Maria – Das Gesicht des Königs Salomon
„Wer ist die, die da hervor kommt wie die aufsteigende Morgenröte, schön wie der Mond, auserkoren wie die Sonne, furchtbar wie ein geordnetes Kriegsheer?“ (Hohel. 6,9)
König Salomon hatte einmal ein seltsames Gesicht; ihm war, als stehe er auf einer Anhöhe und schaue hinaus in die tiefe, unheimliche Nacht; da begann es gegen Osten zu tagen; immer lichter ward es in der Ferne, plötzlich stieg die Morgenröte herauf und im Morgenrot eine königliche Jungfrau, den Mond zu ihren Füßen, von der Sonne umgürtet, eine Krone von zwölf Sternen auf dem Haupte. Ein solches Jungfrauen-Bildnis aber, wundervoll in die Rosenfarben als Morgenrot gekleidet, hatte selbst König Salomon noch nicht gesehen. Daher rief er voll Entzücken aus: Wer ist sie, die da aufsteigt wie die Morgenröte, schön wie der Mond, auserlesen wie die Sonne, furchtbar wie ein geordnetes Kriegsheer? – Er nennt sie nicht, aber wir, die wir im Christentum leben, kennen sie alle, sie ist es, zu welcher der Dichter also singt und betet:
Schön sind zwar die Morgenstunden,
Wenn die Nacht dahin geschwunden
Und die holde Morgenröt`-
Da in ihrer Schönheit steht:
Schöner bist du aufgegangen,
O du aller Welt Verlangen,
Du, des Himmels Königin.
Maria, unsre Schützerin!
Denn also sagt Papst Innozenz III. zu dem Ausruf Salomons: Der Mond leuchtet in der Nacht, die Morgenröte in der Morgendämmerung und die Sonne am Tage. Die Nacht bedeutet die Schuld, die Morgendämmerung die Buße, der Tag die Gnade. Wer also in der Nacht der Schuld danieder liegt, der blicke auf zum Mond, der flehe zu Maria, daß sie ihm durch ihren Sohn zur Zerknirschung seines Herzens, zur Morgendämmerung der Buße leuchte. Wer aber schon bis zur Morgendämmerung der Buße gelangt, der blicke auf zur Morgenröte und flehe zu Maria, daß sie ihm durch ihren Sohn zur Genugtuung und zum Tag der Gnade leuchte. Weil aber das Leben des Menschen auf Erden ein Kampf ist, so blicke wer immer einen Angriff von den Feinden seines Heiles erfährt, sei es von der Welt, sei es vom Fleische, sei es vom bösen Geist, auf zum wohl geordneten Kriegsheer, er flehe zu Maria, daß sie ihm durch ihren Sohn Hilfe sende von dem Heiligtum und ihn beschütze von Sion aus.
Aber nun seht, ein jeder Muttergottes-Festtag ist solch eine Anhöhe, auf die uns unsere heilige katholische Kirche im Glauben hinauf führt, um uns die liebe Mutter Gottes zu zeigen. Daher sollten wir an solchen Festtagen es nie versäumen, der lieben Mutter Gottes mit Innigkeit zu gedenken und uns ihr mit Leib und Seele für Zeit und Ewigkeit zu empfehlen. An keinem Fest aber erscheint uns Maria so herrlich und schön, so hehr und groß, als am Fest ihrer Unbefleckten Empfängnis. Daher will ich euch in kurzen Worten sagen, wie sie sich uns denn an diesem Fest zeigt.
Kurz, aber erhaben ist ihr Bericht, den die heilige Urkunde Gottes über die Erschaffung der Welt enthält. Er lautet: Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; aber die Erde war wüst und leer, Finsternis war über dem Abgrund, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Da sprach Gott: es werde Licht. Das war aber ein Wort, das Allmacht, Weisheit und Güte in sich barg. Darum fuhr es mit Schöpfer kraft zeugend und schaffend durch das ganze Weltall und strahlte in den Himmelshallen in tausend Sonnen, glänzte in tausend Monden und sprühte Funken in Millionen Sternen. Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht.
Die böseste Stunde für die Erde aber war jene, wo die erste Sünde auf ihr begangen wurde: durch die Schuld ward die Erde wieder wüst und leer, ward sie wieder ein Abgrund, über dem Finsternis schwebte, Finsternis, so groß, daß die Menschen jahrtausendelang auf der Erde herum tappten, mit Augen, ohne zu sehen, mit Ohren, ohne zu hören, mit Herzen, ohne zu fühlen, was ihnen zum Heil, was ihnen zum Frieden diente.
Es war darum ein neuer Schöpfungstag nötig, um abermals Licht zu schaffen und die Finsternis zu verdrängen. Dieser Tag aber ist jener, an dem Gott Maria erschuf. Zum zweiten Male sprach er das Wort: Es werde Licht. Diesmal aber schloß es nicht bloß Allmacht, nicht bloß Weisheit und Güte, diesmal schloß es Gottes unendliche Barmherzigkeit in sich. Darum ist denn auch an dem Licht, das er schuf, alles barmherzig, jeder Strahl ist barmherzig, jedes Leuchten ist barmherzig, das ganze Licht ist das Licht der Barmherzigkeit. Der Name dieses Lichtes aber heißt Maria. Begreiflich also, als der dreieinige Gott in seiner Erbarmung das Wort gesprochen: Es werde Maria, da durchzuckte es das ganze Weltall: Maria! Es fuhr dieser Name als Losungswort durch die Himmelshallen: Maria! Und aus allen Fernen hallte es in tausendstimmigem Echo zurück: Maria! Aber nirgends wurde es mit größerem Jubel vernommen und begrüßt als auf der Erde. Daher ist es von da aller Guten Losungswort geblieben und wird es bleiben, solange ein katholisches Herz auf Erden schlägt; denn dieses wird immer beten:
Ave Maria – Gegrüßet seist du, Maria!
Was wäre doch aber das, wenn diesem Licht, das Gottes Barmherzigkeit geschaffen, um die Finsternis zu verdrängen, selbst die Finsternis anklebte, Schuld Schuld und Sünde anhinge! Nein, nein, das kann nicht sein; der Tadel fiele auf den Schöpfer selbst zurück, die Finsternis würde mit Recht spotten und sagen: Er wollte ein Licht schaffen, um die Finsternis zu verdrängen, und siehe da, es gelang ihm nicht. Maria ist also ohne Sünde, ohne Schuld, ohne Makel erschaffen, ist unbefleckt empfangen! –
aus: Philipp Hammer, Marien-Predigten, 1909, S. 39 – S. 40