Kriterien der katholischen Tradition

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 Von den Kriterien der katholischen Tradition (§. 79)
aus der Dogmatik von J. B. Heinrich

I. Wenn die Kirche durch eine definitive Lehrentscheidung einen die Glaubens- oder die Sittenlehre betreffenden Satz für eine von Gott geoffenbarte Wahrheit erklärt hat, so steht es mit Glaubensgewissheit fest, daß diese Wahrheit auch wirklich in Schrift und Tradition begründet und deshalb explicite oder wenigstens implicite von Anfang an im geschriebenen oder ungeschriebenen Wort Gottes überliefert ist.

Im folgenden Kapitel werden wir ex professo betrachten, dass und inwieweit die vom Papst bestätigten Dekrete der allgemeinen Konzilien, sowie die päpstlichen Kathedral-Entscheidungen unfehlbar sind. Aber auch Dekrete von Partikular-Konzilien können, nicht aus sich, aber dadurch, dass die gesamte Kirche und insbesondere der apostolische Stuhl sie anerkennt und sich aneignet, die Kraft definitiver und unfehlbarer Entscheidungen erlangen. Unter den förmlichen dogmatischen Erklärungen der Kirche nehmen die von der höchsten kirchlichen Autorität aufgestellten oder rezipierten Glaubensbekenntnisse, in welchen die Kirche die Hauptglaubens-Wahrheiten kurz und prägnant zusammengefasst hat, eine hervorragende Stelle ein.

Was also durch Lehrentscheidungen und Bekenntnisse der Kirche förmlich deklariert und definiert ist, davon steht es von vornherein und unfehlbar fest, dass es in dem apostolischen Glaubensdepositum enthalten ist und bedarf es daher für den Gläubigen keines anderweitigen Schrift- und Traditionsbeweises, um ihn zum Glauben zu verpflichten und zu bestimmen, noch kann einer solchen Glaubensentscheidung ohne Häresie der Glaube unter dem Vorwand versagt werden, dass die also definierte Wahrheit in Schrift und Tradition nicht begründet sei oder gar mit Schrift und Tradition im Widerspruch stehe.

Übrigens konstatiert jede kirchliche Lehrentscheidung die katholische Tradition in doppelter Beziehung. Sie ist nämlich

1. das göttlich unfehlbare und das zugleich vernünftig glaubwürdigste Zeugnis der ihr vorangehenden und gleichzeitigen Tradition der Kirche: denn nie und nimmer definiert die Kirche etwas und kann sie – gerade wegen ihrer Unfehlbarkeit – etwas definieren, was nicht in der katholischen Überlieferung begründet ist. Deshalb ist die theologische Wissenschaft im Stande, letzteres auch nachzuweisen und alle von den Häretikern dagegen erhobenen Einwände zu widerlegen.

2. Jede kirchliche Lehrentscheidung hat aber auch eine neue Manifestation und Befestigung der katholischen Tradition zur Folge. Denn wenn vor dieser Entscheidung etwa noch Schwankungen oder Dunkelheiten in der oben näher angegebenen Weise vorhanden waren, so werden sie durch die Entscheidung der Kirche beseitigt, indem alle Hirten und Gläubigen derselben aus ganzem Herzen zustimmen. Diese allgemeine Zustimmung offenbart aber nicht nur, dass diese Entscheidung dem allgemeinen Glaubensbewusstsein entspricht, sondern sie ist auch eine sichtbare Wirkung des in der Kirche waltenden heiligen Geistes, welcher, sowie er die Kirche in ihrer Entscheidung leitet, auch in den Herzen der Gläubigen, ihre Hirten eingeschlossen, diese einmütige Zustimmung bewirkt, die keineswegs aus natürlichen Ursachen sich genügend erklären lässt.

II. Allein die Kirche bezeugt die von den Aposteln her überlieferte geoffenbarte Wahrheit nicht lediglich durch ihre förmlichen Lehrentscheidungen, sondern auch durch die ordentliche Tätigkeit ihres Lehramtes und den dieser Lehre entsprechenden allgemeinen Glauben des katholischen Volkes.

Dieses hat gewissen modernen Irrtümern gegenüber das Vatikanum ausdrücklich ausgesprochen (Decr. De fide, c. 3, alin. 4); das ist aber auch von Anfang an unbestrittene Lehre der Kirche, die so selbstverständlich aus der Natur der Dinge sich ergibt, dass es fast unbegreiflich scheint, wie sie in der neueren Zeit angezweifelt werden konnte.

Man hat nämlich in neuerer Zeit, um der Vernunft und Wissenschaft, wie man meinte, möglichste Freiheit zu verschaffen, die Behauptung aufgestellt, der katholische Christ sei nur dasjenige zu glauben verpflichtet, was durch definitive und förmliche Glaubens-Entscheidungen allgemeiner Konzilien definiert sei; in allem anderen habe er unbeschränkte Freiheit.

Man bedachte nicht, dass dann die ersten Christen in der Zeit vor dem ersten allgemeinen Konzil eben gar nichts hätten glauben müssen; dass man bis zum Ephesinum und Chalcedonense die Inkarnation, bis zum vierten Laterankonzil die Transsubstantiation, bis zum Tridentinum die Notwendigkeit der guten Werke zum Heil und das heilige Messopfer habe leugnen können, ohne aufzuhören, ein guter Katholik zu sein. Das sind Absurditäten, die einer Widerlegung nicht wert sind.

Die förmlichen Lehrentscheidungen sind nur außerordentliche Äußerungen des kirchlichen Lehramtes, welche in der Regel nur im Falle dringender Notwendigkeit, gefährlichen und bedeutenden Häresien gegenüber, bei größeren Glaubens-Streitigkeiten oder aus anderen ungewöhnlichen Anlässen eintreten. Es können Jahrhunderte verlaufen, ohne daß solche Entscheidungen erlassen oder gar allgemeine Konzilien gehalten werden. Die Kirche ist aber nicht nur in jenen seltenen Momenten, sie ist allezeit und in jedem Moment die unfehlbare Hüterin und Lehrerin des apostolischen Glaubensdepositums, die Säule und Grundfeste der Wahrheit. Sie ist keineswegs nur in der Übung ihres Richteramtes bei Glaubens-Streitigkeiten unfehlbar, sie ist es auch im Frieden und in der regelmäßigen Übung ihres ordentlichen Lehramtes.

Nicht erst durch jene richterlichen Entscheidungen wird der Glaubensstand der Kirche festgestellt; er steht fest von Anfang an und allezeit durch die Lehre und den Glauben der Kirche. Ja ohne die vor jeder Glaubens-Entscheidung feststehende Tradition des ordentlichen Lehramtes und des allgemeinen Glaubens könnte eine Glaubens-Entscheidung gar nicht erfolgen, die ja eben darin besteht, dass der allezeit bestehende Glaube gegen unrechtmäßige Angriffe verteidigt und dass Neuerungen gegenüber schärfer und klarer ausgesprochen wird, was die Kirche von jeher geglaubt und gelehrt hat.

Allein wenn wir einerseits festhalten müssen, dass die von den Aposteln her überlieferte göttliche Wahrheit nicht nur aus den außerordentlichen Lehrentscheidungen, sondern auch aus der ordentlichen Lehre und dem allgemeinen Glauben der Kirche für uns mit Glaubens-Gewissheit erhellt, so müssen wir andererseits die Unterschiede beachten, welche zwischen dieser ordentlichen und jener außerordentlichen Form der kirchlichen Lehrbezeugung und Lehrdeklaration bestehen. –
aus: J.B. Heinrich, Dogmatische Theologie, Bd. 2, 1876, S. 58 – S. 62

siehe auch den Beitrag: Zur Frage der Autorität der päpstlichen Ansprachen

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