Das Leben und Leiden und der Tod Jesu
Die zweite Gerichtsverhandlung bei Pilatus
Luk. 23,13. Pilatus aber rief die Hohenpriester und die Vorsteher und das Volk zusammen. – 14. und sprach zu ihnen: „Ihr habt diesen Menschen zu mir gebracht als einen Volksaufwiegler, und siehe, ich hab` ihn eurer Gegenwart verhört und an diesem Menschen nichts von dem gefunden, weswegen ihr ihn anklagt. – 15. Aber auch Herodes nicht; denn ich habe euch zu ihm gesendet, und siehe, es geschah nichts mit ihm, was ihn des Todes schuldig zeigte. – 16.
Ich will ihn also züchtigen und losgeben.“ – 17. Er musste ihnen nämlich auf das Fest einen losgeben. – 18. Da schrie aber der ganze Haufe zusammen und sprach: „Hinweg mit diesem und gib uns den Barrabas los.“ – 19. Dieser war wegen eines in der Stadt erregten Aufruhrs und wegen eines Todschlages in den Kerker geworfen worden. – 20. Pilatus redete nun abermals ihnen zu, indem er Jesum losgeben wollte; – 21. sie aber schrieen entgegen und sprachen: „Kreuzige, kreuzige ihn!“ – 22. Er aber sprach zu ihnen zum dritten Mal: „Was hat denn dieser Böses getan? Ich finde keine Todesschuld an ihm: darum will ich ihn züchtigen und losgeben.“ – 23. Sie aber hielten an mit großem Geschrei und forderten, daß er gekreuzigt werde; und ihr Geschrei nahm immer zu.
Mark. 15,6. Auf das Fest aber pflegte Pilatus den Juden einen von den Gefangenen loszugeben, welchen sie verlangten. – 7. Nun war einer, Barabbas genannt, der mit den Aufrührern gefangen wurde, und in dem Aufruhr einen Mord begangen hatte. – 8. Und als das Volk hinauf kam, fing es an zu bitten, er möchte ihnen tun, wie er immer getan hatte. – 9. Pilatus aber antwortete ihnen und sprach: „Wollt ihr, daß ich euch den König der Juden losgebe?“ – 10. Denn er wußte, daß die Hohenpriester ihn aus Neid überliefert hatten. – 11. Die Hohenpriester aber wiegelten das Volk auf, daß er ihnen vielmehr den Barrabas losgäbe. – 12. Da entgegnete ihnen Pilatus abermals und sprach zu ihnen: „Was wollt ihr denn, daß ich mit dem König der Juden tue?“ – 13. Sie aber riefen abermals: „Kreuzige ihn!“ – 14. Pilatus aber sprach zu ihnen: „Was hat er denn Böses getan?“ Allein sie schrieen noch mehr: „Kreuzige ihn!“
Joh. 18,39. „Es ist aber bei euch Gewohnheit, daß ich euch am Osterfest einen losgebe. Wollt ihr nun, daß ich euch den König der Juden losgebe?“ – 40. Da schrieen sie wieder alle und sprachen: „Nicht diesen, sondern den Barrabas.“ Barabbas war aber ein Mörder.
siehe auch: Matth. 27,15-25
So kam also der Heiland von Herodes zurück, und Pilatus hatte nun wieder den Handel zu führen. Die Verhandlungen verliefen in Anstrengungen des Pilatus, den Heiland zu retten, und in Gegenanstrengungen der Juden, Jesus zu Tode zu bringen.
Anstrengungen des Pilatus, den Heiland zu retten
Pilatus erschöpfte sich förmlich in Anstrengungen, dem Heiland das Leben zu erhalten. Zuerst rief er in der Absicht, die Oster-Amnestie zu erlassen, das ganze Volk zusammen (Luk. 23,13 u. 18; Matth. 27,17 u. 25). Auf das Volk baute er seinen Plan, weil er wußte, daß bloß die Hohenpriester oder die pharisäische Partei dem Herrn feind waren, nicht das eigentliche Volk (Matth. 27,18). Er hoffte nun, das Volk werde die Hohenpriester und ihre Partei überstimmen. –
Zweitens erklärte Pilatus gleich noch einmal feierlich vor dem ganzen Volk, daß der Heiland unschuldig sei in allem, was man ihm vorwerfe, und selbst Herodes hab nichts Todeswürdiges an ihm gefunden (Luk. 23,14 u. 15). Indessen wollte er, um ein Zugeständnis zu machen, ihn geißeln lassen und dann freigeben (ebd., 23,16). –
Drittens benützte er zu diesem Zweck nun die Zeremonie der Amnestie für einen verurteilten Verbrecher um das Osterfest. Die Juden hatten nämlich die Gewohnheit, einem Verbrecher um das Osterfest das Leben zu schenken zur Erinnerung an die Befreiung des Volkes aus Ägypten, und die Römer hatten ihnen diese Gewohnheit gelassen. Pilatus wählte also in der Absicht, den Heiland zu befreien, eigens einen berüchtigten Verbrecher, Barrabas, einen Aufrührer, Räuber und Mörder (Joh. 18,40; Mark. 15,7; Luk. 23,19), ließ ihn wahrscheinlich vorführen, neben Jesus hinstellen mit dem Angebot der Wahl zwischen beiden. Dabei hob er noch mit der Absicht, auf das Volk zu wirken, die Vortrefflichkeit und Würde des Heilandes Barabbas gegenüber hervor: „Wen wollt ihr, Barrabas oder den König der Juden (Mark. 15,9; Joh. 18,39), der Christus genannt wird?“ (Matth. 27,17) –
Viertens, als das Volk gegen sein Erwarten nun doch den Barrabas frei begehrte, machte Pilatus einen neuen Versuch (Luk. 23,20), indem er, um das Volk in Verlegenheit zu bringen, fragte, was er denn mit Jesus tun solle (Matth. 27,22; Mark. 15,12). Auf das Geschrei, er solle ihn kreuzigen lassen, erklärte er zum dritten Mal die Unschuld Jesu und erbot sich zum zweiten Mal, ihn geißeln zu lassen (Luk. 23,22; Mark. 15,14; Matth. 27,23). –
Endlich fünftens ließ sich Pilatus, um einen größeren Eindruck zu machen, auf die wiederholten rasenden Rufe. „Ans Kreuz mit ihm“ (Matth. 27,23; Mark. 15,14), zur Zeremonie des Händewaschens herbei, indem er sprach: „Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten, möget ihr es verantworten“ (Matth. 27,24).
Und was vermochte denn Pilatus zu diesen Anstrengungen? Vor allem die Überzeugung von der Unschuld Jesu. Er sah genau, daß es nur Hass und Neid war, weshalb ihn die Priester überliefert hatten (Matth. 27,18; Mark. 15,14). –
Zweitens mochte ein Grund sein eine geheime Furcht und ein Grauen vor dem geheimnisvollen höheren Wesen Jesu, wie denn abergläubische Scheu die Heiden gemeinhin beherrschte. –
Endlich die Botschaft seiner Frau, die ihm während der Verhandlungen sagen ließ, er solle sich hüten, an diesem gerechten Mann sich zu vergreifen, sie habe während der Nacht viel leiden müssen seinetwegen (Matth. 27,19). Seit Augustus nämlich war das Gesetz, das den Landpflegern verbot, ihre Frauen mit in die Provinz zu nehmen, außer Gebrauch gekommen. Nun zeigten die römischen Frauen gerade viel Neigung zum Judentum. So mochte es auch bei der Frau des Pilatus sein, und wahrscheinlich hatte sie schon gehört von Jesus. Der Traum mag wohl eine göttliche Eingebung gewesen sein, um Pilatus zu warnen.
Vereitelung der Rettungsversuche
Es waren zwei Ursachen, weswegen alle diese Anstrengungen des Pilatus elend scheiterten.
Die erste Ursache kam von den Juden. Es war vor allem ihre Hartnäckigkeit im Festhalten ihres Planes. Sie weisen das Anerbieten der Geißelung als Abschlagszahlung trotz des wiederholten Angebotes derselben (Luk. 23,16 u. 22) zurück, fordern den Barrabas frei (Luk. 23,18; Matth. 27,21), den Heiland aber zum Tode (Matth. 27,23; Mark. 15,13; Luk. 23,21). Ferner war es die Rührigkeit und die Aufwiegelungskunst von Seiten der Hohenpriester. Sie brachten dem Volk bei und stachelten es auf, den Barrabas frei zu begehren und Jesus kreuzigen zu lassen (Matth. 27,20; Mark. 15,11). –
Endlich war es die drohende Stellung, die Erbitterung, die Unruhe, zu der das Gebaren der Hohenpriester und des aufgehetzten Volkes überging und alles verwirrte. Ruf auf Ruf erscholl: „Fort mit ihm!“ (Luk. 23,18) „Ans Kreuz mit ihm!“ (Luk. 23,21; Mark. 15,14; Matth. 27,23) Nach und nach entstand ein wahrer Tumult (Matth. 27,24), und alles schrie wie unsinnig mit steigender Wut, Pilatus solle ihn kreuzigen (Luk. 23,23).
Von Seiten des Pilatus aber vereitelte die Freisprechung Jesu vor allem Unklarheit im Handeln. Pilatus hat keinen festen Plan, und so fällt er von einem Mittel auf das andere, wie der Zufall es ihm anbot. –
Ferner war es Inkonsequenz. In demselben Atemzug erklärt er die Unschuld Jesu und verurteilt ihn zur Geißelung (Luk. 23,21). –
Drittens war es Schwäche. Er hatte nur Worte, Unschulds-Erklärungen, Verhandlungen; Taten keine oder nur halbe und schwache, wie die Zeremonie des Händewaschens. Diese Zeremonie bedeutet bald Reinheit und Freisein von einem Schuld gegebenen Verbrechen, bald die Reinigung von einer wirklichen Schuld (Deut. 21,6). Niemals aber kann sie den Sinn haben, daß man sich von der Verantwortung für eine Handlung freimachen könne, die man für ungerecht ansieht und freiwillig begeht, was Pilatus hier tat, und wie seine Worte es genugsam ausdrücken (Matth. 27,24). Daran kehrten sich aber die Juden in diesem Augenblick der Aufregung wenig. –
Endlich war die Ursache unselige Politik, die das Leben eines Unschuldigen bei klarer Erkenntnis seiner Unschuld opfert aus Staatsrücksicht und Furcht vor einem Aufstand und sich rein zu waschen sucht durch eine Protesterklärung. Hätte Pilatus gleich Ernst gemacht und mit dem Schwert gewinkt, wie er es oft getan, und wie die Römer es sonst gewohnt waren, so wäre er Sieger geblieben. So weicht er Schritt für Schritt zurück vor dem planmäßigen und hartnäckigen Angriff der Juden und willigt jetzt schon vorläufig in die Kreuzigung (Luk. 23,16 u.22), doch so, daß er dieselbe noch nicht in richterlicher Form ausspricht, sondern die Geißelung von derselben trennte, in der Hoffnung, durch deren Vollziehung die Juden zu befriedigen und schließlich das Leben des Heilandes doch noch zu retten.
Leiden, welche dem Heiland diese Anstrengungen verursachten
Es sind diese Leiden, namentlich die Kränkungen der Ehre, Verdemütigungen und Unrecht, die den Heiland treffen, und zwar von allen Seiten.
Von Seiten des Pilatus trifft den Heiland besonders das verdemütigende Unrecht, daß die rechtmäßige Obrigkeit, der Stellvertreter der Gerechtigkeit, sich seiner nicht annimmt, ihn nicht schützt und immer mehr fallen läßt aus Gründen der Schwäche und der Politik. –
Namentlich ist es aber eine schreiende Verdemütigung und ein Unrecht für den Heiland, daß er von Pilatus mit Barrabas auf dieselbe Stufe gestellt, dem Volk vorgeführt und zur beliebigen Wahl überlassen wird mit mit den Worten: „Wen wollt ihr, daß ich frei gebe, Barrabas oder Jesus?“ (Matth. 27,16 u. 17) Man kann sich die Entehrung für den Heiland denken, wenn man erwägt, wer er und wer Barrabas war; von wem der Heiland so gekränkt und preisgegeben wird, nämlich von Pilatus selbst, in der Absicht, ihn zu retten, mit dem Opfer seiner Ehre; und vor wem diese Schmach ihm zugefügt wird, nämlich vor dem ganzen Volk; und welches endlich der Erfolg dieses entehrenden Rettungsversuches war; er wird verworfen und dem Barrabas nachgesetzt. Welch eine Entehrung seiner Unschuld, seiner Verdienste, seiner Person und seiner Würde! Wie verdemütigt muss der arme Heiland dagestanden haben vor dem ganzen Volk neben Barrabas! Er verliert seine Sache gegenüber einem Räuber und Mörder.
Von Seiten des Volkes trifft den Heiland alles, was ein Herz nur immer betrüben und kränken kann. Das Volk zieht ihm nicht bloß den Barrabas vor, sondern begehrt seinen Tod, und zwar den peinlichsten und schmählichsten Tod, den Kreuzestod; und wie Pilatus seine Unschuld erklärt und feierlich die Verantwortung des Kreuzestodes abweist, da rufen sie alle: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder“ (Matth. 27,25). Was lag nicht alles in diesem Gebaren und in diesen Worten? Vor allem die empörendste Undankbarkeit. Niemand hatte er ein Leid zugefügt. Wie viele von denen, die da schrieen, hatte er geheilt, belehrt, getröstet! Mit wie viel Recht und Nachdruck hätte der Heiland ihnen zurufen können: O mein Volk! Was habe ich dir getan, daß du mich so mit Schmach bedeckst und zum Tode forderst? –
Es lag darin zweitens die schreiendste Ungerechtigkeit. Die meisten wußten sich nicht, um was es sich handle. Sie ließen sich durch die Hohenpriester das Urteil vorsagen. –
Drittens sprach sich darin ein entsetzlicher Hass aus, der durch nichts als durch die Schmach und das Blut des Gehaßten versöhnt sein will. –
Endlich eine unbeschreibliche Verachtung des Heilandes. Der Heide Pilatus macht sie aufmerksam auf die Verantwortung, die sie auf sich laden durch die Vergießung von unschuldigem Blut und durch den Frevel an einem Menschenleben. Sie aber schrieen: „Sein Blut über uns!“ „Dein Blut über dich!“ sind die Worte, mit denen der Blutrichter die Verantwortung der Hinrichtung auf das Haupt des verurteilten Verbrechers zurückwirft. So die Juden. Das Blut des Nazaräers wollen sie wohl verantworten: sie nehmen alle Folgen auf sich und ihre Kinder; sie würden nicht schwer daran zu tragen haben. Der Herr ist in ihren Augen nicht mehr als ein gemeines Tier, das man ohne Gewissensbisse tot tritt. Ja, er ist ein Verbrecher, und sie heiligen ihre Hände durch die Vergießung seines Blutes und verdienen sich statt Strafe Gottes Segnungen. Wie schlimm steht die Sache des Heilandes! Alle Freunde sind fern und machtlos, die Obrigkeit schützt nicht, und die Feinde bewältigen alles! Er selbst ist gehaßt, verachtet und weggeworfen vom gesamten Volk.
Wahl zwischen Gott und Kreatur
Aus diesem Geheimnis kann man so recht lernen, was die Sünde ist. Was Pilatus dem Volk vorschlug, findet sich in jeder Sünde. Sie ist eine Wahl zwischen Gott und einer Kreatur. –
Ferner kann man lernen, wozu Halbheit und Politik gut ist, nämlich Christus preiszugeben, zu geißeln und zu kreuzigen. –
Es wird aus diesem Geheimnis auch klar, was Volks- und Menschengunst ist. Heute heißt es: Hosanna, morgen: Ans Kreuz. Nichts Unsichereres und Wankelmütigeres gibt es als Volks- und Menschengunst. –
Endlich lernen wir, was Zurücksetzung ist. Was uns treffen kann, hält nie den Vergleich aus mit dem, was dem Heiland widerfahren. –
aus: Moritz Meschler SJ, Das Leben unseres Herrn Jesu Christi des Sohnes Gottes in Betrachtungen Zweiter Band, 1912, S. 355 – S. 361