Du sollst wachen und beten
Vigilate omni tempore orantes, ut digni habeamini fugere ista omnia, quae futura sunt, et stare ante filium hominis.
„Wachet und betet allezeit, damit ihr würdig befunden werdet, allem dem zu entgehen, was da kommen wird, und zu bestehen vor dem Menschensohn.“ (Luk. 21, 36)
1. Betrachte, wie dir der Herr durch diese Worte zu verstehen gibt, daß das Geschäft deines ewigen Heiles weder dir allein noch ihm allein obliege: – nicht ihm allein, weil er dir sagt: du sollst wachen; – nicht dir allein, weil er sagt: du sollst beten. Du musst tun, was du deinerseits kannst, bedachtsam und vorsichtig sein, und der Versuchung nichtRaum geben, d. h. wachen. Dann aber, gleich als hättest du noch gar nichts getan, musst du beten, zu Gott deine Zuflucht nehmen und dich ihm anempfehlen, demütig flehend, er möge dich mit seiner heiligen Gnade beschützen. Das ist der Weg, um selig zu werden.
2. Erwäge, daß es nicht hinreicht, hiermit bloß anzufangen, sondern du musst ohne Unterlaß mit unermüdlichem Eifer bis zum Ende damit fortfahren. Allezeit.
Manche meinen, es sei schon genug, wenn sie zur Zeit der Versuchung wachen und beten. Aber dem ist nicht so; sondern man muss dies allezeit tun. Weißt du nicht, wie es treue Hunde machen? Sie bewachen die Herde, auch wenn keine Wölfe oder Diebe da sind. Warum aber? Damit diese nicht dahin kommen. Gerade so musst du es mit deinem Seelenheil machen; musst wachen und beten, wenn auch die Versuchung nicht da ist. Und dies darum, damit sie nicht komme. „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet.“ (Matth. 26,41)
Du aber wachest gar wenig über dich selbst, unterläßt gar leicht das Gebet, und trägst nicht viel Sorge, unter Tags oft zu Gott deine Zuflucht zu nehmen und dich ihm anzuempfehlen. Die Versuchung braucht dich gar nicht anzufallen; du gehst selbst hinein, weil du die Waffen wegwirfst, und dich zur Verteidigung unfähig machst. Gleichwie es also keine Zeit gibt, wo du, deinen eigenen Kräften überlassen, nicht in Gefahr wärest, zu Grunde zu gehen; ebenso gibt es auch keine Zeit, wo du nicht für deine Sicherheit besorgt sein solltest.
3. Betrachte die Früchte dieser Sorgfalt. Sie bestehen in dem Glück, beim jüngsten Gericht keinen Teil am Los der Bösen zu haben: – „Allem dem zu entgehen, was da kommen wird: – „zu bestehen vor dem Menschensohn“. Von den Gerechten allein aber kann gesagt werden, daß sie bestehen und ausharren vor dem Richterstuhl des großen Richters. „Sie werden da stehen in großer Standhaftigkeit“ (Sapientia. 5,1). Von den Gottlosen dagegen heißt es, daß sie fallen werden, ohne Hoffnung, jemals wieder aufzustehen. „Die Gottlosen“, ruft der Psalmist (Ps. 1,5), „werden nicht aufstehen im Gericht.“
4. Betrachte, daß aller Eifer von deiner Seite nicht hinreicht, um dich einer so hohen Gunst würdig zu machen. Deshalb musst du den Herrn bitten, daß du für würdig geachtet werdest, d. h. er möge in seiner Barmherzigkeit dich so behandeln, als ob du in der Tat würdig wärest. Und das muss der Inhalt des Gebetes sein, welches du zu Gott empor sendest, nämlich, daß du dem Los der Bösen am jüngsten Gericht entgehen, das der Guten aber teilen mögest. Ja, „wache allezeit und bete, damit du würdig erachtet werdest, zu bestehen vor dem Menschensohn.“ –
aus: Paul Segneri S.J., Manna oder Himmelsbrod der Seele, 1853, Bd. I, S. 133 – S. 134