Ihre Kinder sollen sie lieben

Das Königliche Gebot

Die Kinder – „Ihre Kinder sollen sie lieben.“ (Tit. 24)

Aus der Bibel, aus alten Volksliedern aller Zungen, aus allen Literaturen erklingt der Lobpreis der Mutterliebe und der Vatertreue, und doch ist sie nicht in allen Vater- und Mutterherzen zu Hause. Wenn auch Rabenväter und Rabenmütter eine Seltenheit sind, so trägt doch häufig das, was sich als Elternliebe bezeichnet, den heiligen, himmlischen Namen der Liebe mit Unrecht. Echte Elternliebe, heilige Vater- und Muttergüte muss eben auch erst wie alles Große und Edle in der Welt erlernt und errungen werden, wenngleich ein Anfang derselben in jedes Vater- und Mutterherz von der Natur hinein gelegt ist.

Daß Eltern ihre Kinder mit wahrer Liebe lieben „wie sich selbst“, das verlangt schon ihr eigenes Ich. Die Kinder sind ein Stück dieses Ich. Sie sind in gewissem Sinn auch die Zukunft dieses Ich. Die Kinder sind es, die den Namen und mehr als den Namen der Eltern in dieser Welt der Vergänglichkeit weiter erhalten. Sie vor allen andern bewahren die äußere Erscheinung, die äußeren Züge und Vorzüge der Eltern und ebenso ihre seelischen Tugenden, ihre geistige Gaben, ihre Charaktergröße, ihre Gemütsanlagen; und so sind sie das in dieser Welt weiterlebende Ich der Eltern. Die Liebe zum eigenen Ich muss so von selber als Liebe zu den Kindern wieder erscheinen.

Zusammen mit diesem meist nur unbewusst sich regenden Interesse des eigenen Ich mahnt zur wahren Elternliebe auch das ebenso meist unbewusst sich geltend machende Interesse der Menschheit. Auch von den Vätern gilt, was Smiles einmal von den Müttern sagte: „Die Mutterliebe ist die sichtbare Vorsehung unseres Geschlechts“ Die Liebe von Mann und Frau ist die Schöpferin der Völker und der ganzen Menschheit; die Liebe von Vater und Mutter aber ist die Vorsehung, ohne die alle Schöpfung der ehelichen Liebe nicht bestehen könnte, und zwar ist nicht das bloße Dasein von Mutter und Vater diese Vorsehung unsres Geschlechts, sondern, wie Smiles ganz richtig sagt, die Mutterliebe. Das kleine Wesen – es ist das eine Eigentümlichkeit des Menschen, die seine Verwandtschaft mit der ewigen Liebe ahnen lässt – muss seinen Lebensanfang in einer Atmosphäre von Liebe verbringen so warm und sonnig, wie es sie später nirgends mehr im Leben haben kann. Ohne diese Liebe, ohne diese warme, feste Hand von Vater und Mutter wird das Kind entweder versteinern oder verweichlichen. Als von Napoleon I. einmal eine Frau gefragt wurde, warum in Frankreich die Erziehung so schlechte Früchte trage, antwortete sie: „Sire, es fehlt an Müttern!“ Sie hätte wohl auch sagen können: es fehlt an echter Mutterliebe.

Es gibt aber noch ein höheres Interesse als das des eigenen Ich und das des eigenen Volks und Geschlechts, was die Eltern ihre Kinder lieben heißt: das Interesse Gottes. Wie es des Schöpfers heiliger Wille ist, daß das Amselpaar die kleinen, nackten Jungen mit aller Hingabe atzt und schützt und flügge macht, so ist es noch mehr Gottes Wille, daß menschliche Eltern ihr Kind mit warmer Liebe hegen und hüten. Das Kind ist mehr als ein junges Vöglein, es ist nicht nur Gottes Kreatur, sondern Gottes Ebenbild und Gottes Kind, ein Wesen mit einer unsterblichen, zum ewigen Lob Gottes erschaffenen, mit Gottes Tod erlösten Seele.

Ohne die Liebe der Eltern geht Gottes Liebling verloren.

So ist jeder Mangel an wahrer Elternliebe nicht nur eine Sünde gegen das eigene Wesen und gegen die Menschheit, sondern auch eine Sünde gegen Gottes Herz. Vater und Mutter sind Gottes Stellvertreter und Verwalter eines Gottesgutes; in Vater und Mutter muss echte, innige Liebe sein, so wahr in Gottes Herz echte, heilige Liebe ist. Die Elternliebe muss ein Fünklein sein aus dem Flammenherzen Gottes. Damit ist bereits gesagt, daß nicht jede Elternliebe Gott genügt, sondern daß die natürliche Liebe des menschlichen Herzens veredelt, vergöttlicht werden muss. Diese echte, von der Religion verklärte und vertiefte Elternliebe ist nicht wie die unveredelte, heidnische gleichsam nur eine andere Form von Selbstsucht. Es ist traurig zu sehen, wie manche junge Frau sich nach dem Kind sehnt, nicht um ihm etwas, um ihm alles zu geben, sondern um an ihm etwas zu haben. Mutterliebe haben heißt nicht, in Stunden der Laune eine Puppe sorglos putzen und schlafen legen und liebkosen, sondern einem jungen Menschenwesen mit dem besten Teil des eigenen Lebens, mit einem Teil des eigenen Herzblutes, der eigenen Kraft, des eigenen Glücks zum Leben helfen. „Mutter sein“, heißt es einmal in einem modernen Buch, „heißt kleine Atemzüge hören und leichte Herzschläge, scharfäugig werden wie ein Tier des Waldes für alle Gefahren, mutig sein im stillen wie ein lauter Mann in Waffen, schaffen mit allem Blut, das einem gegeben ist, über sich hinaus wachsen in allen Fähigkeiten des Wachens, Hungerns, Liebens und Handelns, vor allem aber sorgen; Mutter sein heißt in Sorgen glücklich sein.“

Mutter sein heißt aber auch nicht, sich unentbehrlich machen und betrübt sein, wenn der junge Zweig sich nicht neben den Stamm hinan schmiegt, sondern in die Freiheit und Selbständigkeit hinein will und hinaus wächst, – auch das wäre Selbstsucht – sondern Mutterliebe haben heißt, die Kinder so fürs Leben vorbereiten, daß sie der Eltern zwar nie vergessen, wohl aber ihrer entbehren können. Der echten Elternliebe ist das Kind eine Persönlichkeit, etwas in seiner Freiheit und auch in seinem ganzen ewigen Wesen Verehrungswürdiges.

Sie wird ihm daher nicht in jener Sinnlichkeit begegnen, die das Kind selbst in reiferen Jahren noch mit Liebkosungen erdrückt und herab würdigt, sondern mit jenem Ernst, den stets die Majestät einer unsterblichen Seele uns einflößt. Sie wird auch nicht ihre ganze Kraft dem leiblichen und irdischen Leben des Kindes weihen und es so verweichlichen und verwöhnen, sondern sie wird die Schönheit und Gesundheit der Seele, das göttliche Leben, die ewige Zukunft des Kindes über alles schätzen und schützen. Es wird ihr nicht so sehr darum zu tun sein, dem Kind auf Erden ein von aller Mühe und Sorge freies Paradies zu schaffen, sondern als ein Engel das Paradies zu hüten, das Gott in der Seele des Kindes bereits geschaffen hat. Und auch das Flammenschwert wird dieser Cherub der Elternliebe tragen, den Ernst des Befehlens, des Strafens, des Zwingens. Es mag dieses Schwert der Hand und dem Herzen eines Vaters und einer Mutter oft schwer erscheinen – indes die echte Liebe zeigt sich gerade darin, daß sie das Schwere tut. Wo keine Selbstüberwindung, da keine Liebe, auch keine Elternliebe, die vor allem ein Abbild sein muss von Gottes opfervoller Vaterliebe. –
aus: Bonifaz Wöhrmüller OSB, Das königliche Gebot, 1936, S. 171 – S. 175

Tags: Liebe

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