zur Belehrung der ganzen Kirche angewandt und daher auch unter Umständen zur Promulgation oder Vollziehung eines Kathedralspruchs verwandt werden können, weil sie eben nicht als bloße Predigten oder Vorträge für die Kardinäle, sondern als Ansprachen an die ganze katholische Welt zu betrachten sind.
* Wir gaben apostolische Rundschreiben heraus, sprachen wiederholt im Konsistorium und verurteilten hier und in anderen apostolischen Briefen die hauptsächlichsten Irrtümer unserer überaus traurigen Zeit, riefen Eure hervorragende, bischöfliche Wachsamkeit auf und mahnten alle Uns so lieben Kinder der katholischen Kirche, sie sollten sich vor der Ansteckung dieser grässlichen Seuche in Acht nehmen und hüten.
4. Endlich kann der Papst ex cathedra sprechen durch die Bestätigung der Urteile anderer Tribunale: a) vor Allem der Urteile allgemeiner Konzilien, wo die Bestätigung naturgemäß immer und unter allen Umständen mit voller Wirkung intendiert ist; b) der Urteile von Partikular-Konzilien; hier muss indes die Bestätigung als eine positive, feierliche und volle (solemnis et plenissima) ausgesprochen sein; das ist so aber in der Wirklichkeit meistens nicht, da sie gewöhnlich nur als Akt der Oberaufsicht geübt wird; c) der Urteile der römischen Kongregationen; hier muss sie aber jedenfalls mit der formellen Anordnung der Promulgation jener Urteile verbunden sein, damit die Urteile nicht bloß vom Papst in ihrem inneren Wert gebilligt, sondern auch zu seinen eigenen gemacht und als von ihm ausgehend der Kirche vorgestellt werden. –
aus: Matthias Joseph Scheeben, Handbuch der katholischen Dogmatik, Bd. 1, 1927, S. 228 – S. 229