Magisterium des Papstes. – Innere Gründe (§. 100)
aus der Dogmatik von J. B. Heinrich
Überdies steht auch die Theorie Bossuets in bedenklicher Verwandtschaft zu jener Theorie der neuesten Häretiker, welche die Feststellung der katholischen Wahrheit nicht der feststehenden göttlichen Institution des kirchlichen Lehramtes, sondern der „Geschichte“ anvertraut wissen wollen.
Denn in der Tat, wenn der – in Wirklichkeit nicht vorhandene – Fall eines Liberius oder Honorius den Bossuet bestimmte, seine Theorie aufzustellen, warum sollte nicht Döllinger, die Theorie Bossuets bezüglich der Päpste adoptierend, dieselbe Theorie – im Hinblick auf Sirmium, auf Seleuca-Rimini, auf das Latrocinium von Ephesus – auch auf die allgemeinen Konzilien ausdehnen und, wie er und sein Anhang wirklich tut, behaupten:
wohl könne der Papst, wohl könne ein allgemeines Konzil, ohne den Papst und mit dem Papst, irrige und häretische Glaubensdefinitionen erlassen, ja es könne, wie gegenwärtig mit der Vatikanischen Definition der Fall sei, der gesamte Episkopat und die ganze katholische Kirche einer häretischen Definition zustimmen und die wahre Lehre nur in wenigen Auserwählten fortdauern, – allein unfehlbar werde über kurz oder lang die Geschichte, in deren Leitung eigentlich die göttliche Assistenz sich betätige, der Wahrheit, wieder zum Siege verhelfen und nur durch diese vollendete Tatsache sei dann die Wahrheit endgültig festgestellt?…
Als aber nun das Vatikanische Konzil wirklich mit moralischer Einmütigkeit gesprochen hatte, da schritt man zur Behauptung fort, dass auch ein allgemeines Konzil irren könne und nur der Konsens der gesamten Kirche entscheide.
Damit ging man auf die extremsten Theorien zur Zeit des Konstanzer Konzils und zur Lehre des Febronius zurück, dass nicht dem Papst und nicht dem Episkopat, sondern der Gesamtheit der Gläubigen die höchste kirchliche Gewalt und damit auch die entscheidende Lehrautorität zustehe. Da aber auch das gesamte gläubige Volk, wie der gesamte Klerus zum Papst und zu den Bischöfen und dem Vatikanischen Konzil stund, so blieb nur eine kleine Schar s.g. Gelehrter und Gebildeter als Träger der wahren Lehre und die Berufung an die Zukunft übrig, wo die „Geschichte“ durch die Weisheit dieser Gebildeten über den gegenwärtig die gesamte Kirche beherrschenden Wahn den Sieg verschaffen werde.
Konnte der Gallikanismus in derselben Zeit, wo er durch die Kirche verworfen wurde, durch die Dialektik der Tatsachen gründlicher widerlegt werden?
Nicht minder unwahr und verderblich, als dieses System selbst, sind die Argumente, welche man für dasselbe und gegen unser Dogma und dessen Deklaration durch das allgemeine Konzil vom Vatikan vorgebracht hat. Sie haben in allem Bisherigen ihre vollkommene Widerlegung gefunden; wir wollen sie daher nur kurz aufzählen:
1. „Das Vatikanum habe eine neue Lehre eingeführt“ – allein es hat die alte und allgemeine Lehre ausgesprochen und die allezeit von der Kirche bekämpften neuen Lehren der Gallikaner, Febronianer usw. verworfen.
2. „Die heilige Schrift und die Überlieferung des ersten Jahrtausends wisse nichts von unserem Dogma; erst im Mittelalter sei es durch Irrtum und Betrug allmählich aufgekommen, endlich sei das Werk der Lüge durch das Vatikanum vollendet und besiegelt worden“.
Diese Behauptung, die an jene Zeiten erinnert, wo man den Papst den Antichrist und die katholische Kirche Babylon nannte, enthält historisch , wie wir in dem Schrift- und Traditions-Beweis gezeigt haben, die größte Unwahrheit, theologisch aber die vollständige Leugnung der Indefektibilität und Infallibilität der Kirche überhaupt: denn wenn in ihr Irrtum und Trug bezüglich eines Fundamental-Punktes der Lehre und der göttlichen Verfassung der Kirche durch ein Jahrtausend herrschen und endlich ein allgemeines Konzil diesen Irrtum dogmatisch definieren konnte, dann ist die katholische Kirche nicht die wahre Kirche und ist es nie gewesen; dann ist auch dem katholischen Traditions-Prinzip, auf das sich die Gegner stützen wollen, sein ganzes Fundament, was eben in der Indefektibilität der Kirche und ihrer Lehre liegt, entzogen.
3. „Das Vatikanum stelle an die Stelle des katholischen Traditions-Prinzips die Lehrgewalt des Papstes.“ Dies ist eine Verwechslung der Glaubensquelle und entfernten Glaubensregel mit dem Glaubensrichter und der nächsten Glaubensregel. Schrift und Tradition sind Glaubensquelle und entfernte Glaubensregel; Papst und allgemeines Konzil aber sind Glaubensrichter und nächste Glaubensregel. Indem man aber die von Gott gesetzte lebendige Autorität leugnet und nur die entfernte und tote Regel der Schrift und Überlieferungs-Urkunden übrig behält, macht man sich selbst und seine „Wissenschaft“ zum Richter und zur nächsten Regel des Glaubens.
4. „Die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit unterwerfe die Lehre der Kirche und den Glauben der Christen der Willkür des Papstes, der fortan für Dogma erklären könne, was ihm beliebe.“ Allein auf dem Gebiet, über das die unfehlbare Lehrautorität der Kirche und des Papstes sich erstreckt, nämlich auf dem Gebiet der Glaubens- und Sittenlehre, ist jede Willkür absolut ausgeschlossen und der Papst, wie die Kirche, unbedingt und in jeder Beziehung an die in Schrift und Überlieferung enthaltene geoffenbarte Wahrheit gebunden – und gerade die göttliche Verheißung der Unfehlbarkeit gewährt die absolute Bürgschaft, dass, wie die Kirche, so der Papst, niemals in dogmatischen Entscheidungen von der Richtschnur dieser Wahrheit abweichen kann.
Damit fallen auch alle die törichten und böswilligen Behauptungen, dass die höchste und unfehlbare Lehrautorität des Papstes, welche keine andere als die der Kirche ist, die Rechte und die Interessen der weltlichen Obrigkeit, die bürgerliche Freiheit oder die rechtmäßige Freiheit der Wissenschaft beeinträchtige.
5. Durch das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit werde alles, was jemals Päpste gesprochen und geschrieben, verordnet und behauptet, zu Glaubenssätzen“ – während doch nur eine Kathedral-Entscheidung in ihrem dispositiven Teile eine Verpflichtung zum Glauben auferlegt, aber auch vermöge der Unfehlbarkeit die Gewähr in sich trägt, dass sie nichts anderes enthalte, als Christi Wort und Wahrheit.
6. „Das Dogma von der Unfehlbarkeit lege dem Papst göttliche Eigenschaften, insbesondere Allwissenheit bei, oder supponiere doch bei jeder Lehrentscheidung ein förmliches Wunder.“ –
Allein das Glaubensdepositum treu zu bewahren und richtig zu verstehen ist nichts, was die Kräfte der durch Gottes Gnade unterstützen menschlichen Vernunft übersteigt; jeder Bischof, jeder Christ kann und soll dieselbe Wahrheit treu und richtig verstehen. Nur darin besteht ein Unterschied, dass Gott zwar die Defekte Einzelner zulässt, dagegen eine Abweichung des Hauptes der Kirche und des mit ihm vereinigten Gesamt-Episkopats in einer gültigen Kathedral- oder Konziliar-Entscheidung um des Wohles und des Bestandes der ganzen Kirche willen nicht zulässt.
Das beruht aber nicht auf einem jedesmaligen eigentlichen Wunder, sondern auf einer ordentlichen Amtsgnade und überschreitet die Grenzen der regelmäßigen Ordnung der Gnade und Providenz nicht. Wohl aber ist die Unfehlbarkeit, wie der Kirche überhaupt, so insbesondere ihres Oberhauptes, etwas Übernatürliches. Daher stützt sich auch unser Glaube an die Unfehlbarkeit päpstlicher und überhaupt kirchlicher Lehrentscheidungen ganz und gar auf unseren Glauben an den durch Christi Wort der Kirche und ihrem Oberhaupt zugesicherten göttlichen Beistand. Dem entsprechend haben auch umgekehrt alle Einwände gegen unser Dogma, alle Zweifel bezüglich desselben ihren letzten Grund lediglich im Mangel an diesem Glauben…
7. Man hat endlich behauptet, „der unfehlbare Papst absorbiere alle Gewalten und Gnaden des Episkopats, des Konzils und der Gesamtkirche. Sei der Papst unfehlbar, so sei die Kirche und seien die allgemeinen Konzilien nicht mehr unfehlbar und letztere überflüssig geworden.“
Das gerade Gegenteil von allem dem ist wahr. Die Autorität des Papstes ist das von Gott gesetzte Fundament, wie der Einheit, so der Autorität des Episkopats, und die Unfehlbarkeit des Hauptes ist das Fundament der Unfehlbarkeit des ganzen Leibes der Kirche. Allein dadurch wird der Amtsgewalt und Amtsgnade, welche Gott den Bischöfen verliehen hat, wird der Indefektibilität des ganzen Leibes der Kirche und der unmittelbaren Wirksamkeit des heiligen Geistes auf alle Glieder dieses großen Organismus nicht das Mindeste entzogen.
Aber wie Gott die Ordnung, die er im äußeren Organismus der Kirche gesetzt hat, auch innerlich durch seinen Gnadenbeistand aufrecht erhält, so wirkt die Gnade und Vorsehung, wodurch Gott die ganze Kirche in der Einheit und Wahrheit erhält, in prinzipaler und zentraler Weise im Haupt und Mittelpunkt der Kirche. Daher ist auch bei jeder päpstlichen Kathedral-Entscheidung der vorausgehende, begleitende und nachfolgende Konsens der Kirche immer und notwendig vorhanden: denn allezeit stimmt die Kirche und ihr Episkopat in Glauben und Lehre notwendig mit ihrem Haupt überein; aber nicht dieser Konsens, sondern der Beistand Gottes ist der Grund der Unfehlbarkeit einer päpstlichen Kathedral-Entscheidung.
Daher sind auch die allgemeinen Konzilien durch die Deklaration der päpstlichen Unfehlbarkeit nicht überflüssig geworden, sondern sie sind geblieben, was sie immer waren: die höchste und vollkommenste Betätigung des kirchlichen Lehramtes – und gerade die Unfehlbarkeit des Papstes gibt die Bürgschaft dafür, dass deren Berufung niemals wird unterlassen werden, wo das Interesse des Glaubens es erfordert, wie wir dieses in dem Folgenden näher sehen werden. –
aus: J.B. Heinrich, Dogmatische Theologie, Bd. 2, 1876, S. 470 – S. 476
siehe auch den Beitrag: Die vermeintliche Lehrautorität der privaten Theologen
Bildquellen
- Joh._Baptist_Heinrich,_Mainz_JS: wikimedia