Der Protestantismus in seiner Inkonsequenz

Der Protestantismus in seiner Entwicklung

1. Teil: Der Protestantismus in seiner Inkonsequenz

Der Protestantismus wäre in der Geburt gestorben, wenn er Konsequenz gehabt hätte. Das ist das Los des Irrtums. Er ist der Tod, weil er die Verneinung der Wahrheit ist, die Verneinung dessen, was Dasein hat, und dessen, was Dasein gibt, des Lebens. Um zu verstehen, ist also der Irrtum gezwungen, zu derselben Zeit, wo er die Wahrheit verwirft, einen Teil Wahrheit zu behalten oder wieder aufzunehmen. Das ist ohne Zweifel inkonsequent; aber die Fortdauer des Irrtums ist nur dadurch möglich; die Logik, welche die Wahrheit bewährt, tötet den Irrtum.

Der Protestantismus in seiner Inkonsequenz: Lucas Cranach der Ältere: Porträt Martin Luthers (1529)

So musste eigentlich, als Luther das Prinzip der freien Forschung proklamierte, der Protestantismus unverzüglich an der freien Forschung sterben. Was tat aber Luther? Er nahm die Wahrheit derselben Autorität, welche er verworfen hatte, wieder auf; nur ersetzte er die viel hundertjährige, weltumfassende Autorität der Kirche durch seine persönliche Autorität oder vielmehr Tyrannei und durch die Tyrannei des Landesfürsten in Sachen des Glaubens. Man sah die Völker, welche er eben des geheiligten Joches der Kirche entbunden hatte, das Haupt hinstrecken unter das Joch eines Laienpapstes, gewärtigend, was der Fürst befehlen werde von wegen des Abendmahls.

Man hörte denselben Mund, welcher die Freiheit der Forschung gegen die Autorität der Kirche angerufen hatte, Reden führen, wie folgende: „Ich will meine Lehre weder dem Papst, noch dem Kaiser, ja auch keinem Engel vom Himmel zu urteilen unterwerfen, sondern weil ich derselben gewiss bin, so will ich durch dieselbe Richter sein nicht allein der Menschen, sondern auch aller Engel, also dass ein jeder, der meine Lehre nicht annimmt, der ist verdammt. (Erklärung des Br. a. d. Gal. c. 2. Wittenb. Ausg. t.4) Mein Wort ist Christi Wort, mein Mund ist Christi Mund.“ (Tom. 2. Jen germ. Fol. 49, 6 N. Fol. 68, 6. Tom. 2. Witt. Germ. Fol. 60,6)

Welch ein Unsinn! Mag man sagen, welch ein Wahnsinn! – Ohne Zweifel; aber der Mensch muss leben. Protestantische Sekten von rascherer Konsequenz wollten aus dem Prinzip der freien Forschung die Folgerungen ziehen; sie warfen sich auf Raub und Verheerung, und badeten sich im Blut. Ein Vorspiel von drei Jahrhunderten, stellten sie den Sozialismus dar. Der Protestantismus, der ihnen eben das Leben gegeben, wandte sich gegen sie und erstickte sie. Er selbst, hochwürdig, hielt sich aufrecht in seiner Inkonsequenz und durch seine Inkonsequenz.

Aber nichts desto weniger trug er in sich einen Zerstörungskeim, welchen die natürliche Logik, deren Wirksamkeit man verzögern, aber nie unterdrücken kann, unfehlbar in ihm und um ihn in der Welt entwickeln musste. Abgerissen von der Autorität der Kirche, die uns in sich festet, wie sie selbst in Gott gefestet ist, konnte er auf den glatten Höhen der übernatürlichen Ordnung sich nicht halten; seine Richtung führte ihn abwärts der Eben des von ihm selbst aufgestellten Gesetzes zu, des Gesetzes der bloßen Vernunft.

Die schauderhafte Lehre des Calvinismus

Johannes Calvin (anonymer Künstler um 1540)

In diesem Sinne war der Calvinismus ein Fortschritt aus dem Luthertum. Dieses hatte, das Lehramt der Kirche abwerfend, das Sakrament behalten. Den Lehrstuhl der alten Kirche hatte es zerbrochen, aber ihren Altar hatte es in Ehren gehalten; den Glauben an die wahrhafte Gegenwart Jesu Christi in dem Altarsakrament hatte es bewahrt, nicht in der Messe freilich, welche die katholische Kirche vorzeichnet, aber es hatte ihn doch bewahrt, und dadurch hatte es das rührendste Pfand der Menschwerdung des Gottes bewahrt, der, um uns durch sein Opfer loszukaufen und zu nähren, vom Himmel herab gestiegen ist.

Calvin verwarf dieses Pfand der göttlichen Liebe; er unterdrückte Jesus Christus im Sakrament, wie Luther in dem Lehramt unterdrückt hatte, und somit zerriss er den Bund der Herzen, wie Luther das Band der Geister zerrissen.

Noch mehr; er schied alle in zwei Klassen, indem er weiter noch, als Luther es getan, die Lehre von der absoluten Vorherbestimmung ausdehnte, welche, wie wir sehen werden, dem Protestantismus eigen ist, und gemäß welcher die einen unfehlbar selig, die anderen unfehlbar verdammt werden, gleichviel, von welcher Art die Werke der einen und der anderen seien; der eine Teil wird selig, obgleich mit Lastern und Verbrechen beladen; der andere verdammt, obgleich mit Tugenden gekrönt, einzig, weil es – Gott so beliebt, der nach seinem Gutdünken, man möchte sagen – nach seiner Laune, die Sünden anrechnet oder nicht anrechnet, und auf keine Verdienste sieht, da der ohnehin nicht frei, und folglich für seine Handlungen nicht verantwortlich ist.

Diese schauderhafte Lehre, welche Gott der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, den Menschen der Freiheit und der Hoffnung beraubt, zerriß alle religiösen und moralischen Bande, durch die der Mensch mit Gott, und der Mensch mit dem Menschen vereint wird, und rechtfertigte im Voraus jenen Schrei der Hölle, den zu vernehmen unserem Jahrhundert vorbehalten war: Gott ist das Böse!

Die Zerrüttung der Gesellschaft durch diese Lehre

Man denke, welch eine Zerrüttung diese Lehre in die Gesellschaft bringen musste, weil sie ihr nicht allein den göttlichen Herd der Liebe entzog, der in der Ungleichheit der Verhältnisse die Menschen vereinigt, sondern auch dieser Ungleichheit in der göttlichen Ordnung einen unabänderlichen, unerbittlichen, empörenden Charakter gab, indem sie ihr den Grund des Verdienstes und den Trost der Hoffnung entzog! Die Willkür des Menschen fand nun in der Willkür Gottes eine Sanktion.

Glücklicher Weise hatte Calvin eine Wahrheit bestehen lassen, die gegen dieses Glaubens-Ungeheuer beredten Einspruch erhob, und über allen Häuptern und über allen Herzen ein Zeichen der Einheit, der Liebe, der Barmherzigkeit und der Hoffnung aufrecht hielt: Jesus Christus, am Kreuze gestorben für das Heil der Menschen, und für sie der Gerechtigkeit Gottes, seines Vaters, genugtuend durch den Wert, welchen seine Gottheit den Leiden seiner Menschheit gab, d. h. nach dem schönen Wort des heiligen Paulus: Gott war in Christo, die Welt sich versöhnend. Deus erat in Chrsto, mundum reconcilians sibi (2. Kor. 5,19).

Aber der Protestantismus konnte da nicht stille stehen. Getrieben von der logischen Konsequenz seines Prinzips der Auslegung der übernatürlichen Wahrheit durch die natürliche Vernunft, was man die Kunst der Glaubens-Abschälung, der Entglaubung nennen könnte, musste er, wie sehr er auch sich anstrengte, um auf dem Abhang sich zu halten, einen Schritt weiter gehen.

Das Aufkommen des Sozianismus

Der Sozianismus erschien, die Gottheit Jesu Christi leugnend; der Protestantismus trat einen Augenblick zurück vor seinem Erzeugnis, und der Calvinist Jurieu donnerte gegen diese Religion des ebenen Bodens, welche alle Höhen abflacht. Der Irrtum merkte, dass der ihm gebliebene Wahrheitsteil ihm entrissen worden, dass sein Leben davon gehe; er wollte es fest halten, wollte Reaktionär und Konservativer werden. Vergebene Mühe!

Die Logik war ihm über den Kopf gewachsen; und der Protestantismus musste vom Calvinismus zum Sozinianismus übergehen, wie er vom Luthertum zum Calvinismus übergegangen war. Auf den Vorwurf der Verwegenheit, welchen ihre Vormänner ihnen machten, bedienten sich die Sozinianer derselben Einwendungen, welche die Calvinisten selbst gegen die wahrhafte Gegenwart, und die Lutherischen gegen die Transsubstantiation sich erlaubt hatten. Wenn diese sich einfallen ließen, auf die alte Überlieferung sich zu berufen, so fragten die Sozinianer sie spöttisch, ob sie wieder Papisten geworden seien.

Übrigens erwiese man den Anhängern Luthers und Calvins zu viel Ehre, glaubte man, sie selbst seien sehr fest gewesen auf der Glaubensstufe, auf der sie sie sich zu halten schienen, und von der herab sie gegen die Sozinianer ihre Bannstrahle schleuderten.

Im Grunde war durch den Protestantismus, vermöge seiner Trennung von der Kirche, der Gesamtglaube, selbst der an die Gottheit Christi, getroffen. Wie ein durchweichtes Erdreich, welches in der Überschwemmung sich noch zu halten scheint, aber, innerlich bereits zersetzt, der weiteren und völligen Zersetzung entgegen geht, so ging das ganze Erbgut des christlichen Glaubens. Getränkt, wenn ich so sagen darf, von der freien Forschung, seit dem Ursprung des Protestantismus der Zerstörung entgegen; mit leichter Mühe ließe sich Sozinianismus schon in Luther finden. –
aus: August Nicolas, Über das Verhältnis des Protestantismus und sämmtlicher Häresien zu dem Socialismus, 1853, S. 119 – S. 122

Fortsetzung 2. Teil Die Weiterentwicklung des Protestantismus

Zu Sozinianismus siehe auch den Beitrag auf katholischglauben.online: Veränderung der Liturgie durch die Häretiker

Bildquellen

  • Lucas_Cranach_d.Ä._(Werkst.)_-_Porträt_des_Martin_Luther_(Lutherhaus_Wittenberg): wikimedia
  • John_Calvin_01: wikimedia

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