Luther der erste Patriarch der Revolution
Ähnlich wie in Frankreich kommen auch in Italien, Spanien und Portugal die Revolutionen zum großen Teil auf Rechnung der Freimaurer. Freimaurer, Carbonari, waren es, welche die legitimen Throne in Italien stürzten, welche besonders den Mittelpunkt der katholischen Kirche, den Statthalter Christi, seiner materiellen Grundlage durch Annektierung des Kirchen-Staates beraubten. Freimaurer waren es, welche, wie in Frankreich, so auch in Spanien und Portugal, den Jesuiten-Orden unterdrückten und hierdurch die Erziehung der höheren Klassen der männlichen Bevölkerung in liberale, in revolutionäre Bahnen lenkten und den alten, christlich konservativen Geist auszurotten suchten.
Pfarrer H.: Aber die katholische Kirche hätte doch die Freimaurerei nicht aufkommen lassen sollen!
P. Bruno: Sagen Sie lieber: Die katholische Kirche hätte das Luthertum nicht aufkommen lassen sollen.
Pfarrer H.: Das Luthertum ist gegen den Willen Roms entstanden.
P. Bruno: Und so auch die Freimaurerei.
Mein lieber Herr Pfarrer! Der Mensch besitzt seine Freiheit, und er kann dieselbe ebenso zum Bösen wie zum Guten verwenden. Das gilt auch innerhalb der katholischen Kirche. Die Kirche kann den Missbrauch der Freiheit zu hindern suchen, wie sie es getan hat, sowohl den Freimaurern gegenüber wie gegenüber den Neueren des 16. Jahrhunderts. Doch wie Gott die Irrlehren und Sekten zuläßt, so muss auch die Kirche hier Vieles zulassen. Sie konnte den Abfall Luthers, Calvins und Heinrichs VIII. nicht hindern. Sie konnte ebenso wenig hindern, daß der Geist der Auflehnung, für welchen Luther bahnbrechend war, auch die übrigen Länder ergriff. In Frankreich kamen die Hugenotten-Kriege. Dann folgten die Jansenisten. Dieselben waren im Grunde versteckte Kalvinisten, suchten aber mit der größten Perfidie äußerlich als Katholiken zu gelten, so daß sie wie ein heimlich schleichendes Gift die Gesundheit der katholischen Kirche schädigten. Die Päpste hatten alle Mühe, dieselben aus der Kirche hinaus zu werfen und auch äußerlich als Häretiker hinzustellen. Es kamen dann die ungläubigen Philosophen, die Enzyklopädisten, und in deren Gefolge die ungläubige und sittenlose französische Literatur, welche Frankreich in entsetzlicher Weise entchristlichten. Alles das kommt aber ebenso wenig auf die Rechnung der katholischen Kirche, wie das Werk eines Heinrich VIII., eines Calvin oder eines Luther.
Pfarrer H.: Auf wessen Rechnung kommt es denn?
P. Bruno: Auf Rechnung Jener, welche sich offen oder heimlich von der Kirche lossagten. Eine Hauptverantwortung aber für alle Revolutionen, welche seit dem 16. Jahrhundert die verschiedenen christlichen Länder durchziehen, scheint mir Luther zu tragen.
Pfarrer H.: Luther?
P. Bruno: Ja! Luther. Denn ihn halte ich für den ersten Patriarchen der Revolution; ihm gebührt ein hervorragender Anteil daran, daß die neuere Geschichte der christlichen Völker so revolutionäre Bahnen durchläuft…
In Luther aber muss ich notgedrungen einen Revolutionär vom reinsten Wasser erblicken. Aber wohlgemerkt: ich spreche vom wirklichen Luther, nicht von jenem Mythenbilde Luthers, welches Sie Protestanten sich zusammen gefabelt haben, und dem Sie eine Art religiöser oder doch jedenfalls sehr starker nationaler Verehrung zollen.
Pfarrer H.: In welchem Sinne halten Sie denn Luther für einen Revolutionär?
P. Bruno: Unter verschiedenen Gesichtspunkten…
Luther war Revolutionär zunächst, weil das Hauptwerk seines Lebens, die sogenannte Reformation, den juristischen Charakter der Revolution an sich trug.
Revolution und Reformation sind zwei verwandte Begriffe. Sie haben gemeinsam, daß sie eine Änderung in den öffentlichen Zuständen herbeiführen. Sie unterschieden sich durch die Art, wie diese Änderung bewirkt wird. Bei der Reformation geschieht diese Änderung durch die rechtmäßige Obrigkeit. Bei der Revolution geschieht sie durch Unberufene.
Handelte nun Luther, da er die sogen. Reformation ins Werk setzte, als Inhaber einer berufenen öffentlichen Gewalt oder als Unberufener?
… Ich unterscheide zwei Arten von Missständen: Missstände im Glauben und Missstände in der kirchlichen Disziplin. Zu den letzteren würde ich z. B. rechnen, wenn das Ablasswesen oder sonstige kirchliche Einrichtungen in unlauterer weise zum Gelderwerb mißbraucht würden. Ich führe das Beispiel an, weil Sie Protestanten so gern auf derartige Missbräuche sich berufen. Ich lasse es aber dahin gestellt, ob und in wieweit dieselben im 16. Jahrhundert wirklich vorhanden gewesen sind. Gesetzt nun, sie wären vorhanden gewesen, so konnten doch solche Missbräuche das revolutionäre Auftreten Luthers nicht rechtfertigen. Denn Luther wurde in keiner Weise gezwungen, an diesen angeblichen Missbräuchen sich zu beteiligen: und ebenso wenig wurden es andere Christen; sie konnten die Missbräuche Missbräuche sein lassen und für sich ein christliches Leben führen. Diese Missbräuche in der Disziplin könnten also das Auftreten Luthers nicht berechtigt erscheinen lassen.
Viel größeren Schein der Berechtigung hätten dagegen die Missstände in Glaubenssachen geboten. Auf sie berief sich daher Luther, indem er die angeblichen Irrtümer der Rechtfertigungslehre als Grund seines Vorgehens angab. Aber diese Irrtümer existierten nur in der Einbildung Luthers. In Wahrheit war und ist die katholische Rechtfertigungslehre durchaus vernünftig und schriftgemäß. Luther dagegen hat in dieser Lehre Irrtümer aufgebracht, z. B., daß man des erlangten eigenen Heils absolut gewiß sein müsse. Missstände in Glaubenssachen konnten also das Vorgehen Luthers ebenso wenig rechtfertigen…
Pfarrer H.: Nun, Herr Pater, wenn Sie die Sache auf die juristische Schneide stellen, dann muss ich allerdings den revolutionären Charakter unseres Reformations-Werkes zugeben. Aber praktisch genommen unterscheidet sich das vorgehen Luthers doch gewaltig von dem Verfahren der Revolutions-Männer.
P. Bruno: Einen erheblichen Unterschied sehe ich nicht. Die französischen Revolutions-Helden brachten das Staats-Oberhaupt auf das Schafott. Das tat Luther allerdings nicht. Aber bezüglich des Kirchen-Oberhauptes schrieb er: „Darnach sollte man ihn selbst, den Papst, Kardinäle und was seiner Abgötterei und päpstlichen Heiligkeit Gesinde ist, nehmen und ihnen als Gotteslästerer die Zungen hinten zum Hals heraus reißen und an den Galgen annageln an der Reihe her.“ (Erlanger Ausgabe 1830, Bd. 26, S. 155) Ferner: „So wir Diebe mit Strang, Mörder mit Schwert, Ketzer mit Feuer strafen, warum greifen wir nicht vielmehr diese schädlichen Lehrer des Verderbens, diese Kardinäle, diese Päpste, Bischöfe und das ganze Geschwürm der Römischen Sodoma, mit allen Arten von Waffen an und waschen unsere Hände in ihrem Blut, als die wir beide uns und unsere Nachkommen aus dem aller größten und aller gefährlichsten Feuer gern wollten erretten.“ (Opera lat. Varii arg. ed. Erlang. Cur. H. Schmidt 1865, II. p. 107). -Und an Spalatin schreibt Luther: „Ich beschwöre Dich, wenn Du richtig vom Evangelium denkt, so glaube doch nicht, daß die Sache könne getrieben werden ohne Tumult, Skandal und Aufruhr“ (de Wette, Briefe Luthers, Band 1, Berlin 1825, S. 417).
Was wollen Sie mehr, als dieses Selbstgeständnis des „Aufruhrs“? Wenn die französischen Revolutionäre ihren König als „Bürger Louis Capet“ bezeichneten, so nannte Luther den Statthalter Christi einen „Rattenkönig“, „Papstesel“, „Teufelskopf“, „den höllischen Vater zu Rom“, den „Antichrist“…
So war Luther ein Revolutionär auf kirchlichem Gebiet. Um wie viel heiliger und höher aber die geistliche Ordnung da steht, als die weltliche, so viel verbrecherischer und verderblicher ist es, in jener, als in dieser Revolution anzustiften. –
aus: Ludwig von Hammerstein SJ, Begründung des Glaubens, 1896, S. 137-143